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Montag, 29. April 2013
00000011 - 1984
mercury mailer, 21:23h
Es war Montag, der erste Tag nach den Weihnachtsferien im Jahr 1984. Andreas erinnerte sich genau an diesen Tag - so wie er sich an jeden einzelnen erinnerte. Er konnte sagen, was er an diesem Tag gegessen hatte (Spaghetti Bolognese), und er wusste, dass es ein kalter Wintertag war. Eine weiße Schneedecke hatte sich wie ein Grabtuch über Bäume, Häuser und Straßen gelegt. Es war so kalt, dass er trotz seiner warmen Winterjacke fröstelte.
Wie jeden Tag ging er allein zur Schule. Früher war er mit David zur Schule gegangen, aber die beiden trafen sich schon lange nicht mehr. Längst hatten sich ihre Wege getrennt, obwohl sie beide nach wie vor in die gleiche Klasse gingen. Längst hatten sich alle Freunde von ihm verabschiedet, weil sie ihn für merkwürdig hielten. Lag das an den seltsamen Geschichten, die er immer wieder erzählte, während er nervös mit den Händen flatterte? Er wusste es nicht. Eines Tages hatte David aufgehört, den Umweg durch die Straße zu machen, in der Andreas wohnte. Andreas war an diesem Tag sogar zu spät zur Schule gekommen, weil er auf David gewartet hatte - nur, er war nicht gekommen. Er saß in der Schule auch nicht mehr neben ihm. Andreas saß jetzt allein in der letzten Reihe - all die anderen Schüler sah er nur mit dem Rücken - außer, wenn - was oft vorkam - seine Lehrerin Frau Kaiser etwas an seinem Verhalten auszusetzen hatte. Dann drehten sich alle zu ihm um und sahen ihn mit Gesichtern an, aus denen Andreas nicht schlau wurde. Er hasste es, wenn sie ihn so ansahen. Was dachten sie über ihn? Der nu wieder? War das eine Freakshow geworden?
Es gab vieles, was ihn verwunderte - und anderes, worüber er sich keine Gedanken machte. Warum hatte er keine Freunde? Warum wollte niemand mit ihm spielen?
Die ersten Jahre seiner Schulzeit waren noch ganz in Ordnung gewesen. Gut, er war ein Außenseiter. Aber das machte ihm nichts aus. Er hatte ja seine eigenen Freunde, die Leute aus dem Land Lemuria. Er brauchte diese Kinder nicht, die ihn sowieso nicht verstanden und die er auch nicht verstand.
Wie schafften sie es nur, Freunde zu finden? Er wusste es nicht. Nicht dass er es nicht versucht hatte - weniger aus Interesse, als vielmehr weil seine Mutter wollte, dass er Freunde hatte. Sie wollte nicht, dass er sich ständig in seinem Zimmer einschloss, Bücher las oder sich ganz in fremde Welten verabschiedete. Aber was sollte er nur tun? Er hatte sich dieses Leben nicht ausgesucht. Die Leute von Lemuria waren auf ihn zugekommen. Weil er anders war. Anders als die anderen. Anders als ALLE anderen, die er kannte. Er war ein Auserwählter. Etwas Besseres. Aber das wollten die anderen nicht kapieren.
So dachte er, als er den üblichen Schulweg ging. Doch plötzlich wurden seine Gedanken jäh unterbrochen, als etwas eiskalt seinen Rücken herunterlief - und das war wortwörtlich gemeint. Es war unerträglich kalt, denn es war Schnee, den ihm jemand in den Kragen gestopft hatte.
Er fuhr herum und blickte in Roberts grinsende Visage. Doch er war nicht allein. Neben ihm stand Christoph, daneben der dicke Rolf. Und auf der anderen Seite von Robert stand Matthias. Sie alle sahen ihn auf eine Art und Weise an, die Andreas als belustigt interpretierte - ohne zu wissen, ob er richtig lag oder nicht.
“Lass das!” rief Andreas.
“Lass das, ich hass das”, äffte ihn Robert nach.
“Lass das, ich hass das! Lass das, ich hass das!” Die anderen sangen dies auf die Melodie, die Kinder gerne für Spottlieder verwendeten. Zum Beispiel: “Ich hab ein Fahrrad - und du nicht!” Oder: “Was man sagt, das ist man selber! Nänä nänä nää nää!”
“Willst du noch mehr Schnee?” fragte Robert grinsend.
Er bückte sich und hob etwas von der eiskalten Masse vom Boden auf. Andreas drehte sich um und rannte, so schnell er auf diesem von Schnee und Eis geglätteten Boden rennen konnte. Doch genau dieser Boden wurde zum Problem. Ungeschickt wie er war, rutschte er aus und fiel hin, und da er nicht darauf vorbereitet war, spürte er die Schmerzen in Händen und Knien. Er fing an zu weinen.
“Oh, der Kleine muss weinen!” rief Robert. “Der Kleine will zu seiner Mama! Guck mal, ich habe noch mehr Schnee!”
Er bückte sich zu Andreas runter und rieb ihm den kalten Schnee ins Gesicht. Dann öffnete er gewaltsam seinen Mund und stopfte den Schnee hinein.
“Mmh, lecker Schnee!” sagte er.
“Lass mich in Ruhe!” rief Andreas.
“Lass mich in Ruhe!” äffte ihn Robert nach. “Du bist ein Idiot, Andi.”
“Andi ist ein Idiot!” sangen die anderen. Wieder dieses garantiert GEMA-freie Spottlied.
Andi sprang auf und wollte Robert angreifen, doch in seiner blinden Wut schlug er mit seiner Faust ins Leere. Andreas war der schwächste in seiner Klasse, Robert war der stärkste. So war es für den derart Angegriffenen ein Leichtes, mit Andreas fertig zu werden. Er nahm ihn in den Polizeigriff und führte so lange seine Hand in Richtung Kopf, bis es richtig wehtat.
“Aufhören!” japste Andreas. “Aufhören!”
Robert hörte auf und stieß Andreas von sich. Unsanft landete er auf dem Eis. Wieder eine schmerzhafte Erfahrung, die für ihn, der besonders schmerzempfindlich war, um so unangenehmer wurde.
Laut lachend zogen Robert und die Seinen von dannen. Andreas blieb zurück, und es bildete sich ein flüssiger Film in seinen Augen. Tränen seine rannen Wangen herab. Es war das erste Mal, dass er wegen Robert weinte. Es sollte nicht das letzte Mal sein.
Wie jeden Tag ging er allein zur Schule. Früher war er mit David zur Schule gegangen, aber die beiden trafen sich schon lange nicht mehr. Längst hatten sich ihre Wege getrennt, obwohl sie beide nach wie vor in die gleiche Klasse gingen. Längst hatten sich alle Freunde von ihm verabschiedet, weil sie ihn für merkwürdig hielten. Lag das an den seltsamen Geschichten, die er immer wieder erzählte, während er nervös mit den Händen flatterte? Er wusste es nicht. Eines Tages hatte David aufgehört, den Umweg durch die Straße zu machen, in der Andreas wohnte. Andreas war an diesem Tag sogar zu spät zur Schule gekommen, weil er auf David gewartet hatte - nur, er war nicht gekommen. Er saß in der Schule auch nicht mehr neben ihm. Andreas saß jetzt allein in der letzten Reihe - all die anderen Schüler sah er nur mit dem Rücken - außer, wenn - was oft vorkam - seine Lehrerin Frau Kaiser etwas an seinem Verhalten auszusetzen hatte. Dann drehten sich alle zu ihm um und sahen ihn mit Gesichtern an, aus denen Andreas nicht schlau wurde. Er hasste es, wenn sie ihn so ansahen. Was dachten sie über ihn? Der nu wieder? War das eine Freakshow geworden?
Es gab vieles, was ihn verwunderte - und anderes, worüber er sich keine Gedanken machte. Warum hatte er keine Freunde? Warum wollte niemand mit ihm spielen?
Die ersten Jahre seiner Schulzeit waren noch ganz in Ordnung gewesen. Gut, er war ein Außenseiter. Aber das machte ihm nichts aus. Er hatte ja seine eigenen Freunde, die Leute aus dem Land Lemuria. Er brauchte diese Kinder nicht, die ihn sowieso nicht verstanden und die er auch nicht verstand.
Wie schafften sie es nur, Freunde zu finden? Er wusste es nicht. Nicht dass er es nicht versucht hatte - weniger aus Interesse, als vielmehr weil seine Mutter wollte, dass er Freunde hatte. Sie wollte nicht, dass er sich ständig in seinem Zimmer einschloss, Bücher las oder sich ganz in fremde Welten verabschiedete. Aber was sollte er nur tun? Er hatte sich dieses Leben nicht ausgesucht. Die Leute von Lemuria waren auf ihn zugekommen. Weil er anders war. Anders als die anderen. Anders als ALLE anderen, die er kannte. Er war ein Auserwählter. Etwas Besseres. Aber das wollten die anderen nicht kapieren.
So dachte er, als er den üblichen Schulweg ging. Doch plötzlich wurden seine Gedanken jäh unterbrochen, als etwas eiskalt seinen Rücken herunterlief - und das war wortwörtlich gemeint. Es war unerträglich kalt, denn es war Schnee, den ihm jemand in den Kragen gestopft hatte.
Er fuhr herum und blickte in Roberts grinsende Visage. Doch er war nicht allein. Neben ihm stand Christoph, daneben der dicke Rolf. Und auf der anderen Seite von Robert stand Matthias. Sie alle sahen ihn auf eine Art und Weise an, die Andreas als belustigt interpretierte - ohne zu wissen, ob er richtig lag oder nicht.
“Lass das!” rief Andreas.
“Lass das, ich hass das”, äffte ihn Robert nach.
“Lass das, ich hass das! Lass das, ich hass das!” Die anderen sangen dies auf die Melodie, die Kinder gerne für Spottlieder verwendeten. Zum Beispiel: “Ich hab ein Fahrrad - und du nicht!” Oder: “Was man sagt, das ist man selber! Nänä nänä nää nää!”
“Willst du noch mehr Schnee?” fragte Robert grinsend.
Er bückte sich und hob etwas von der eiskalten Masse vom Boden auf. Andreas drehte sich um und rannte, so schnell er auf diesem von Schnee und Eis geglätteten Boden rennen konnte. Doch genau dieser Boden wurde zum Problem. Ungeschickt wie er war, rutschte er aus und fiel hin, und da er nicht darauf vorbereitet war, spürte er die Schmerzen in Händen und Knien. Er fing an zu weinen.
“Oh, der Kleine muss weinen!” rief Robert. “Der Kleine will zu seiner Mama! Guck mal, ich habe noch mehr Schnee!”
Er bückte sich zu Andreas runter und rieb ihm den kalten Schnee ins Gesicht. Dann öffnete er gewaltsam seinen Mund und stopfte den Schnee hinein.
“Mmh, lecker Schnee!” sagte er.
“Lass mich in Ruhe!” rief Andreas.
“Lass mich in Ruhe!” äffte ihn Robert nach. “Du bist ein Idiot, Andi.”
“Andi ist ein Idiot!” sangen die anderen. Wieder dieses garantiert GEMA-freie Spottlied.
Andi sprang auf und wollte Robert angreifen, doch in seiner blinden Wut schlug er mit seiner Faust ins Leere. Andreas war der schwächste in seiner Klasse, Robert war der stärkste. So war es für den derart Angegriffenen ein Leichtes, mit Andreas fertig zu werden. Er nahm ihn in den Polizeigriff und führte so lange seine Hand in Richtung Kopf, bis es richtig wehtat.
“Aufhören!” japste Andreas. “Aufhören!”
Robert hörte auf und stieß Andreas von sich. Unsanft landete er auf dem Eis. Wieder eine schmerzhafte Erfahrung, die für ihn, der besonders schmerzempfindlich war, um so unangenehmer wurde.
Laut lachend zogen Robert und die Seinen von dannen. Andreas blieb zurück, und es bildete sich ein flüssiger Film in seinen Augen. Tränen seine rannen Wangen herab. Es war das erste Mal, dass er wegen Robert weinte. Es sollte nicht das letzte Mal sein.
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