Dienstag, 30. April 2013
00000100 - Sathi
mercury mailer, 21:51h
Robert war ein Arschloch, wie es im Buche stand. Zumindest 1984. Jetzt waren etliche Jahre vergangen, und sicherlich hatte sich Robert verändert - aber ihn hier zu sehen, noch dazu auf einer Reklametafel - das war ein Schock. Robert Jens kommt - ein Alptraum wurde wahr. Nicht nur, dass diese Werbetafel die Ankunft desjenigen verkündete, dessentwegen Andreas die schlimmsten Jahre seines Lebens erlebt hatte. Nein, sie kündigte es auch noch als etwas gutes an. So als hätten die Leute darauf gewartet, dass Robert Jens wieder in der Stadt war.
Andreas wollte sich dem Ausgang zuwenden. Jetzt war er vollkommen allein in der U-Bahn-Station. Ein wenig unwirklich, denn noch nie hatte er eine U-Bahn-Station völlig menschenleer erlebt. Seine Schritte hallten an den Wänden wieder - so als wäre er in einer riesigen Höhle. Doch das war auch das einzige, was er hörte. Es war, als hätte sich diese U-Bahn-Station plötzlich vom Rest der Welt abgekoppelt und hätte ihn mitgenommen. Plötzlich war Robert Jens überall, sah ihn von allen Plakatwänden herab an - und sein diabolisches Grinsen war immer noch genauso wie damals, am ersten Tag, als er ihm Schnee in die Fresse gedrückt, ihn eingeseift hatte. Dieses Arschloch! Warum verfolgte er ihn? Was sollte das ganze? Robert Jens kommt?
Robert Jens, Robert Jens...
“Hey!” rief plötzlich eine Stimme. “Hey, Andi!”
Er blickte sich um, aber konnte niemanden entdecken.
“Hier unten bin ich!”
Er sah zu seinen Füßen herab und erblickte ein kleines Männchen. Ein wenig altmodisch angezogen. Brauner Hut, braunes Wams, auf seiner Nase ein Monokel, und in seinem Gesicht spross ein weißer Bart. Er war älter geworden, seit Andreas ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber er war es. Sathi Neta, ein Bekannter aus früheren Tagen. Ein guter alter Freund aus seiner Kindheit.
“Sathi!” sagte er. “Wie geht es?”
“Kann nicht klagen!” sagte er. “Allerdings: Lemuria ist in Gefahr.”
Lemuria. Die Phantasiewelt, in die er sich als Kind gerne zurückgezogen hatte. Zufälligerweise hieß sie genauso wie sein Arbeitgeber.
“Mal wieder”, sagte Andreas. “Aber eigentlich bin ich aus diesem Alter draußen.”
“Meinst du? Na, dann sieh mich an. 177 Jahre alt, und Rente kriege ich immer noch keine.”
“Muss ein hartes Leben sein als Wichtel.”
“Das ist es. Das ist es in der Tat.”
“Sathi. Um ehrlich zu sein: Ich glaube, du existierst nicht. Dich gibt es gar nicht.”
“Quatsch. Ich stehe doch vor dir. Du kannst mich genau sehen.”
Robert ging in die Knie und sah ihn an. Auf den ersten Blick sah Sathi aus wie eine Figur aus einem Online-Rollenspiel - nur dass es 1983, als er Sathi das erste Mal gesehen hatte, noch keine Online-Rollenspiele gab. Doch als er genauer hinsah, erkannte er jede Falte im Gesicht des alten Mannes - jede Hautunreinheit, jede Pore. Dieser Wichtel schien ihm durch und durch real zu sein - aber das konnte gar nicht sein. Lange Jahre hatte er die Erlebnisse seiner Kindheit als Hirngespinste abgetan - doch jetzt drangen sie wieder zu ihm durch. Zuerst kam Robert Jens - und dann das. Sathi, den seine Mutter für seinen imaginären Freund gehalten hatte, obwohl er ihn genau vor sich sehen konnte.
“Sathi, die Zeiten haben sich geändert, und das weißt du. Ich bin erwachsen geworden.”
“Du bist nach wie vor etwas besonderes”, sagte Sathi. “Königin Sundari braucht dich.”
“Nein”, sagte Andreas. “Du existierst nicht. Ich habe mich als Kind in eine Fantasiewelt geflüchtet. Diese Fantasiewelt hat nie existiert. Lemuria ist ein Hirngespinst. Ich muss lernen, mich in dieser Welt zurechtzufinden. Lebewohl.”
Er ging zur Rolltreppe und versuchte die Rufe Sathis zu ignorieren. Warum nur spielte ihm sein Gehirn wieder diesen Streich? Er hatte diese Abenteuer stets als Ausgeburt seiner kindlichen Fantasie abgetan. Warum nur kamen diese Einbildungen jetzt zurück? Er brauchte Hilfe. Er musste zum Psychiater. Das war sowieso langsam mal fällig. Er musste sich untersuchen lassen. Vielleicht war er ja krank.
Vielleicht hatte er eine Krankheit, von der er nichts wusste. Schnell, als ob der Teufel hinter ihm herjagte, sprang er zu seiner Haustür. Sie war offen. Der Geruch nach Zitronenputzmittel schlug ihm in die Nase. Eilig rannte er nach oben, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Die Nachbarin, die gerade auf dem Weg zu ihrem Briefkasten war, hätte er beinahe über den Haufen geworfen. Selber schaute er nicht nach seiner Post. Es war Donnerstag, und Dienstag war Posttag. Jetzt wollte er nur eines. In seine Wohnung, ins Internet und nachschauen, was denn so toll daran war, dass Robert Jens kam. Lemuria wusste alles - und sicherlich auch das.
Andreas wollte sich dem Ausgang zuwenden. Jetzt war er vollkommen allein in der U-Bahn-Station. Ein wenig unwirklich, denn noch nie hatte er eine U-Bahn-Station völlig menschenleer erlebt. Seine Schritte hallten an den Wänden wieder - so als wäre er in einer riesigen Höhle. Doch das war auch das einzige, was er hörte. Es war, als hätte sich diese U-Bahn-Station plötzlich vom Rest der Welt abgekoppelt und hätte ihn mitgenommen. Plötzlich war Robert Jens überall, sah ihn von allen Plakatwänden herab an - und sein diabolisches Grinsen war immer noch genauso wie damals, am ersten Tag, als er ihm Schnee in die Fresse gedrückt, ihn eingeseift hatte. Dieses Arschloch! Warum verfolgte er ihn? Was sollte das ganze? Robert Jens kommt?
Robert Jens, Robert Jens...
“Hey!” rief plötzlich eine Stimme. “Hey, Andi!”
Er blickte sich um, aber konnte niemanden entdecken.
“Hier unten bin ich!”
Er sah zu seinen Füßen herab und erblickte ein kleines Männchen. Ein wenig altmodisch angezogen. Brauner Hut, braunes Wams, auf seiner Nase ein Monokel, und in seinem Gesicht spross ein weißer Bart. Er war älter geworden, seit Andreas ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber er war es. Sathi Neta, ein Bekannter aus früheren Tagen. Ein guter alter Freund aus seiner Kindheit.
“Sathi!” sagte er. “Wie geht es?”
“Kann nicht klagen!” sagte er. “Allerdings: Lemuria ist in Gefahr.”
Lemuria. Die Phantasiewelt, in die er sich als Kind gerne zurückgezogen hatte. Zufälligerweise hieß sie genauso wie sein Arbeitgeber.
“Mal wieder”, sagte Andreas. “Aber eigentlich bin ich aus diesem Alter draußen.”
“Meinst du? Na, dann sieh mich an. 177 Jahre alt, und Rente kriege ich immer noch keine.”
“Muss ein hartes Leben sein als Wichtel.”
“Das ist es. Das ist es in der Tat.”
“Sathi. Um ehrlich zu sein: Ich glaube, du existierst nicht. Dich gibt es gar nicht.”
“Quatsch. Ich stehe doch vor dir. Du kannst mich genau sehen.”
Robert ging in die Knie und sah ihn an. Auf den ersten Blick sah Sathi aus wie eine Figur aus einem Online-Rollenspiel - nur dass es 1983, als er Sathi das erste Mal gesehen hatte, noch keine Online-Rollenspiele gab. Doch als er genauer hinsah, erkannte er jede Falte im Gesicht des alten Mannes - jede Hautunreinheit, jede Pore. Dieser Wichtel schien ihm durch und durch real zu sein - aber das konnte gar nicht sein. Lange Jahre hatte er die Erlebnisse seiner Kindheit als Hirngespinste abgetan - doch jetzt drangen sie wieder zu ihm durch. Zuerst kam Robert Jens - und dann das. Sathi, den seine Mutter für seinen imaginären Freund gehalten hatte, obwohl er ihn genau vor sich sehen konnte.
“Sathi, die Zeiten haben sich geändert, und das weißt du. Ich bin erwachsen geworden.”
“Du bist nach wie vor etwas besonderes”, sagte Sathi. “Königin Sundari braucht dich.”
“Nein”, sagte Andreas. “Du existierst nicht. Ich habe mich als Kind in eine Fantasiewelt geflüchtet. Diese Fantasiewelt hat nie existiert. Lemuria ist ein Hirngespinst. Ich muss lernen, mich in dieser Welt zurechtzufinden. Lebewohl.”
Er ging zur Rolltreppe und versuchte die Rufe Sathis zu ignorieren. Warum nur spielte ihm sein Gehirn wieder diesen Streich? Er hatte diese Abenteuer stets als Ausgeburt seiner kindlichen Fantasie abgetan. Warum nur kamen diese Einbildungen jetzt zurück? Er brauchte Hilfe. Er musste zum Psychiater. Das war sowieso langsam mal fällig. Er musste sich untersuchen lassen. Vielleicht war er ja krank.
Vielleicht hatte er eine Krankheit, von der er nichts wusste. Schnell, als ob der Teufel hinter ihm herjagte, sprang er zu seiner Haustür. Sie war offen. Der Geruch nach Zitronenputzmittel schlug ihm in die Nase. Eilig rannte er nach oben, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Die Nachbarin, die gerade auf dem Weg zu ihrem Briefkasten war, hätte er beinahe über den Haufen geworfen. Selber schaute er nicht nach seiner Post. Es war Donnerstag, und Dienstag war Posttag. Jetzt wollte er nur eines. In seine Wohnung, ins Internet und nachschauen, was denn so toll daran war, dass Robert Jens kam. Lemuria wusste alles - und sicherlich auch das.
... comment