Donnerstag, 2. Mai 2013
00000110 - Man sieht sich immer zweimal
Blog-Eintrag Mercury Mailer auf blogs.lemuria.com
Donnerstag, 22. März 20xx

Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Und das erste, was er schuf, war Licht. Der Mensch steht Gott in nichts nach. Auch wenn er andere Mittel verwendet, so werden die virtuellen Welten immer komplexer. Schon hat der Mensch Wesen nach seinem Bilde geformt, die die unzähligen Spielwelten im virtuellen Raum bevölkern. Doch auch hier war das erste, was der Mensch schuf, das Licht - besser: die Energie in Form von Elektrizität.

Fließt Strom, oder fließt kein Strom? Das ist die Frage, die sich der Computer stellt. Millionen Mal in der Sekunde. 100010101110101001. Der binäre Code, aus dem unsere Welt besteht. Das ganze Leben ist Code, die ganze Welt ist Information. Zeit und Raum verlieren jegliche Bedeutung. Wir selber werden zu Code, zu Nullen und Einsen, fangen an, die von uns geschaffene Welt zu beleben. Mit Avataren, Stellvertretern unserer selbst, reisen wir durch die unendlichen Weiten des virtuellen Raumes.

Avatara ist ein Sanskrit-Wort. Wörtlich übersetzt heißt es: Abstieg. Sagt zumindest die Wikipedia. Aber eigentlich bedeutet es etwas anderes: Es bedeutet, dass ein Gott in Menschen- oder Tiergestalt auf Erden wandelt. So wie Zeus, der als Stier die Europa verführte. So wie der Gott der Christen, der in Jesus seinen Avatar fand. In der neuen, virtuellen Welt sind wir die Götter, die wir uns hinab begeben in die Welt, die wir selbst geschaffen haben.

Ich möchte nicht verschweigen, dass ich im Internet auf eine Gruppe von Menschen gestoßen bin, die genau das behaupten - nur mit unserer wirklichen Welt. Wir seien nur Inkarnationen der Götter. Diese Menschen scheinen jeglichen Bezug zur Realität verloren zu haben. Glaubt mir. Ich weiß, wie das ist. Ich habe jahrelang immer wieder eine Fantasiewelt besucht - lange bevor das Internet zu dem wurde, was es heute ist.

Womit wir bei meinem zweiten Thema für heute wären: die Vergangenheit. Versuche niemals der Vergangenheit zu entfliehen, denn sie holt dich immer wieder ein. Wir sind eben, was wir sind. Das können wir nicht leugnen. Wir können damit umgehen, sicher. Aber wer sich selbst verleugnet, ist nicht er selbst. Wer nicht er selbst ist, wirkt nicht authentisch. Unehrlich. Und wer schon früher anders war, als er heute ist, dem glaubt man die Veränderung nicht.

Man sieht sich immer zweimal im Leben. Das erste Mal baut man Bockmist, das zweite Mal muss man dafür bezahlen. Wer früher am kürzeren Hebel saß, sitzt mittlerweile am längeren? Wer weiß...

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Mittwoch, 1. Mai 2013
00000101 - Die Gesellschaft des Neuen Menschen
Das erste, was er tat, als er online war - noch bevor er E-Mails checkte - war die Startseite von Lemuria aufrufen und “Robert Jens” eingeben. Er fand sogar einen Wikipedia-Atrikel. Das war das Top-Suchergebnis bei Lemuria - noch über www.robertjens.de. “Robert Jens ist ein deutscher Motivationstrainer, Unternehmer, selbst ernannter Guru und Buchautor”, schrieb die Wikipedia.
Selbst ernannter Guru?

Er las weiter und erfuhr, dass Robert die Gesellschaft des Neuen Menschen gegründet hatte - na, hoffentlich war er ein neuer Mensch geworden! Jedenfalls hatte er auch mehrere Unternehmen gegründet. Reich war er dadurch auch geworden.
Doch davon stand nicht viel im Artikel.

Andreas wechselte zu Amazon. Vier Bücher konnte er dort finden - alle von den Lesern als sehr gut bewertet. Das erste Buch hieß Wege zum Erfolg. Laut Inhaltsangabe ein Ratgeber, der allerdings nicht nur Motivationsmethoden und Mantras sondern überaus esoterische Methoden beinhaltete. Aber es schien zu funktionieren. Darauf deuteten die vielen positiven Kommentare hin. Ein gewisser McMalle - seltsamer Nickname! - schrieb: “Ich hatte zuvor nie eine Frau abbekommen. Jetzt habe ich das Buch gelesen, und ich kann mich vor Frauen kaum retten.” Ein gewisser “Grüner Heinrich” schrieb: “Ich war jahrelang arbeitslos. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, habe ich ein Unternehmen gegründet. Jetzt habe ich zwanzig Mitarbeiter und fahre satte Gewinne ein.” Hörte sich nicht schlecht an. Aber warum sollte ausgerechnet der Schrecken seiner Kindheit herausgefunden haben, wie der Hase lief?

Das zweite Buch war etwas seltsamer: Der Matrix-Code. Esoterisches Gewäsch. Doch auch hier nur positive Kommentare. “Noch nie habe ich die Atomphysik so leicht verständlich präsentiert bekommen”, schrieb ein gewisser “Plato”. Und jemand, der sich den Namen Dr. Faust gegeben hatte, schrieb: “Robert Jens schafft es, auf verständliche und humorvolle Art und Weise die Kluft zwischen Naturwissenschaften, Religion und Esoterik zu schließen. Wer wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, kommt an diesem Buch nicht vorbei.”

Die dritte Buchveröffentlichung hieß Die Macht des Positiven Denkens. Hier waren die Kommentare und Leser-Rezensionen etwas spärlicher - doch ebenfalls voll des Lobes. Das galt auch für sein letztes Buch Jenseits der Realität. “Robert Jens weiß nicht nur, dass es ein Leben nach dem Tod gibt”, schrieb ein Leser. “Er weiß auch, wie es aussieht.”

Andreas hatte genug gesehen und wechselte auf Robert Jens’ eigenen Webauftritt. Die Homepage war schlicht gestaltet. Nur ein Schwarz-Weiß-Foto, das den immer hämisch grinsenden Robert mal von einer ganz anderen Seite zeigte - nachdenklich das Kinn in die Faust gelegt, die Augen auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet. Das passte so gar nicht zu ihm.
Die Menüpunkte und die von ihnen aus angesteuerten Unter-Seiten strotzten nur so von gähnender Langeweile. Da gab es einen Lebenslauf, dort gab es einen Link zu den Veröffentlichungen, die man auch gleich bei Amazon kaufen konnte (war ebenfalls verlinkt), und es gab die obligatorische Kontaktseite.

Doch am interessantesten fand Andreas die Seite über die Gesellschaft des Neuen Menschen:
“Wir sind eine nichtreligiöse Weltanschauungsgemeinschaft. Wir sind keine Religion und erst recht keine Sekte. Wer an unseren Seminaren teilnimmt, wird nicht zum Auditing eingeladen. Wir sind ein eingetragener Verein. Mitglieder zahlen bei uns nicht mehr als beispielsweise im Sportverein. Die Teilnahme an allen unseren Veranstaltungen ist hundertprozentig freiwillig. Als Wertegemeinschaft sind wir der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes verpflichtet.”

Hörte sich schon mal gut an, fand Andreas. Die Frage war nur, warum Robert das so betonen musste. Eigentlich sollte das doch selbstverständlich sein. Und außerdem: Wo waren die freiheitlichen Werte, als Robert ihn auf dem Schulhof verprügelt und in die Mülltone gesetzt hatte?

Er las weiter: “In unserem Verein gibt es Christen, Juden, Muslime, Buddhisten und sogar Naturwissenschaftler.”

Als ob das eine Religion wäre, dachte Andreas. Naturwissenschaftler.

“Unser Ziel ist es, gemeinsam und ohne Vorurteile durch gegenseitigen Austausch wie durch gemeinsame Forschung die letzten Rätsel des Universums zu lösen und die Stellung des Menschen darin zu ergründen. Wir glauben, dass das uns bekannte Universum wie alle künstlichen und virtuellen Welten aus Code besteht, den intelligente Wesen programmiert haben. Wir glauben ferner, dass Menschen, Tiere und alle Lebewesen auf der Erde und auf anderen Planeten Inkarnationen dieser intelligenten Wesen sind. Und drittens glauben wir, dass der Mensch sein Leben und das Geschehen in der Welt in bisher nicht geahnter Weise beeinflussen kann, wenn er nur lernt, sein Bewusstsein zu erweitern, um den Code zu verstehen.”

Jetzt wurde es Andreas zu bunt. Das hörte sich tatsächlich nach Scientology an! Nur entfernt freilich, aber Tom Cruise wäre stolz auf eine derartige Öffentlichkeitsarbeit.

Doch irgendwie klang es auch interessant. Wie eine Religion für die Generation @ - oder Generation N, wie Andreas’ Alter Ego Mercury Mailer sie zu nennen pflegte. Eine Welt aus Code, programmiert von intelligenten Wesen, die in dieser Welt lebten wie Teenager in einem Online-Rollenspiel. Auf diese Idee musste man erst mal kommen. Aber wie zum Teufel konnte jemand wie Robert einigermaßen intelligente Menschen um sich scharen, die dann so etwas behaupteten?

Es war Zeit, dass Mercury Mailer wieder aktiv wurde.

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Dienstag, 30. April 2013
00000100 - Sathi
Robert war ein Arschloch, wie es im Buche stand. Zumindest 1984. Jetzt waren etliche Jahre vergangen, und sicherlich hatte sich Robert verändert - aber ihn hier zu sehen, noch dazu auf einer Reklametafel - das war ein Schock. Robert Jens kommt - ein Alptraum wurde wahr. Nicht nur, dass diese Werbetafel die Ankunft desjenigen verkündete, dessentwegen Andreas die schlimmsten Jahre seines Lebens erlebt hatte. Nein, sie kündigte es auch noch als etwas gutes an. So als hätten die Leute darauf gewartet, dass Robert Jens wieder in der Stadt war.

Andreas wollte sich dem Ausgang zuwenden. Jetzt war er vollkommen allein in der U-Bahn-Station. Ein wenig unwirklich, denn noch nie hatte er eine U-Bahn-Station völlig menschenleer erlebt. Seine Schritte hallten an den Wänden wieder - so als wäre er in einer riesigen Höhle. Doch das war auch das einzige, was er hörte. Es war, als hätte sich diese U-Bahn-Station plötzlich vom Rest der Welt abgekoppelt und hätte ihn mitgenommen. Plötzlich war Robert Jens überall, sah ihn von allen Plakatwänden herab an - und sein diabolisches Grinsen war immer noch genauso wie damals, am ersten Tag, als er ihm Schnee in die Fresse gedrückt, ihn eingeseift hatte. Dieses Arschloch! Warum verfolgte er ihn? Was sollte das ganze? Robert Jens kommt?

Robert Jens, Robert Jens...

“Hey!” rief plötzlich eine Stimme. “Hey, Andi!”

Er blickte sich um, aber konnte niemanden entdecken.

“Hier unten bin ich!”

Er sah zu seinen Füßen herab und erblickte ein kleines Männchen. Ein wenig altmodisch angezogen. Brauner Hut, braunes Wams, auf seiner Nase ein Monokel, und in seinem Gesicht spross ein weißer Bart. Er war älter geworden, seit Andreas ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber er war es. Sathi Neta, ein Bekannter aus früheren Tagen. Ein guter alter Freund aus seiner Kindheit.

“Sathi!” sagte er. “Wie geht es?”

“Kann nicht klagen!” sagte er. “Allerdings: Lemuria ist in Gefahr.”

Lemuria. Die Phantasiewelt, in die er sich als Kind gerne zurückgezogen hatte. Zufälligerweise hieß sie genauso wie sein Arbeitgeber.

“Mal wieder”, sagte Andreas. “Aber eigentlich bin ich aus diesem Alter draußen.”

“Meinst du? Na, dann sieh mich an. 177 Jahre alt, und Rente kriege ich immer noch keine.”

“Muss ein hartes Leben sein als Wichtel.”

“Das ist es. Das ist es in der Tat.”

“Sathi. Um ehrlich zu sein: Ich glaube, du existierst nicht. Dich gibt es gar nicht.”

“Quatsch. Ich stehe doch vor dir. Du kannst mich genau sehen.”

Robert ging in die Knie und sah ihn an. Auf den ersten Blick sah Sathi aus wie eine Figur aus einem Online-Rollenspiel - nur dass es 1983, als er Sathi das erste Mal gesehen hatte, noch keine Online-Rollenspiele gab. Doch als er genauer hinsah, erkannte er jede Falte im Gesicht des alten Mannes - jede Hautunreinheit, jede Pore. Dieser Wichtel schien ihm durch und durch real zu sein - aber das konnte gar nicht sein. Lange Jahre hatte er die Erlebnisse seiner Kindheit als Hirngespinste abgetan - doch jetzt drangen sie wieder zu ihm durch. Zuerst kam Robert Jens - und dann das. Sathi, den seine Mutter für seinen imaginären Freund gehalten hatte, obwohl er ihn genau vor sich sehen konnte.

“Sathi, die Zeiten haben sich geändert, und das weißt du. Ich bin erwachsen geworden.”

“Du bist nach wie vor etwas besonderes”, sagte Sathi. “Königin Sundari braucht dich.”

“Nein”, sagte Andreas. “Du existierst nicht. Ich habe mich als Kind in eine Fantasiewelt geflüchtet. Diese Fantasiewelt hat nie existiert. Lemuria ist ein Hirngespinst. Ich muss lernen, mich in dieser Welt zurechtzufinden. Lebewohl.”

Er ging zur Rolltreppe und versuchte die Rufe Sathis zu ignorieren. Warum nur spielte ihm sein Gehirn wieder diesen Streich? Er hatte diese Abenteuer stets als Ausgeburt seiner kindlichen Fantasie abgetan. Warum nur kamen diese Einbildungen jetzt zurück? Er brauchte Hilfe. Er musste zum Psychiater. Das war sowieso langsam mal fällig. Er musste sich untersuchen lassen. Vielleicht war er ja krank.

Vielleicht hatte er eine Krankheit, von der er nichts wusste. Schnell, als ob der Teufel hinter ihm herjagte, sprang er zu seiner Haustür. Sie war offen. Der Geruch nach Zitronenputzmittel schlug ihm in die Nase. Eilig rannte er nach oben, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Die Nachbarin, die gerade auf dem Weg zu ihrem Briefkasten war, hätte er beinahe über den Haufen geworfen. Selber schaute er nicht nach seiner Post. Es war Donnerstag, und Dienstag war Posttag. Jetzt wollte er nur eines. In seine Wohnung, ins Internet und nachschauen, was denn so toll daran war, dass Robert Jens kam. Lemuria wusste alles - und sicherlich auch das.

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Montag, 29. April 2013
00000011 - 1984
Es war Montag, der erste Tag nach den Weihnachtsferien im Jahr 1984. Andreas erinnerte sich genau an diesen Tag - so wie er sich an jeden einzelnen erinnerte. Er konnte sagen, was er an diesem Tag gegessen hatte (Spaghetti Bolognese), und er wusste, dass es ein kalter Wintertag war. Eine weiße Schneedecke hatte sich wie ein Grabtuch über Bäume, Häuser und Straßen gelegt. Es war so kalt, dass er trotz seiner warmen Winterjacke fröstelte.

Wie jeden Tag ging er allein zur Schule. Früher war er mit David zur Schule gegangen, aber die beiden trafen sich schon lange nicht mehr. Längst hatten sich ihre Wege getrennt, obwohl sie beide nach wie vor in die gleiche Klasse gingen. Längst hatten sich alle Freunde von ihm verabschiedet, weil sie ihn für merkwürdig hielten. Lag das an den seltsamen Geschichten, die er immer wieder erzählte, während er nervös mit den Händen flatterte? Er wusste es nicht. Eines Tages hatte David aufgehört, den Umweg durch die Straße zu machen, in der Andreas wohnte. Andreas war an diesem Tag sogar zu spät zur Schule gekommen, weil er auf David gewartet hatte - nur, er war nicht gekommen. Er saß in der Schule auch nicht mehr neben ihm. Andreas saß jetzt allein in der letzten Reihe - all die anderen Schüler sah er nur mit dem Rücken - außer, wenn - was oft vorkam - seine Lehrerin Frau Kaiser etwas an seinem Verhalten auszusetzen hatte. Dann drehten sich alle zu ihm um und sahen ihn mit Gesichtern an, aus denen Andreas nicht schlau wurde. Er hasste es, wenn sie ihn so ansahen. Was dachten sie über ihn? Der nu wieder? War das eine Freakshow geworden?

Es gab vieles, was ihn verwunderte - und anderes, worüber er sich keine Gedanken machte. Warum hatte er keine Freunde? Warum wollte niemand mit ihm spielen?

Die ersten Jahre seiner Schulzeit waren noch ganz in Ordnung gewesen. Gut, er war ein Außenseiter. Aber das machte ihm nichts aus. Er hatte ja seine eigenen Freunde, die Leute aus dem Land Lemuria. Er brauchte diese Kinder nicht, die ihn sowieso nicht verstanden und die er auch nicht verstand.

Wie schafften sie es nur, Freunde zu finden? Er wusste es nicht. Nicht dass er es nicht versucht hatte - weniger aus Interesse, als vielmehr weil seine Mutter wollte, dass er Freunde hatte. Sie wollte nicht, dass er sich ständig in seinem Zimmer einschloss, Bücher las oder sich ganz in fremde Welten verabschiedete. Aber was sollte er nur tun? Er hatte sich dieses Leben nicht ausgesucht. Die Leute von Lemuria waren auf ihn zugekommen. Weil er anders war. Anders als die anderen. Anders als ALLE anderen, die er kannte. Er war ein Auserwählter. Etwas Besseres. Aber das wollten die anderen nicht kapieren.
So dachte er, als er den üblichen Schulweg ging. Doch plötzlich wurden seine Gedanken jäh unterbrochen, als etwas eiskalt seinen Rücken herunterlief - und das war wortwörtlich gemeint. Es war unerträglich kalt, denn es war Schnee, den ihm jemand in den Kragen gestopft hatte.

Er fuhr herum und blickte in Roberts grinsende Visage. Doch er war nicht allein. Neben ihm stand Christoph, daneben der dicke Rolf. Und auf der anderen Seite von Robert stand Matthias. Sie alle sahen ihn auf eine Art und Weise an, die Andreas als belustigt interpretierte - ohne zu wissen, ob er richtig lag oder nicht.

“Lass das!” rief Andreas.

“Lass das, ich hass das”, äffte ihn Robert nach.

“Lass das, ich hass das! Lass das, ich hass das!” Die anderen sangen dies auf die Melodie, die Kinder gerne für Spottlieder verwendeten. Zum Beispiel: “Ich hab ein Fahrrad - und du nicht!” Oder: “Was man sagt, das ist man selber! Nänä nänä nää nää!”

“Willst du noch mehr Schnee?” fragte Robert grinsend.
Er bückte sich und hob etwas von der eiskalten Masse vom Boden auf. Andreas drehte sich um und rannte, so schnell er auf diesem von Schnee und Eis geglätteten Boden rennen konnte. Doch genau dieser Boden wurde zum Problem. Ungeschickt wie er war, rutschte er aus und fiel hin, und da er nicht darauf vorbereitet war, spürte er die Schmerzen in Händen und Knien. Er fing an zu weinen.

“Oh, der Kleine muss weinen!” rief Robert. “Der Kleine will zu seiner Mama! Guck mal, ich habe noch mehr Schnee!”

Er bückte sich zu Andreas runter und rieb ihm den kalten Schnee ins Gesicht. Dann öffnete er gewaltsam seinen Mund und stopfte den Schnee hinein.

“Mmh, lecker Schnee!” sagte er.

“Lass mich in Ruhe!” rief Andreas.

“Lass mich in Ruhe!” äffte ihn Robert nach. “Du bist ein Idiot, Andi.”

“Andi ist ein Idiot!” sangen die anderen. Wieder dieses garantiert GEMA-freie Spottlied.

Andi sprang auf und wollte Robert angreifen, doch in seiner blinden Wut schlug er mit seiner Faust ins Leere. Andreas war der schwächste in seiner Klasse, Robert war der stärkste. So war es für den derart Angegriffenen ein Leichtes, mit Andreas fertig zu werden. Er nahm ihn in den Polizeigriff und führte so lange seine Hand in Richtung Kopf, bis es richtig wehtat.

“Aufhören!” japste Andreas. “Aufhören!”
Robert hörte auf und stieß Andreas von sich. Unsanft landete er auf dem Eis. Wieder eine schmerzhafte Erfahrung, die für ihn, der besonders schmerzempfindlich war, um so unangenehmer wurde.

Laut lachend zogen Robert und die Seinen von dannen. Andreas blieb zurück, und es bildete sich ein flüssiger Film in seinen Augen. Tränen seine rannen Wangen herab. Es war das erste Mal, dass er wegen Robert weinte. Es sollte nicht das letzte Mal sein.

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Sonntag, 28. April 2013
00000010 - U-Bahn des Grauens
Die U-Bahn hatte einen Geruch, den Andreas nicht ausstehen konnte. Sie machte Geräusche, die unerträglich waren. Und was das schlimmste war: Sie war voller Leute - vor allem jetzt, zur Rush Hour.

Manchmal fragte sich Andreas, warum die Wagen so klein waren. Konnten sie keine größeren bauen? Als er die Bahn betrat, waren schon wieder alle Sitzplätze belegt - und die meisten Stehplätze dazu. Den Körperkontakt mit Fremden zu vermeiden, war ein Ding der Unmöglichkeit. Dicht gedrängt standen die Menschen im Gang - Menschen, die er nie zuvor gesehen hatte. Die Fremde waren und wahrscheinlich Fremde blieben. Er würde sie nie wieder sehen, was in gewisser Hinsicht auch ganz gut so war.

Gerade um diese Uhrzeit standen viele Berufstätige in der Bahn. Yuppies in langen, schwarzen Mänteln, die an ihren iPads herumfingerten. Andreas wusste genau, dass sie die GPS-Daten, ohne es zu wissen, direkt an Lemuria schickten, und er grinste bei dem Gedanken. Doch schon wieder steuerte die U-Bahn eine Haltestelle an. Das Schwarz des Tunnels wich dem blendenden Licht eines Bahnhofs. Menschentrauben klebten auf den Bahnsteigen. Missmutig sah Andreas zu, wie sie auf die Eingänge zuströmten wie Schafe in einen bereits überfüllten Pferch. Kaum jemand wollte aussteigen - außer einem Teenager mit knallrot gefärbten Haaren, zwei Lippenpiercings und einem Augenbrauenpiercing. Ihr iPod bis zum Anschlag aufgedreht, so dass es Andreas hören konnte. Irgendwelches Hip Hop-Gedudel. Sie rempelte ihn an, ohne sich zu entschuldigen, quetschte sich durch das Gedränge stehender Menschen nach draußen und entschwand auf den Bahnsteig. Dann wurde es noch enger. Eine dicke Frau und ihr etwas knochiger Ehemann schmiegten sich an Andreas an. Angewidert versuchte er auszuweichen, was im Feierabendverkehr nur unzureichend gelang. Kaum waren sie im Wagen angekommen und kaum war die Bahn langsam wieder gestartet, fing die Frau schon wieder an zu zetern. Im derbsten Großstadt-Dialekt zog sie über ihren Sohn her, der den ganzen Tag nur World of Warcraft spielte.

“Der Junge hat sich noch nicht mal um einen Ausbildungsplatz beworben”, jammerte sie. “Den ganzen Tag nur an der Flimmerkiste sitzen. Da kriegste echt nen Vogel.”

“Was meckerste mit mir? Ich kann da ja nichts dafür”, sagte ihr Mann.

“Der ist immerhin auch dein Sohn. Aber was hatter denn fürn Vorbild? Ich sach ja immer: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, ne? Und ich sach dir eins: Wennde net bald mit nem Job nach Hause kommst, dann ist aber Schicht im Schacht. Aber sowas von!”

“Du weißt doch, in meinem Alter.”

“Papperlapapp! Ich kann immerhin noch putzen gehen. Und wenn ich nen Job finde, dann du erst recht. Und nimm dir mal den Dustin zur Brust. Der soll endlich mal Geld verdienen. Hotel Mama is nich mehr.”

Andreas fühlte sich eine RTL-Doku-Soap versetzt. Fehlte nur noch das Kamerateam, das die U-Bahn noch enger machte, als sie ohnehin schon war. Er quetschte sich durch die Menge. Nur weg. Dann lieber mit dem Handy telefonierende oder twitternde Yuppies. Er schnappte sich sein iPhone und twitterte: “U-Bahn mal wieder die Hölle. #Berufsverkehr” Aber was sollte er sonst tun? Mit dem Auto kam er um diese Zeit vor lauter Stau gar nicht mehr durch - ganz zu schweigen von der elenden Parkplatzsuche. Der Firmenparkplatz war meist belegt, und in der Straße seiner Wohnung fand er auch nur ganz selten mal einen geeigneten Parkplatz.

Aber wozu gab es öffentliche Verkehrsmittel, die unendlich praktisch waren, zugleich aber auch unendlich nervten, weil einem Menschen auf die Pelle rückten, die man am liebsten hundert Meter weit weg sähe? Es war eben ein zweischneidiges Schwert.
Endlich fuhr die U-Bahn in den Bahnhof ein, in dem Andreas aussteigen musste. Hier war weitaus weniger los. Nur ein Straßenmusikant stand an einer Ecke und spielte Stairway to Heaven. Und auf einer Bank saß ein alter Mann, der gedankenverloren in die Ferne blickte. Ein junger Rucksacktourist eilte zur Bahn und stieg ein. Wieder hatte Andreas diesen seltsamen Geruch in der Nase, den er in U-Bahnhöfen immer roch - ein wenig verbrannt, ein wenig elektrisch. Dann surrte die Bahn wieder in den Tunnel. Er sah dem roten Lindwurm auf seiner Reise in die Finsternis hinterher, als sein Blick auf den beiden Plakatwänden hinter den Gleisen hängen blieb. Auf der einen Wand stand die übliche Lemuria-Werbung, die Andreas schon zur Genüge kannte: “Sie wollen die Welt verändern? Fangen Sie heute damit an.” Auf der anderen - als ob es die Antwort der ersten wäre - war ein Gesicht abgebildet, das er trotz seiner leichten Prosopagnosie (Gesichtsblindheit) erkannte: Es war sein alter Schulkamerad, oder besser: der Albtraum seiner Jugend. Der Mann, den er von allen am allerwenigsten auf einer Plakatwand hatte sehen wollen, der ihm als Schüler das Leben zur Hölle gemacht hatte. Sein Schulhof-Gegenspieler. Robert Jens. Seine widerliche Fresse grinste ihn an. Abstoßend. Und darunter stand nichts weiter als: “Robert Jens kommt.” So, als müsste man ihn kennen. Als wüsste jeder, wer er ist. Robert Jens kommt. Dazu Ort und Zeit der Veranstaltung. Konrad-Adenauer-Halle. Und das Datum war schon morgen.

Sollte er hingehen? Er zuckte die Achseln. Eigentlich hatte er keine Lust - so wie er fast nie Lust hatte, Abends irgendwohin zu gehen. Die Energie, die er dazu brauchte, fehlte ihm wieder im Job. Noch dazu wegen diesem Kerl. Aber irgendwie interessierte es ihn doch. Ihm interessierte sehr, was aus seinem alten Peiniger geworden war.

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Samstag, 27. April 2013
00000001 - Der Fembot
Die Aufregung war Alexander deutlich anzusehen, als er in Andreas’ Büro stürmte. Und das, obwohl Empathie nicht gerade zu dessen Stärken gehörte. Den Schweißgeruch des plötzlichen Eindringlings nahm Andreas deutlich wahr, und angewidert rümpfte er die Nase. Auf der zu hoch geratenen Stirn des Mannes, der die Tür auf- und Andreas aus seinem Gedankengang herausgerissen hatte, waren deutlich die Schweißperlen zu sehen, die seine Hast durch den Flur verursacht hatte. Unter den Achseln bemerkte Andreas dunkle Flecken an Alexanders weißem Hemd, die sich langsam ausbreiteten.

Dass Alexander schwitzte, war nichts ungewöhnliches. Immerhin war er genauso breit wie hoch - ein Tribut unzähliger Pizzen, die sich der Programmierer in so mancher Nachtschicht reingeschoben hatte. Jetzt stand er in Andreas’ Allerheiligstem und platzte mit seiner bahnbrechenden Neuigkeit heraus: “Er funktioniert! Der Fembot funktioniert!”

Das beeindruckte Andreas nicht im geringsten. “Schön”, sagte er emotionslos, wie er es oft zu tun pflegte. Auch er stand gerade vor einem wichtigen Durchbruch. Die Künstliche Intelligenz, die seine Firma zu entwickeln sich vorgenommen hatte, war nicht mehr weit entfernt.

“Weißt du denn, was das bedeutet?” fragte Alexander aufgeregt, und schon stürmte er auf Andreas’ Computer zu, stieß ihn unsanft zur Seite und öffnete ein neues Browserfenster.

“Der Fembot ist eine Anwendung der künstlichen Intelligenz”, dozierte Andreas. “Ein Programm, das die Verhaltensweise paarungswilliger Frauen imitiert, das auf die Anmachversuche männlicher Chat-Teilnehmer reagiert und das dazu lernt.”

“Ja, künstliche Intelligenz”, rief Alexander aufgeregt. “Und es funktioniert. Ich habe es lange getestet - und unzählige Telefonnummern von Männern eingesackt.”

“Was willst du denn mit Telefonnummern von Männern?”

“Die von Frauen sind wesentlich schwerer zu bekommen.”

“Ah!”

Alexander rief die Flirtchat-Seite auf Lemuria auf und loggte sich ein.

“Julia25", bemerkte Andreas.

“Hey, was hast du gegen den Nick? Nach Umfragen ist Julia der Frauenname, unter den sich Männer mit größter Wahrscheinlichkeit eine attraktive Frau vorstellen. Und 25 ist das Alter, mit dem eine Frau mit größter Wahrscheinlichkeit flirtwillige Männer anziehen kann. So, jetzt pass mal auf, was passiert.”

“Ist das Programm schon aktiviert?”

“Ja. Pass mal auf.”

Ratzfatz - und zwar zehnmal so schnell wie ein richtiger Mensch - hatte Julia25 sämtliche Männer im Chat angesprochen - alle mit der etwas plumpen, aber bei vielen Männern durchaus erfolgreichen Anrede: “Hi, Süßer!”

Es dauerte ein wenig, bis der erste antwortete, doch Julia25 war um eine Antwort nicht verlegen - und vor allem: sie konnte unterschiedliche Antworten auf einmal produzieren. Ein Mann, Peter36, antwortete mit: “Woher weißt du, dass ich süß bin?” Julia25 entgegnete: “Tja, ich kann hellsehen.”

Wieder ein anderer, MasterOfDesaster, entgegnete: “Hi, Süße, wie wär’s mit uns beiden?” Julia25 schrieb: “Aber hallo, du gehst ja hart dran!”

Dann gab es einen Chatter mit Namen The_Incredible_Hulk. Er schrieb: “Hey, wie geht’s?” Und Julia antwortete: “Blendend. Und dir?”

Doch damit nicht genug. Julia gelang es, sie alle um den Finger zu wickeln. Fragen nach der Telefonnummer wich sie allerdings aus. Dafür verlangte sie die Nummern der Herren - und bekam sie auch. Und das alles wie ganz von allein.

Andreas sah ungläubig auf den Bildschirm. “So, und jetzt das ganze bitte als Mann, der Frauen an baggert.”

“Wie ich schon sagte: Das ist nicht so einfach.”

“Warum nicht?”

“Also, erstens sind Frauen längst nicht so flirtwillig wie Männer. Zweitens sind sie skeptischer. Und drittens sind sie komplett irrational. Wenig berechenbar. Ich kann einen Fembot mit nur wenigen Algorithmen steuern. Für einen Malebot, der Telefonnummern von Frauen sammeln soll, brauchen wir das Hundertfache an Algorithmen - und vielleicht müssen wir sogar auf das Trinäre System ausweichen.”

Das Trinäre System. Andreas kannte die Theorie: Um irrationale Prozesse wie beispielsweise Emotionen in eine künstliche Intelligenz einzubauen, reichte ein binäres System nicht mehr aus. Alle Computer und Computerprogramme waren auf ein ganz simples Muster zurückzuführen: 0 und 1. 0 bedeutete, es floss kein Strom. 1 bedeutete, es floss Strom. Aus Nullen und Einsen war die komplette virtuelle Welt aufgebaut. Alle Texte, Bilder, Videos, Musikstücke - all das war in simplen Nullen und Einsen kodiert.

Aber Menschen funktionierten anders. Da gab es nicht nur ja und nein, 0 und 1. Da gab es auch die Grautöne. Und so spekulierten einige, für eine künstliche Intelligenz bräuchte es ein trinäres System. Neben 0 und 1, ja und nein, sollte auch eine 2 hinzukommen, ein Vielleicht. Noch war das alles nur Spekulation - aber war es tatsächlich möglich, Emotionen durch ein trinäres System zu kodieren?
Andreas wusste es nicht. Für ihn waren Emotionen ein Buch mit sieben Siegeln - speziell die Emotionen anderer. Aber auch seine eigenen konnte er nicht immer verstehen. Oft verspürte er starke Gefühle, und er fühlte sich schlecht, aber er wusste nicht, weswegen und wie er etwas an seiner Situation ändern konnte.

“Sieh es als Herausforderung”, sagte Andreas. “Programmiere einen Malebot - einen, der mir die Telefonnummern schöner Frauen besorgen kann.”

“Wir brauchen keine schönen Frauen”, sagte Alexander. “Wir brauchen Frauen, die zu uns passen. Die Sabine in der Buchhaltung - wäre die nichts für dich?”

“Naja”, sagte Andreas, aber er hielt ansonsten besser die Klappe. Frauen in der eigenen Firma waren definitiv nichts für ihn. Wenn er sich nun verliebte, und sie hatte kein Interesse an ihm - oder sie hatte durchaus Interesse, aber die Beziehung ging in die Brüche - was dann?

“Geh mal aus”, schlug Alexander vor. “Vielleicht kommst du auf andere Gedanken.”

“Du weißt genau, dass ich das nicht mag. Ausgehen. Das ist nichts für mich.”

“Wann warst du denn das letzte Mal aus?”

“Im Studium.”

“Wie lange ist das jetzt her?”

“Zehn Jahre.”

“Du meine Güte. Du warst die vergangenen zehn Jahre niemals aus?”

“Es macht mir keinen Spaß. Lauter Leute, die ich nicht kenne und von denen ich nicht weiß, ob ich ihnen trauen kann. Laute Musik, wegen der ich nicht hören kann, was die anderen Leute reden. Am Ende sitze ich nur unbeteiligt am Tisch, wenn ich in einer Kneipe bin. Oder ich mache ungeschickte Tanzbewegungen im grellen Licht einer Diskothek, von dem ich ohnehin nur Kopfschmerzen kriege. Ich konnte nie verstehen, was so toll ist am Ausgehen. Ich habe es trotzdem gemacht, um mit Freunden etwas zu erleben - oder vielleicht um eine Frau kennen zu lernen. Aber ich habe über das Internet mehr Frauen kennen gelernt als durch das Ausgehen. Also, was soll am Ausgehen so toll sein? Vor allem unter der Woche. Dann bin ich am Morgen noch viel mehr am Arsch als ohnehin schon.”

Alexander seufzte. “Ein großer Fan vom Ausgehen bin ich jetzt auch nicht. Aber ab und zu mal. Ich meine, wenigstens mal auf ein Konzert oder so.”

“Ja, und hinterher habe ich wieder Kopfschmerzen, weil die Musik so laut war.”

“Du bist echt eine Mimose.”

“Ich bin keine Mimose. Ich bin nur anders. Und jetzt lass mich wieder allein.”

“Du bist gerne allein, stimmt’s?”

“Was ist so schlimm daran?”

Alexander stand auf und ging auf die Tür zu. “Gut. Wie du willst. Ich werde versuchen, einen Malebot zu programmieren. Aber denk daran: Frauen sind nur schwer berechenbar. Ich weiß nicht, ob er funktionieren wird.” Er schloss die Tür hinter sich.

Andreas konzentrierte sich wieder auf die Algorithmen vor ihm auf dem Bildschirm. Und plötzlich hatte er eine Idee.

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Freitag, 26. April 2013
00000000 - Wir sind Netzgeister
Blog-Eintrag Mercury Mailer auf blogs.lemuria.com
Montag, 13. Februar 20xx

Wir sind Netzgeister. Eine ganze Generation, die nur noch im Netz lebt. Wir arbeiten im Netz, suchen uns unsere sozialen Kontakte im Netz. Wir schreiben E-Mails, chatten, twittern und bloggen.

Ich nenne unsere Generation die Generation N. N wie Netz. Aber man könnte sie auch Generation O nennen. Wie online. Fängt aber offline nicht auch mit O an? Manche nennen uns auch die Generation @. Wie auch immer ihr uns nennt, wir sind ganz anders als unsere Eltern.

Wenn wir etwas wissen wollen, schlagen wir in der Wikipedia nach. Wenn wir Bücher lesen wollen - so richtig altmodische, traditionelle Bücher - bestellen wir sie uns bei Amazon. Wir gehen nicht in den Plattenladen. Wir laden uns MP3s runter. Wir gehen nicht in die Stadt. Wir bestellen uns unsere Klamotten im Internet. Und wir gehen nicht auf Flohmärkte. Wir steigern auf eBay. Wenn wir mal doch auf eine Party gehen, dann hat uns jemand auf Facebook eingeladen.

Wir holen uns unsere Information auf Spiegel Online, unsere Unterhaltung auf YouTube, unsere Bildung auf Wikipedia. Wenn wir fremde Länder sehen wollen, wissen wollen, wie es dort aussieht, brauchen wir nur auf Google Earth zu gehen, und schon können wir einmal um die ganze Welt reisen. Und wenn uns das nicht reicht, die Welt von oben zu sehen, können wir sie uns mit Google Street View anschauen.

Wir komponieren, wir texten, wir drehen, schneiden, publizieren Musikvideos. Alles im Netz. Unsere Bankgeschäfte, unsere Behördengänge, alles im Netz. Ab und zu müssen wir doch noch nach draußen. Denn Lebensmittel kann man sich noch nicht im Netz bestellen - es sei denn, man will sich den ganzen Tag von Pizza ernähren. Wer will das schon?

Wir sind Netzgeister, Avatare. Wir sind Talosianer. Wir haben die reale Welt verlassen und die virtuelle betreten. Noch benutzen wir keine Datenhelme, aber der Tag wird kommen, an dem wir uns wie Tron, wie Neo durch die digitalen Welten bewegen werden.






Blog-Eintrag Mercury Mailer auf blogs.lemuria.com
Montag, 19. März 20xx

Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Mercury Mailer. Natürlich ist das nicht mein richtiger Name. Im Netz kann man nicht vorsichtig genug sein. Wir sind anonym. Und das ist auch gut so. Denn niemand darf erfahren, wer ich wirklich bin. Nur so kann ich meine intimsten Gedanken der Community anvertrauen.

Ich arbeite bei Lemuria. Wir sind Suchmaschine und Soziales Netzwerk. Wir sammeln Daten. Wir wissen alles. Wir sind die Bibliothek von Alexandria und das Ministerium für Staatssicherheit in einem. Wir wissen, welche Bücher du bestellst, welche Videos du dir anschaust, welche Artikel du liest. Wir wissen, mit wem du befreundet bist. Wir kennen deine Interessen, deine geheimsten Wünsche und Sehnsüchte - besser als du selbst. Unsere Aufgabe ist es, Wissen anzuhäufen. Das Wissen all dieser Welt. Wenn wir all diese Daten verknüpfen und mit Algorithmen versehen, können wir eines Tages sogar die Zukunft voraussagen. Noch können wir das nicht, aber wir arbeiten daran.

Ihr fragt mich, warum ich keine Freunde habe. Natürlich habe ich Freunde. 996 Facebook-Freunde - und fast ebenso viele Kontakte auf Lemuria. 12.372 Personen folgen mir auf Twitter. Ich bin bei YouTube. Ich bin bei Wikipedia. Ich bin bei XING. Ich bin bei World of Warcraft. Die Zahl der Foren, in denen ich angemeldet bin, kenne ich schon gar nicht mehr. Überall mit dem gleichen Namen. Mercury Mailer. Meinen richtigen Namen kennt niemand. Und ich gebe ihn auch nicht preis. Meine Stadt kennt niemand. Die wenigsten meiner Online-Freunde habe ich schon mal in Real Life getroffen. Und das war meist eine Enttäuschung.

Wozu echte Freunde? Es macht mir Freude, mit den virtuellen zu chatten. Tratschen und lästern kann man auch da. Wenn ich Hilfe brauche, sind auch die Freunde zur Stelle. Ich habe Freunde in aller Welt. Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Arabische Emirate. Überall, wo man Deutsch, Englisch oder Spanisch spricht, gibt es Leute, die ich kenne. Ich könnte eine Weltreise machen, ohne Hotels zu bezahlen. Aber ich tue es nicht. Ich komme nur selten aus meiner Stadt raus.



Blog-Eintrag Mercury Mailer auf blogs.lemuria.com
Dienstag, 20. März 20xx

Im Internet kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Alles, was ihr da rein schreibt, bleibt drin und kann euch Jahre später noch verfolgen. Vor allem: Internet heißt Öffentlichkeit. Klar, ihr könnt bei Facebook oder Lemuria Dinge reinschreiben, die nur eure engsten Freunde lesen können. Aber viele vergessen das, wenn sie in irgendein Forum was rein schreiben - oder in einen Blog, den jeder lesen kann - oder in Twitter. Denn nicht nur Leute, die euch auf Twitter folgen, können das lesen. Sie können es retweeten, und wer das liest, kann es ebenfalls retweeten, und so verbreitet es sich. Botschaften, Nachrichten, Fotos, Videos werden viral. Sie sind die Viren des Netzes. Je ungewöhnlicher, je knackiger, je provozierender sie sind, desto ansteckender sind sie.

Stell dir vor, du hast auf Lemuria 100 Freunde. Wenn jeder von diesen ebenfalls hundert Freunde hat, dann sind das schon 10.000. Hat jeder dieser 10.000 ebenfalls hundert Freunde, dann sind das eine Million. Das wäre ganz Köln. Ein hoch ansteckender Internet-Virus könnte innerhalb kürzester Zeit ganz Köln infizieren. Und wenn jeder dieser Million wieder hundert Freunde kennt, dann sind wir schon bei 100 Millionen - und das sind mehr als Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen.

Vergesst vor allem eines niemals: Wir leben in der dritten großen soziokulturellen Revolution der Menschheitsgeschichte. Die erste Revolution war die Neolithische Revolution. Sie hat Jäger und Sammler in Ackerbauern und Viehzüchtern verwandelt. Aus Höhlenmenschen wurden Dorfbewohner. Jahrhundertelang beackerten unsere Vorfahren Felder, bis die zweite Revolution kam - die Industrielle Revolution. Aus den Feldern und Ställen gingen in die Menschen in die Fabriken, um an Hochofen, Maschine und Fließband zu schuften.

Doch in den alten Fabrikhallen wächst jetzt Gras. Die neuen Fabriken sind Denkfabriken. Die neuen Waren sind virtuell. Wir sitzen in Büros an unseren Rechnern und erschaffen künstliche Welten. Die Digitalisierung der Menschheit hat gerade begonnen, und das ist erst der Anfang. Wir sind mittendrin in einer gigantischen Umwälzung der Lebensverhältnisse. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Soziales - all das wird in allzu naher Zukunft völlig anders sein als das, was wir momentan erleben.

So wie der Jäger und Sammler sich nicht vorstellen konnte, sesshaft zu sein, so wie dem leibeigenen Bauer des Mittelalters eine Fabrikhalle ein Buch mit sieben Siegeln war, so stehen wir ratlos vor einer ungewissen Zukunft, die wir uns nicht einmal in Ansätzen vorstellen können. Wieder einmal ist der Fortschritt dabei, die Menschheit komplett zu verändern und mit einem Donnerschlag alles wegzuwischen, was vorher noch galt.

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