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Freitag, 26. April 2013
00000000 - Wir sind Netzgeister
mercury mailer, 21:26h
Blog-Eintrag Mercury Mailer auf blogs.lemuria.com
Montag, 13. Februar 20xx
Wir sind Netzgeister. Eine ganze Generation, die nur noch im Netz lebt. Wir arbeiten im Netz, suchen uns unsere sozialen Kontakte im Netz. Wir schreiben E-Mails, chatten, twittern und bloggen.
Ich nenne unsere Generation die Generation N. N wie Netz. Aber man könnte sie auch Generation O nennen. Wie online. Fängt aber offline nicht auch mit O an? Manche nennen uns auch die Generation @. Wie auch immer ihr uns nennt, wir sind ganz anders als unsere Eltern.
Wenn wir etwas wissen wollen, schlagen wir in der Wikipedia nach. Wenn wir Bücher lesen wollen - so richtig altmodische, traditionelle Bücher - bestellen wir sie uns bei Amazon. Wir gehen nicht in den Plattenladen. Wir laden uns MP3s runter. Wir gehen nicht in die Stadt. Wir bestellen uns unsere Klamotten im Internet. Und wir gehen nicht auf Flohmärkte. Wir steigern auf eBay. Wenn wir mal doch auf eine Party gehen, dann hat uns jemand auf Facebook eingeladen.
Wir holen uns unsere Information auf Spiegel Online, unsere Unterhaltung auf YouTube, unsere Bildung auf Wikipedia. Wenn wir fremde Länder sehen wollen, wissen wollen, wie es dort aussieht, brauchen wir nur auf Google Earth zu gehen, und schon können wir einmal um die ganze Welt reisen. Und wenn uns das nicht reicht, die Welt von oben zu sehen, können wir sie uns mit Google Street View anschauen.
Wir komponieren, wir texten, wir drehen, schneiden, publizieren Musikvideos. Alles im Netz. Unsere Bankgeschäfte, unsere Behördengänge, alles im Netz. Ab und zu müssen wir doch noch nach draußen. Denn Lebensmittel kann man sich noch nicht im Netz bestellen - es sei denn, man will sich den ganzen Tag von Pizza ernähren. Wer will das schon?
Wir sind Netzgeister, Avatare. Wir sind Talosianer. Wir haben die reale Welt verlassen und die virtuelle betreten. Noch benutzen wir keine Datenhelme, aber der Tag wird kommen, an dem wir uns wie Tron, wie Neo durch die digitalen Welten bewegen werden.
Blog-Eintrag Mercury Mailer auf blogs.lemuria.com
Montag, 19. März 20xx
Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Mercury Mailer. Natürlich ist das nicht mein richtiger Name. Im Netz kann man nicht vorsichtig genug sein. Wir sind anonym. Und das ist auch gut so. Denn niemand darf erfahren, wer ich wirklich bin. Nur so kann ich meine intimsten Gedanken der Community anvertrauen.
Ich arbeite bei Lemuria. Wir sind Suchmaschine und Soziales Netzwerk. Wir sammeln Daten. Wir wissen alles. Wir sind die Bibliothek von Alexandria und das Ministerium für Staatssicherheit in einem. Wir wissen, welche Bücher du bestellst, welche Videos du dir anschaust, welche Artikel du liest. Wir wissen, mit wem du befreundet bist. Wir kennen deine Interessen, deine geheimsten Wünsche und Sehnsüchte - besser als du selbst. Unsere Aufgabe ist es, Wissen anzuhäufen. Das Wissen all dieser Welt. Wenn wir all diese Daten verknüpfen und mit Algorithmen versehen, können wir eines Tages sogar die Zukunft voraussagen. Noch können wir das nicht, aber wir arbeiten daran.
Ihr fragt mich, warum ich keine Freunde habe. Natürlich habe ich Freunde. 996 Facebook-Freunde - und fast ebenso viele Kontakte auf Lemuria. 12.372 Personen folgen mir auf Twitter. Ich bin bei YouTube. Ich bin bei Wikipedia. Ich bin bei XING. Ich bin bei World of Warcraft. Die Zahl der Foren, in denen ich angemeldet bin, kenne ich schon gar nicht mehr. Überall mit dem gleichen Namen. Mercury Mailer. Meinen richtigen Namen kennt niemand. Und ich gebe ihn auch nicht preis. Meine Stadt kennt niemand. Die wenigsten meiner Online-Freunde habe ich schon mal in Real Life getroffen. Und das war meist eine Enttäuschung.
Wozu echte Freunde? Es macht mir Freude, mit den virtuellen zu chatten. Tratschen und lästern kann man auch da. Wenn ich Hilfe brauche, sind auch die Freunde zur Stelle. Ich habe Freunde in aller Welt. Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Arabische Emirate. Überall, wo man Deutsch, Englisch oder Spanisch spricht, gibt es Leute, die ich kenne. Ich könnte eine Weltreise machen, ohne Hotels zu bezahlen. Aber ich tue es nicht. Ich komme nur selten aus meiner Stadt raus.
Blog-Eintrag Mercury Mailer auf blogs.lemuria.com
Dienstag, 20. März 20xx
Im Internet kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Alles, was ihr da rein schreibt, bleibt drin und kann euch Jahre später noch verfolgen. Vor allem: Internet heißt Öffentlichkeit. Klar, ihr könnt bei Facebook oder Lemuria Dinge reinschreiben, die nur eure engsten Freunde lesen können. Aber viele vergessen das, wenn sie in irgendein Forum was rein schreiben - oder in einen Blog, den jeder lesen kann - oder in Twitter. Denn nicht nur Leute, die euch auf Twitter folgen, können das lesen. Sie können es retweeten, und wer das liest, kann es ebenfalls retweeten, und so verbreitet es sich. Botschaften, Nachrichten, Fotos, Videos werden viral. Sie sind die Viren des Netzes. Je ungewöhnlicher, je knackiger, je provozierender sie sind, desto ansteckender sind sie.
Stell dir vor, du hast auf Lemuria 100 Freunde. Wenn jeder von diesen ebenfalls hundert Freunde hat, dann sind das schon 10.000. Hat jeder dieser 10.000 ebenfalls hundert Freunde, dann sind das eine Million. Das wäre ganz Köln. Ein hoch ansteckender Internet-Virus könnte innerhalb kürzester Zeit ganz Köln infizieren. Und wenn jeder dieser Million wieder hundert Freunde kennt, dann sind wir schon bei 100 Millionen - und das sind mehr als Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen.
Vergesst vor allem eines niemals: Wir leben in der dritten großen soziokulturellen Revolution der Menschheitsgeschichte. Die erste Revolution war die Neolithische Revolution. Sie hat Jäger und Sammler in Ackerbauern und Viehzüchtern verwandelt. Aus Höhlenmenschen wurden Dorfbewohner. Jahrhundertelang beackerten unsere Vorfahren Felder, bis die zweite Revolution kam - die Industrielle Revolution. Aus den Feldern und Ställen gingen in die Menschen in die Fabriken, um an Hochofen, Maschine und Fließband zu schuften.
Doch in den alten Fabrikhallen wächst jetzt Gras. Die neuen Fabriken sind Denkfabriken. Die neuen Waren sind virtuell. Wir sitzen in Büros an unseren Rechnern und erschaffen künstliche Welten. Die Digitalisierung der Menschheit hat gerade begonnen, und das ist erst der Anfang. Wir sind mittendrin in einer gigantischen Umwälzung der Lebensverhältnisse. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Soziales - all das wird in allzu naher Zukunft völlig anders sein als das, was wir momentan erleben.
So wie der Jäger und Sammler sich nicht vorstellen konnte, sesshaft zu sein, so wie dem leibeigenen Bauer des Mittelalters eine Fabrikhalle ein Buch mit sieben Siegeln war, so stehen wir ratlos vor einer ungewissen Zukunft, die wir uns nicht einmal in Ansätzen vorstellen können. Wieder einmal ist der Fortschritt dabei, die Menschheit komplett zu verändern und mit einem Donnerschlag alles wegzuwischen, was vorher noch galt.
Montag, 13. Februar 20xx
Wir sind Netzgeister. Eine ganze Generation, die nur noch im Netz lebt. Wir arbeiten im Netz, suchen uns unsere sozialen Kontakte im Netz. Wir schreiben E-Mails, chatten, twittern und bloggen.
Ich nenne unsere Generation die Generation N. N wie Netz. Aber man könnte sie auch Generation O nennen. Wie online. Fängt aber offline nicht auch mit O an? Manche nennen uns auch die Generation @. Wie auch immer ihr uns nennt, wir sind ganz anders als unsere Eltern.
Wenn wir etwas wissen wollen, schlagen wir in der Wikipedia nach. Wenn wir Bücher lesen wollen - so richtig altmodische, traditionelle Bücher - bestellen wir sie uns bei Amazon. Wir gehen nicht in den Plattenladen. Wir laden uns MP3s runter. Wir gehen nicht in die Stadt. Wir bestellen uns unsere Klamotten im Internet. Und wir gehen nicht auf Flohmärkte. Wir steigern auf eBay. Wenn wir mal doch auf eine Party gehen, dann hat uns jemand auf Facebook eingeladen.
Wir holen uns unsere Information auf Spiegel Online, unsere Unterhaltung auf YouTube, unsere Bildung auf Wikipedia. Wenn wir fremde Länder sehen wollen, wissen wollen, wie es dort aussieht, brauchen wir nur auf Google Earth zu gehen, und schon können wir einmal um die ganze Welt reisen. Und wenn uns das nicht reicht, die Welt von oben zu sehen, können wir sie uns mit Google Street View anschauen.
Wir komponieren, wir texten, wir drehen, schneiden, publizieren Musikvideos. Alles im Netz. Unsere Bankgeschäfte, unsere Behördengänge, alles im Netz. Ab und zu müssen wir doch noch nach draußen. Denn Lebensmittel kann man sich noch nicht im Netz bestellen - es sei denn, man will sich den ganzen Tag von Pizza ernähren. Wer will das schon?
Wir sind Netzgeister, Avatare. Wir sind Talosianer. Wir haben die reale Welt verlassen und die virtuelle betreten. Noch benutzen wir keine Datenhelme, aber der Tag wird kommen, an dem wir uns wie Tron, wie Neo durch die digitalen Welten bewegen werden.
Blog-Eintrag Mercury Mailer auf blogs.lemuria.com
Montag, 19. März 20xx
Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Mercury Mailer. Natürlich ist das nicht mein richtiger Name. Im Netz kann man nicht vorsichtig genug sein. Wir sind anonym. Und das ist auch gut so. Denn niemand darf erfahren, wer ich wirklich bin. Nur so kann ich meine intimsten Gedanken der Community anvertrauen.
Ich arbeite bei Lemuria. Wir sind Suchmaschine und Soziales Netzwerk. Wir sammeln Daten. Wir wissen alles. Wir sind die Bibliothek von Alexandria und das Ministerium für Staatssicherheit in einem. Wir wissen, welche Bücher du bestellst, welche Videos du dir anschaust, welche Artikel du liest. Wir wissen, mit wem du befreundet bist. Wir kennen deine Interessen, deine geheimsten Wünsche und Sehnsüchte - besser als du selbst. Unsere Aufgabe ist es, Wissen anzuhäufen. Das Wissen all dieser Welt. Wenn wir all diese Daten verknüpfen und mit Algorithmen versehen, können wir eines Tages sogar die Zukunft voraussagen. Noch können wir das nicht, aber wir arbeiten daran.
Ihr fragt mich, warum ich keine Freunde habe. Natürlich habe ich Freunde. 996 Facebook-Freunde - und fast ebenso viele Kontakte auf Lemuria. 12.372 Personen folgen mir auf Twitter. Ich bin bei YouTube. Ich bin bei Wikipedia. Ich bin bei XING. Ich bin bei World of Warcraft. Die Zahl der Foren, in denen ich angemeldet bin, kenne ich schon gar nicht mehr. Überall mit dem gleichen Namen. Mercury Mailer. Meinen richtigen Namen kennt niemand. Und ich gebe ihn auch nicht preis. Meine Stadt kennt niemand. Die wenigsten meiner Online-Freunde habe ich schon mal in Real Life getroffen. Und das war meist eine Enttäuschung.
Wozu echte Freunde? Es macht mir Freude, mit den virtuellen zu chatten. Tratschen und lästern kann man auch da. Wenn ich Hilfe brauche, sind auch die Freunde zur Stelle. Ich habe Freunde in aller Welt. Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Arabische Emirate. Überall, wo man Deutsch, Englisch oder Spanisch spricht, gibt es Leute, die ich kenne. Ich könnte eine Weltreise machen, ohne Hotels zu bezahlen. Aber ich tue es nicht. Ich komme nur selten aus meiner Stadt raus.
Blog-Eintrag Mercury Mailer auf blogs.lemuria.com
Dienstag, 20. März 20xx
Im Internet kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Alles, was ihr da rein schreibt, bleibt drin und kann euch Jahre später noch verfolgen. Vor allem: Internet heißt Öffentlichkeit. Klar, ihr könnt bei Facebook oder Lemuria Dinge reinschreiben, die nur eure engsten Freunde lesen können. Aber viele vergessen das, wenn sie in irgendein Forum was rein schreiben - oder in einen Blog, den jeder lesen kann - oder in Twitter. Denn nicht nur Leute, die euch auf Twitter folgen, können das lesen. Sie können es retweeten, und wer das liest, kann es ebenfalls retweeten, und so verbreitet es sich. Botschaften, Nachrichten, Fotos, Videos werden viral. Sie sind die Viren des Netzes. Je ungewöhnlicher, je knackiger, je provozierender sie sind, desto ansteckender sind sie.
Stell dir vor, du hast auf Lemuria 100 Freunde. Wenn jeder von diesen ebenfalls hundert Freunde hat, dann sind das schon 10.000. Hat jeder dieser 10.000 ebenfalls hundert Freunde, dann sind das eine Million. Das wäre ganz Köln. Ein hoch ansteckender Internet-Virus könnte innerhalb kürzester Zeit ganz Köln infizieren. Und wenn jeder dieser Million wieder hundert Freunde kennt, dann sind wir schon bei 100 Millionen - und das sind mehr als Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen.
Vergesst vor allem eines niemals: Wir leben in der dritten großen soziokulturellen Revolution der Menschheitsgeschichte. Die erste Revolution war die Neolithische Revolution. Sie hat Jäger und Sammler in Ackerbauern und Viehzüchtern verwandelt. Aus Höhlenmenschen wurden Dorfbewohner. Jahrhundertelang beackerten unsere Vorfahren Felder, bis die zweite Revolution kam - die Industrielle Revolution. Aus den Feldern und Ställen gingen in die Menschen in die Fabriken, um an Hochofen, Maschine und Fließband zu schuften.
Doch in den alten Fabrikhallen wächst jetzt Gras. Die neuen Fabriken sind Denkfabriken. Die neuen Waren sind virtuell. Wir sitzen in Büros an unseren Rechnern und erschaffen künstliche Welten. Die Digitalisierung der Menschheit hat gerade begonnen, und das ist erst der Anfang. Wir sind mittendrin in einer gigantischen Umwälzung der Lebensverhältnisse. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Soziales - all das wird in allzu naher Zukunft völlig anders sein als das, was wir momentan erleben.
So wie der Jäger und Sammler sich nicht vorstellen konnte, sesshaft zu sein, so wie dem leibeigenen Bauer des Mittelalters eine Fabrikhalle ein Buch mit sieben Siegeln war, so stehen wir ratlos vor einer ungewissen Zukunft, die wir uns nicht einmal in Ansätzen vorstellen können. Wieder einmal ist der Fortschritt dabei, die Menschheit komplett zu verändern und mit einem Donnerschlag alles wegzuwischen, was vorher noch galt.
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