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Sonntag, 28. April 2013
00000010 - U-Bahn des Grauens
mercury mailer, 20:27h
Die U-Bahn hatte einen Geruch, den Andreas nicht ausstehen konnte. Sie machte Geräusche, die unerträglich waren. Und was das schlimmste war: Sie war voller Leute - vor allem jetzt, zur Rush Hour.
Manchmal fragte sich Andreas, warum die Wagen so klein waren. Konnten sie keine größeren bauen? Als er die Bahn betrat, waren schon wieder alle Sitzplätze belegt - und die meisten Stehplätze dazu. Den Körperkontakt mit Fremden zu vermeiden, war ein Ding der Unmöglichkeit. Dicht gedrängt standen die Menschen im Gang - Menschen, die er nie zuvor gesehen hatte. Die Fremde waren und wahrscheinlich Fremde blieben. Er würde sie nie wieder sehen, was in gewisser Hinsicht auch ganz gut so war.
Gerade um diese Uhrzeit standen viele Berufstätige in der Bahn. Yuppies in langen, schwarzen Mänteln, die an ihren iPads herumfingerten. Andreas wusste genau, dass sie die GPS-Daten, ohne es zu wissen, direkt an Lemuria schickten, und er grinste bei dem Gedanken. Doch schon wieder steuerte die U-Bahn eine Haltestelle an. Das Schwarz des Tunnels wich dem blendenden Licht eines Bahnhofs. Menschentrauben klebten auf den Bahnsteigen. Missmutig sah Andreas zu, wie sie auf die Eingänge zuströmten wie Schafe in einen bereits überfüllten Pferch. Kaum jemand wollte aussteigen - außer einem Teenager mit knallrot gefärbten Haaren, zwei Lippenpiercings und einem Augenbrauenpiercing. Ihr iPod bis zum Anschlag aufgedreht, so dass es Andreas hören konnte. Irgendwelches Hip Hop-Gedudel. Sie rempelte ihn an, ohne sich zu entschuldigen, quetschte sich durch das Gedränge stehender Menschen nach draußen und entschwand auf den Bahnsteig. Dann wurde es noch enger. Eine dicke Frau und ihr etwas knochiger Ehemann schmiegten sich an Andreas an. Angewidert versuchte er auszuweichen, was im Feierabendverkehr nur unzureichend gelang. Kaum waren sie im Wagen angekommen und kaum war die Bahn langsam wieder gestartet, fing die Frau schon wieder an zu zetern. Im derbsten Großstadt-Dialekt zog sie über ihren Sohn her, der den ganzen Tag nur World of Warcraft spielte.
“Der Junge hat sich noch nicht mal um einen Ausbildungsplatz beworben”, jammerte sie. “Den ganzen Tag nur an der Flimmerkiste sitzen. Da kriegste echt nen Vogel.”
“Was meckerste mit mir? Ich kann da ja nichts dafür”, sagte ihr Mann.
“Der ist immerhin auch dein Sohn. Aber was hatter denn fürn Vorbild? Ich sach ja immer: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, ne? Und ich sach dir eins: Wennde net bald mit nem Job nach Hause kommst, dann ist aber Schicht im Schacht. Aber sowas von!”
“Du weißt doch, in meinem Alter.”
“Papperlapapp! Ich kann immerhin noch putzen gehen. Und wenn ich nen Job finde, dann du erst recht. Und nimm dir mal den Dustin zur Brust. Der soll endlich mal Geld verdienen. Hotel Mama is nich mehr.”
Andreas fühlte sich eine RTL-Doku-Soap versetzt. Fehlte nur noch das Kamerateam, das die U-Bahn noch enger machte, als sie ohnehin schon war. Er quetschte sich durch die Menge. Nur weg. Dann lieber mit dem Handy telefonierende oder twitternde Yuppies. Er schnappte sich sein iPhone und twitterte: “U-Bahn mal wieder die Hölle. #Berufsverkehr” Aber was sollte er sonst tun? Mit dem Auto kam er um diese Zeit vor lauter Stau gar nicht mehr durch - ganz zu schweigen von der elenden Parkplatzsuche. Der Firmenparkplatz war meist belegt, und in der Straße seiner Wohnung fand er auch nur ganz selten mal einen geeigneten Parkplatz.
Aber wozu gab es öffentliche Verkehrsmittel, die unendlich praktisch waren, zugleich aber auch unendlich nervten, weil einem Menschen auf die Pelle rückten, die man am liebsten hundert Meter weit weg sähe? Es war eben ein zweischneidiges Schwert.
Endlich fuhr die U-Bahn in den Bahnhof ein, in dem Andreas aussteigen musste. Hier war weitaus weniger los. Nur ein Straßenmusikant stand an einer Ecke und spielte Stairway to Heaven. Und auf einer Bank saß ein alter Mann, der gedankenverloren in die Ferne blickte. Ein junger Rucksacktourist eilte zur Bahn und stieg ein. Wieder hatte Andreas diesen seltsamen Geruch in der Nase, den er in U-Bahnhöfen immer roch - ein wenig verbrannt, ein wenig elektrisch. Dann surrte die Bahn wieder in den Tunnel. Er sah dem roten Lindwurm auf seiner Reise in die Finsternis hinterher, als sein Blick auf den beiden Plakatwänden hinter den Gleisen hängen blieb. Auf der einen Wand stand die übliche Lemuria-Werbung, die Andreas schon zur Genüge kannte: “Sie wollen die Welt verändern? Fangen Sie heute damit an.” Auf der anderen - als ob es die Antwort der ersten wäre - war ein Gesicht abgebildet, das er trotz seiner leichten Prosopagnosie (Gesichtsblindheit) erkannte: Es war sein alter Schulkamerad, oder besser: der Albtraum seiner Jugend. Der Mann, den er von allen am allerwenigsten auf einer Plakatwand hatte sehen wollen, der ihm als Schüler das Leben zur Hölle gemacht hatte. Sein Schulhof-Gegenspieler. Robert Jens. Seine widerliche Fresse grinste ihn an. Abstoßend. Und darunter stand nichts weiter als: “Robert Jens kommt.” So, als müsste man ihn kennen. Als wüsste jeder, wer er ist. Robert Jens kommt. Dazu Ort und Zeit der Veranstaltung. Konrad-Adenauer-Halle. Und das Datum war schon morgen.
Sollte er hingehen? Er zuckte die Achseln. Eigentlich hatte er keine Lust - so wie er fast nie Lust hatte, Abends irgendwohin zu gehen. Die Energie, die er dazu brauchte, fehlte ihm wieder im Job. Noch dazu wegen diesem Kerl. Aber irgendwie interessierte es ihn doch. Ihm interessierte sehr, was aus seinem alten Peiniger geworden war.
Manchmal fragte sich Andreas, warum die Wagen so klein waren. Konnten sie keine größeren bauen? Als er die Bahn betrat, waren schon wieder alle Sitzplätze belegt - und die meisten Stehplätze dazu. Den Körperkontakt mit Fremden zu vermeiden, war ein Ding der Unmöglichkeit. Dicht gedrängt standen die Menschen im Gang - Menschen, die er nie zuvor gesehen hatte. Die Fremde waren und wahrscheinlich Fremde blieben. Er würde sie nie wieder sehen, was in gewisser Hinsicht auch ganz gut so war.
Gerade um diese Uhrzeit standen viele Berufstätige in der Bahn. Yuppies in langen, schwarzen Mänteln, die an ihren iPads herumfingerten. Andreas wusste genau, dass sie die GPS-Daten, ohne es zu wissen, direkt an Lemuria schickten, und er grinste bei dem Gedanken. Doch schon wieder steuerte die U-Bahn eine Haltestelle an. Das Schwarz des Tunnels wich dem blendenden Licht eines Bahnhofs. Menschentrauben klebten auf den Bahnsteigen. Missmutig sah Andreas zu, wie sie auf die Eingänge zuströmten wie Schafe in einen bereits überfüllten Pferch. Kaum jemand wollte aussteigen - außer einem Teenager mit knallrot gefärbten Haaren, zwei Lippenpiercings und einem Augenbrauenpiercing. Ihr iPod bis zum Anschlag aufgedreht, so dass es Andreas hören konnte. Irgendwelches Hip Hop-Gedudel. Sie rempelte ihn an, ohne sich zu entschuldigen, quetschte sich durch das Gedränge stehender Menschen nach draußen und entschwand auf den Bahnsteig. Dann wurde es noch enger. Eine dicke Frau und ihr etwas knochiger Ehemann schmiegten sich an Andreas an. Angewidert versuchte er auszuweichen, was im Feierabendverkehr nur unzureichend gelang. Kaum waren sie im Wagen angekommen und kaum war die Bahn langsam wieder gestartet, fing die Frau schon wieder an zu zetern. Im derbsten Großstadt-Dialekt zog sie über ihren Sohn her, der den ganzen Tag nur World of Warcraft spielte.
“Der Junge hat sich noch nicht mal um einen Ausbildungsplatz beworben”, jammerte sie. “Den ganzen Tag nur an der Flimmerkiste sitzen. Da kriegste echt nen Vogel.”
“Was meckerste mit mir? Ich kann da ja nichts dafür”, sagte ihr Mann.
“Der ist immerhin auch dein Sohn. Aber was hatter denn fürn Vorbild? Ich sach ja immer: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, ne? Und ich sach dir eins: Wennde net bald mit nem Job nach Hause kommst, dann ist aber Schicht im Schacht. Aber sowas von!”
“Du weißt doch, in meinem Alter.”
“Papperlapapp! Ich kann immerhin noch putzen gehen. Und wenn ich nen Job finde, dann du erst recht. Und nimm dir mal den Dustin zur Brust. Der soll endlich mal Geld verdienen. Hotel Mama is nich mehr.”
Andreas fühlte sich eine RTL-Doku-Soap versetzt. Fehlte nur noch das Kamerateam, das die U-Bahn noch enger machte, als sie ohnehin schon war. Er quetschte sich durch die Menge. Nur weg. Dann lieber mit dem Handy telefonierende oder twitternde Yuppies. Er schnappte sich sein iPhone und twitterte: “U-Bahn mal wieder die Hölle. #Berufsverkehr” Aber was sollte er sonst tun? Mit dem Auto kam er um diese Zeit vor lauter Stau gar nicht mehr durch - ganz zu schweigen von der elenden Parkplatzsuche. Der Firmenparkplatz war meist belegt, und in der Straße seiner Wohnung fand er auch nur ganz selten mal einen geeigneten Parkplatz.
Aber wozu gab es öffentliche Verkehrsmittel, die unendlich praktisch waren, zugleich aber auch unendlich nervten, weil einem Menschen auf die Pelle rückten, die man am liebsten hundert Meter weit weg sähe? Es war eben ein zweischneidiges Schwert.
Endlich fuhr die U-Bahn in den Bahnhof ein, in dem Andreas aussteigen musste. Hier war weitaus weniger los. Nur ein Straßenmusikant stand an einer Ecke und spielte Stairway to Heaven. Und auf einer Bank saß ein alter Mann, der gedankenverloren in die Ferne blickte. Ein junger Rucksacktourist eilte zur Bahn und stieg ein. Wieder hatte Andreas diesen seltsamen Geruch in der Nase, den er in U-Bahnhöfen immer roch - ein wenig verbrannt, ein wenig elektrisch. Dann surrte die Bahn wieder in den Tunnel. Er sah dem roten Lindwurm auf seiner Reise in die Finsternis hinterher, als sein Blick auf den beiden Plakatwänden hinter den Gleisen hängen blieb. Auf der einen Wand stand die übliche Lemuria-Werbung, die Andreas schon zur Genüge kannte: “Sie wollen die Welt verändern? Fangen Sie heute damit an.” Auf der anderen - als ob es die Antwort der ersten wäre - war ein Gesicht abgebildet, das er trotz seiner leichten Prosopagnosie (Gesichtsblindheit) erkannte: Es war sein alter Schulkamerad, oder besser: der Albtraum seiner Jugend. Der Mann, den er von allen am allerwenigsten auf einer Plakatwand hatte sehen wollen, der ihm als Schüler das Leben zur Hölle gemacht hatte. Sein Schulhof-Gegenspieler. Robert Jens. Seine widerliche Fresse grinste ihn an. Abstoßend. Und darunter stand nichts weiter als: “Robert Jens kommt.” So, als müsste man ihn kennen. Als wüsste jeder, wer er ist. Robert Jens kommt. Dazu Ort und Zeit der Veranstaltung. Konrad-Adenauer-Halle. Und das Datum war schon morgen.
Sollte er hingehen? Er zuckte die Achseln. Eigentlich hatte er keine Lust - so wie er fast nie Lust hatte, Abends irgendwohin zu gehen. Die Energie, die er dazu brauchte, fehlte ihm wieder im Job. Noch dazu wegen diesem Kerl. Aber irgendwie interessierte es ihn doch. Ihm interessierte sehr, was aus seinem alten Peiniger geworden war.
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