... newer stories
Sonntag, 12. Mai 2013
00010000 - Black Eyed People
mercury mailer, 22:16h
Eine dieser Fragen konnte ihm vielleicht Ralf beantworten. Ralf war ein wandelndes Lexikon. Das war Andreas zwar auch, aber Ralf kannte sich auf einem Gebiet aus, das für Andreas ein Buch mit sieben Siegeln war: das Gebiet der paranormalen Ereignisse und der Verschwörungstheorien. Seit Ralfs Cousine zweiten Grades in Fort Lauderdale eine YouTube-Fernsehserie über ein vermeintliches Spukhaus gestartet hatte, die sogar recht erfolgreich war, seitdem war Ralf immer mehr in die Welt des Paranormalen abgedriftet. Seine Cousine hatte ihn über Lemuria-Chat immer wieder mit Fragen gelöchert, und so hatte Ralf angefangen, sich dafür zu interessieren. Bücher zu lesen, im Internet zu recherchieren. Mit der Zeit war er so etwas wie ein Experte des Paranormalen geworden. Er kannte sich aus, sofern so etwas überhaupt möglich war, denn gerade auf diesem Wissensgebiet behauptete jeder etwas anderes, und das Spektrum reichte von totaler Gläubigkeit bis hin zu totaler Ablehnung.
Doch obwohl es so unglaublich schwierig war, einigermaßen verlässliche Aussagen zu bekommen, sah Andreas keine andere Möglichkeit. Auch wenn Ralf etwas seltsam war. Sogar gemessen an den Leuten, die für Lemuria arbeiteten.
Als Andreas Ralfs Büro betrat, - wie die meisten bei Lemuria hatte er ein Einzelbüro - war dieser in Gedanken vertieft. Zahlenkolonnen huschten über seinen Bildschirm, und Ralfs Finger tanzten über die Tastatur.
“Ralf?”
Keine Reaktion. Ralf starrte auf den Bildschirm. Hochkonzentriert. Zahlen und Steuerungsbefehle schossen nur so durch das Eingabefeld, das er gerade bearbeitete. Schwarz auf weiß und in der simpelsten Courier-Schrift, die es gab. Seine Finger tanzten weiter ihren schnellen, unermüdlichen Tanz.
“Hey, Ralf!”
Immer noch keine Reaktion. Andreas war etwas ratlos. Wenn er ihn jetzt anfassen würde, würde er einen Anfall bekommen und schlichtweg ausflippen - so sehr, dass Leute, die ihn nicht kannten, doch eine Einweisung in die Psychiatrie in Erwägung ziehen würden. Und einen ausflippenden Ralf wollte Andreas wirklich nicht erleben.
“Ra-alf!”
Endlich reagierte er - so als hätte ihn jemand aus seinem Traum aufgeschreckt.
“Wie, was ist los?”
“Nichts ist los, Ralf. Ich habe nur eine Frage an dich. Oder vielleicht sind es auch mehrere. Aber du kennst dich doch aus mit, naja, etwas seltsamen Dingen. Ich meine, so richtig abgefuckte, komplett durchgedrehte Dinge.”
Ralf machte sich nicht einmal die Mühe, Andreas in die Augen zu sehen. Seine Augen klebten am Bildschirm. Andreas konnte das nur recht sein. Er sah auf den Kalender, der an der Wand hing und der eine Schwarzweiß-Ansicht des alten New York zeigte. Es war der einzige persönliche Gegenstand in Ralfs Büro. Alles andere, was hier zu finden war, wurde von der Firma gestellt.
“Ich weiß alles darüber”, sagte Ralf. “Ich meine alles, was man darüber wissen kann. Vieles kann man ja nicht wissen - und bei anderen Sachen sagt jeder etwas anderes.” Er sagte es wie ein Roboter. Vollkommen emotionslos. Nicht, dass es Andreas aufgefallen wäre. Aber es war so.
“Also gut, Ralf. Ist denn der Terminator etwa schon erfunden?”
“Der Terminator braucht noch nicht erfunden zu sein”, sagte Ralf. Und Andreas fand es erschreckend, wie ernst er es sagte. Nicht die leiseste Spur von Humor lag in seiner Stimme. “Der Terminator braucht noch nicht erfunden zu sein. Er kann durch die Zeit reisen.”
“Spaß beiseite”, sagte Andreas. Und dann erzählte er ihm von seiner Begegnung mit dem Mann in der U-Bahn. Obwohl ihn Ralf die ganze Zeit nicht ansah, wusste Andreas, dass er ihm zuhörte. Nachdem Andreas geendet hatte, drehte Ralf seinen Schreibtischstuhl, so dass er Andreas ansehen konnte. Er sah ihn aber nicht an, sondern er schaute an ihm vorbei. Dabei spielte er mit einem Bleistift in seiner Hand, den er nur an der Spitze hielt und schnell hin- und her bewegte. Dann legte er los:
“Bei dem Mann handelt es sich um ein Phänomen, das gemeinhin als Black Eyed People bekannt ist. Ursprünglich nannte man es Black Eyed Kids, weil zunächst hauptsächlich Kinder aufgetaucht sind. Bekannt wurde das Phänomen durch den amerikanischen Journalisten Brian Bethel, der in Portland, Oregon Black Eyed Kids gesehen haben will. Für gewöhnlich spielen sich Begegnungen generell nach dem selben Muster ab: Zwei Kinder kreuzen den Weg eines ahnungslosen Passanten oder klingeln nachts an der Tür. Sie bitten diese Person um Hilfe. Zum Beispiel soll sie die Kinder in die Wohnung lassen, damit sie ihre Mutter anrufen können. Diese Hilfe wird ihnen aber meistens verweigert, da sie so seltsam erscheinen, dass jeder merkt, dass mit ihnen etwas nicht stimmen kann. Sie lösen bei jedem, der ihnen begegnet, ein seltsames Angstgefühl aus. Und das liegt nicht nur an ihren Augen, die zunächst noch nicht einmal auffallen, die aber komplett schwarz sind. Also auch die Teile, die bei normalen Menschen weiß sind. Nach und nach sind aber auch Erwachsene mit schwarzen Augen aufgetaucht.”
“Und? Weiß man, was dahinter steckt?”
“Das weiß keiner. Es gibt freilich einige Theorien. Manche Leute sagen, sämtliche Sichtungen von Black Eyed People seien erstunken und erlogen. Andere Leute sagen, diese Menschen würden spezielle Kontaktlinsen tragen, die es schon länger als Spezial-Effekte für Horrorfilme gibt. So weit die rationalen Erklärungen. Sehr viele Leute halten die Black Eyed People für Dämonen, andere für Außerirdische und wieder andere für die Seelen Verstorbener, also für Geister. Und manche halten sie für Vampire, weil sie deine Wohnung nur dann betreten können, wenn du sie auch einlädst.”
“Und was glaubst du?”
“Wenn du mich fragst, ich würde die Geister-Theorie ausschließen, da sich Geister niemals so verhalten. Und Vampire gibt es nicht. Ansonsten halte ich alle Theorien für möglich - inklusive der beiden rationalen Erklärungen. Die sogar noch am meisten. Ich glaube, der Typ, den du in der U-Bahn gesehen hast, wollte dir nur einen Schrecken einjagen - und hat das mit diesen Spezial-Kontaktlinsen wohl auch geschafft.”
“Aber warum? Was will er denn ausgerechnet von mir?”
“Möglich, dass er dich als Opfer zufällig ausgewählt hat. Vielleicht, weil er es kann. Weil es ihm Spaß macht. Ich würde mir an deiner Stelle keine großen Gedanken darüber machen. Es war wahrscheinlich nur ein Spinner.”
“Na, dafür hat er aber eine echt filmreife Show abgezogen.”
“Der Satz Wir sind überall könnte aber auch für Anonymous stehen. Lemuria hat viele Feinde - und da gehören sicherlich ein paar von diesen Anonymous-Typen dazu.”
“Das heißt aber Wir sind Legion - nicht Wir sind überall. Und außerdem hatte der Typ schwarze Augen - und keine Guy-Fawkes-Maske.”
“Vielleicht hast du dir das aber nur eingebildet. Die Wahrnehmung kann einem manchmal einen Streich spielen. Gerade Leuten wie uns.”
“Und wenn nicht? Wenn dieser Mann wirklich ein Dämon war? Wenn das so etwas wie eine Warnung war?”
“Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit? Wir wissen noch nicht einmal, ob es Dämonen überhaupt gibt. Es hat noch kein Wissenschaftler ihre Existenz eindeutig bestätigt. Ganz im Gegenteil. Es gibt nicht den geringsten wissenschaftlich hieb- und stichfesten Hinweis darauf, dass so etwas wie Dämonen überhaupt existiert. Wir könnten genauso gut an fliegende Spaghettimonster glauben. Das wäre genau so wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Das Risiko, dass es sich tatsächlich um Dämonen handelt, die hinter dir her sind, ist so gering, dass man es unter Restrisiko verbuchen kann. Ich würde sogar behaupten, die Wahrscheinlichkeit, dass du von einem herabstürzenden Satelliten getroffen wirst, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, dass ein Dämon dich tötet - nach allem, was wir wissen.”
Doch obwohl es so unglaublich schwierig war, einigermaßen verlässliche Aussagen zu bekommen, sah Andreas keine andere Möglichkeit. Auch wenn Ralf etwas seltsam war. Sogar gemessen an den Leuten, die für Lemuria arbeiteten.
Als Andreas Ralfs Büro betrat, - wie die meisten bei Lemuria hatte er ein Einzelbüro - war dieser in Gedanken vertieft. Zahlenkolonnen huschten über seinen Bildschirm, und Ralfs Finger tanzten über die Tastatur.
“Ralf?”
Keine Reaktion. Ralf starrte auf den Bildschirm. Hochkonzentriert. Zahlen und Steuerungsbefehle schossen nur so durch das Eingabefeld, das er gerade bearbeitete. Schwarz auf weiß und in der simpelsten Courier-Schrift, die es gab. Seine Finger tanzten weiter ihren schnellen, unermüdlichen Tanz.
“Hey, Ralf!”
Immer noch keine Reaktion. Andreas war etwas ratlos. Wenn er ihn jetzt anfassen würde, würde er einen Anfall bekommen und schlichtweg ausflippen - so sehr, dass Leute, die ihn nicht kannten, doch eine Einweisung in die Psychiatrie in Erwägung ziehen würden. Und einen ausflippenden Ralf wollte Andreas wirklich nicht erleben.
“Ra-alf!”
Endlich reagierte er - so als hätte ihn jemand aus seinem Traum aufgeschreckt.
“Wie, was ist los?”
“Nichts ist los, Ralf. Ich habe nur eine Frage an dich. Oder vielleicht sind es auch mehrere. Aber du kennst dich doch aus mit, naja, etwas seltsamen Dingen. Ich meine, so richtig abgefuckte, komplett durchgedrehte Dinge.”
Ralf machte sich nicht einmal die Mühe, Andreas in die Augen zu sehen. Seine Augen klebten am Bildschirm. Andreas konnte das nur recht sein. Er sah auf den Kalender, der an der Wand hing und der eine Schwarzweiß-Ansicht des alten New York zeigte. Es war der einzige persönliche Gegenstand in Ralfs Büro. Alles andere, was hier zu finden war, wurde von der Firma gestellt.
“Ich weiß alles darüber”, sagte Ralf. “Ich meine alles, was man darüber wissen kann. Vieles kann man ja nicht wissen - und bei anderen Sachen sagt jeder etwas anderes.” Er sagte es wie ein Roboter. Vollkommen emotionslos. Nicht, dass es Andreas aufgefallen wäre. Aber es war so.
“Also gut, Ralf. Ist denn der Terminator etwa schon erfunden?”
“Der Terminator braucht noch nicht erfunden zu sein”, sagte Ralf. Und Andreas fand es erschreckend, wie ernst er es sagte. Nicht die leiseste Spur von Humor lag in seiner Stimme. “Der Terminator braucht noch nicht erfunden zu sein. Er kann durch die Zeit reisen.”
“Spaß beiseite”, sagte Andreas. Und dann erzählte er ihm von seiner Begegnung mit dem Mann in der U-Bahn. Obwohl ihn Ralf die ganze Zeit nicht ansah, wusste Andreas, dass er ihm zuhörte. Nachdem Andreas geendet hatte, drehte Ralf seinen Schreibtischstuhl, so dass er Andreas ansehen konnte. Er sah ihn aber nicht an, sondern er schaute an ihm vorbei. Dabei spielte er mit einem Bleistift in seiner Hand, den er nur an der Spitze hielt und schnell hin- und her bewegte. Dann legte er los:
“Bei dem Mann handelt es sich um ein Phänomen, das gemeinhin als Black Eyed People bekannt ist. Ursprünglich nannte man es Black Eyed Kids, weil zunächst hauptsächlich Kinder aufgetaucht sind. Bekannt wurde das Phänomen durch den amerikanischen Journalisten Brian Bethel, der in Portland, Oregon Black Eyed Kids gesehen haben will. Für gewöhnlich spielen sich Begegnungen generell nach dem selben Muster ab: Zwei Kinder kreuzen den Weg eines ahnungslosen Passanten oder klingeln nachts an der Tür. Sie bitten diese Person um Hilfe. Zum Beispiel soll sie die Kinder in die Wohnung lassen, damit sie ihre Mutter anrufen können. Diese Hilfe wird ihnen aber meistens verweigert, da sie so seltsam erscheinen, dass jeder merkt, dass mit ihnen etwas nicht stimmen kann. Sie lösen bei jedem, der ihnen begegnet, ein seltsames Angstgefühl aus. Und das liegt nicht nur an ihren Augen, die zunächst noch nicht einmal auffallen, die aber komplett schwarz sind. Also auch die Teile, die bei normalen Menschen weiß sind. Nach und nach sind aber auch Erwachsene mit schwarzen Augen aufgetaucht.”
“Und? Weiß man, was dahinter steckt?”
“Das weiß keiner. Es gibt freilich einige Theorien. Manche Leute sagen, sämtliche Sichtungen von Black Eyed People seien erstunken und erlogen. Andere Leute sagen, diese Menschen würden spezielle Kontaktlinsen tragen, die es schon länger als Spezial-Effekte für Horrorfilme gibt. So weit die rationalen Erklärungen. Sehr viele Leute halten die Black Eyed People für Dämonen, andere für Außerirdische und wieder andere für die Seelen Verstorbener, also für Geister. Und manche halten sie für Vampire, weil sie deine Wohnung nur dann betreten können, wenn du sie auch einlädst.”
“Und was glaubst du?”
“Wenn du mich fragst, ich würde die Geister-Theorie ausschließen, da sich Geister niemals so verhalten. Und Vampire gibt es nicht. Ansonsten halte ich alle Theorien für möglich - inklusive der beiden rationalen Erklärungen. Die sogar noch am meisten. Ich glaube, der Typ, den du in der U-Bahn gesehen hast, wollte dir nur einen Schrecken einjagen - und hat das mit diesen Spezial-Kontaktlinsen wohl auch geschafft.”
“Aber warum? Was will er denn ausgerechnet von mir?”
“Möglich, dass er dich als Opfer zufällig ausgewählt hat. Vielleicht, weil er es kann. Weil es ihm Spaß macht. Ich würde mir an deiner Stelle keine großen Gedanken darüber machen. Es war wahrscheinlich nur ein Spinner.”
“Na, dafür hat er aber eine echt filmreife Show abgezogen.”
“Der Satz Wir sind überall könnte aber auch für Anonymous stehen. Lemuria hat viele Feinde - und da gehören sicherlich ein paar von diesen Anonymous-Typen dazu.”
“Das heißt aber Wir sind Legion - nicht Wir sind überall. Und außerdem hatte der Typ schwarze Augen - und keine Guy-Fawkes-Maske.”
“Vielleicht hast du dir das aber nur eingebildet. Die Wahrnehmung kann einem manchmal einen Streich spielen. Gerade Leuten wie uns.”
“Und wenn nicht? Wenn dieser Mann wirklich ein Dämon war? Wenn das so etwas wie eine Warnung war?”
“Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit? Wir wissen noch nicht einmal, ob es Dämonen überhaupt gibt. Es hat noch kein Wissenschaftler ihre Existenz eindeutig bestätigt. Ganz im Gegenteil. Es gibt nicht den geringsten wissenschaftlich hieb- und stichfesten Hinweis darauf, dass so etwas wie Dämonen überhaupt existiert. Wir könnten genauso gut an fliegende Spaghettimonster glauben. Das wäre genau so wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Das Risiko, dass es sich tatsächlich um Dämonen handelt, die hinter dir her sind, ist so gering, dass man es unter Restrisiko verbuchen kann. Ich würde sogar behaupten, die Wahrscheinlichkeit, dass du von einem herabstürzenden Satelliten getroffen wirst, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, dass ein Dämon dich tötet - nach allem, was wir wissen.”
... link (0 Kommentare) ... comment
Samstag, 11. Mai 2013
00001111 - Werte Mitarbeiter!
mercury mailer, 17:14h
Bei Lemuria war Personalversammlung. Wie jeden Freitag. Zu diesem Zweck war das Atrium in der Mitte des Firmengebäudes, das zugleich als Eingangshalle diente, bestuhlt. Auf einer kleinen Bühne, die jeden Freitag auf- und wieder abgebaut wurde, standen ein Mikrofon und ein kleines Rednerpult. Normalerweise wurden bei diesen Versammlungen Losungen ausgegeben, verdienstvolle Mitarbeiter geehrt, alle auf die Firmenphilosophie eingeschworen oder - was meistens vorkam - motivierende Reden geschwungen.
Andreas hielt das alles für komplette Zeitverschwendung, und er saß meistens zusammen mit Alexander in einer der letzten Reihen, um die Versammlung irgendwie hinter sich zu bringen.
Die Niederlassung war nicht sonderlich groß. Alles in allem arbeiteten hier siebzig Mitarbeiter an der Zukunft der Menschheit - wie es Lemuria gerne hochtrabend formulierte. Und so fanden auch alle bequem im Atrium Platz. Gerade betrat Volker die Bühne. Auf Twitter und Facebook und natürlich auch auf Lemuria nannte er sich Folkherr und fand das unglaublich witzig. Folkherr war jemand, den man vielleicht eher in der Piratenpartei vermutet hätte als als Leiter einer Niederlassung. Er trug einen Vollbart und lange, braune Haare, die er sich hinten zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Außerdem hatte er eine Brille mit einem dicken, schwarzen Rand und trug fast immer schwarze Kleidung - auch heute, obwohl er sich etwas schicker herausgeputzt hatte. Allein schon daran, dass er ordentlich gepflegt aussah und dass er einen schwarzen Sakko und ein schwarzes Hemd trug, war ersichtlich, dass etwas besonderes in der Luft lag - wie wohl so vieles, was an diesem Tag geschah, etwas besonderes war.
Folkherr betrat die Bühne, ging zielstrebig ans Mikrofon und sagte: “Werte Mitarbeiter!”
Werte Mitarbeiter! Sonst sagte er immer: “Hallo, Leute!” Oder: “Liebe Freunde!” Es war eindeutig was im Busch.
“Werte Mitarbeiter. Heute ist ein ganz besonderer Tag für Lemuria Deutschland - und für diese Niederlassung. Bitte begrüßt mit mir den Leiter von Lemuria Deutschland. Stefan Busch.”
Der Mann, der jetzt die Bühne betrat, war das, was Andreas einen klassischen Krawattenträger nannte. Sein Anzug saß, als sei er darin geboren worden, und er bewegte sich darin wie ein Geschäftsmann, der es gewohnt war, über mehrere hundert Menschen zu befehlen.
“Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Mitarbeiter” sagte er. “Ich will Sie auch nicht lange mit Begrüßungsfloskeln aufhalten. Die Zeit ist knapp bemessen, und Sie haben sicherlich auch einiges zu tun. Gestatten Sie dennoch, dass ich ein paar Worte an Sie richte.”
“Blablabla”, sagte Alexander zu Andreas. Dieser grinste.
“Die aktuellen Zahlen sind verblüffend gut. Daher großes Lob an Sie alle. Im Bereich Soziale Netzwerke haben wir den Marktführer Facebook bald eingeholt. Im Bereich Suchmaschinen ist Google nach wie vor uneinholbar - aber wir sind immerhin schon besser als Bing. Unsere Videoplattform ist ebenfalls die Nummer zwei - auch wenn der Abstand zu YouTube zugegebenermaßen noch recht groß ist. Unsere E-Books-Plattform ist die einzige dieser Art im Web. Und das zahlt sich aus. Wir haben schon mehr E-Books verkauft als Amazon. Im Bereich E-Mail gab es nie einen derartigen Marktführer wie in anderen Bereichen. Ob Yahoo, GMX, Web.de oder Hotmail: Wie Sie wissen, gab es da gleich mehrere, etwa gleich große Anbieter. Die gute Nachricht ist: Mit Lemuria Mail haben wir sie alle eingeholt. Vielleicht weil die E-Mail-Adresse @lemuria.de besonders attraktiv zu sein scheint. Wie dem auch sei, großes Lob. Was besonders gut ankommt, sind unsere GPS-Apps mit Routenplaner, City Guides und so weiter und so weiter. Wo wir noch ein bisschen schwach auf der Brust sind, das sind unsere Online-Magazine. Aber gut, da hier bei Ihnen keine Online-Redakteure arbeiten, kann ich dazu nicht viel sagen.”
Er grinste, als hätte er einen guten Witz gemacht. Dann fuhr er fort: “Wir haben die Saat ausgebracht. Jetzt wird es Zeit, die Ernte einzufahren. Es ist nicht damit getan, dass ein paar Leute bei uns Mitglied sind. Ich will ALLE haben. Ich will, dass es hip ist, bei uns Mitglied zu sein, dass man um uns nicht herum kommt. Ich will, dass Lemuria über kurz oder lang das restliche Internet ablöst. Dass der komplette Informationsaustausch der Welt über unsere Server abläuft!”
Andreas wusste nicht, warum er klatschte und warum all die anderen klatschten. Das klang ihm zu sehr nach Großmachtfantasie. Irgend etwas war hier im Busch. Er musste über das Wortspiel grinsen, als Stefan Busch fortfuhr: “Ein erster Schritt dahin wird sein unsere Mediendatenbank. Wir werden so etwas aufziehen wie den Windows Media Player - nur eben online. Wir stehen gerade in Verhandlungen mit der GEMA und mit Sony und mit Time Warner und den ganzen anderen Medienunternehmen. Wenn wir das durchsetzen können, was wir uns vorgenommen haben, dann wird das richtig fett. Stellen Sie sich vor: eine Plattform, auf der Sie jedes x-beliebige Musikstück und jeden x-beliebigen Film ansehen können, wann immer Sie möchten - und das nicht mit Pay per View - sondern mit Hilfe einer Musik- und Video-Flatrate. Das heißt, an dem, was wir über die Flatrate einnehmen, verdient die komplette Film- und Musikindustrie. UND: Da wir Marktführer und Monopolist sein werden, da nur wir diese Verträge haben, können wir auch Werbung schalten und zusätzlich verdienen. Wie immer zeichnen wir die Nutzerdaten auf, schauen uns an: Was für Filme sieht dieser Mensch, was für eine Musik hört er, ein Algorithmus berechnet, was diesen Menschen außerdem noch gefallen könnte, und dementsprechend platzieren wir die Werbung. Und da das ganze noch mit dem Lemuria-Profil verknüpft ist, können die Freunde dieses Menschen sehen, was er gerade für Filme sieht, was er für Musik hört, und außerdem können wir die Daten sammeln und sie der Filmindustrie zur Verfügung stellen. Dann wissen die wieder, welche Filme am besten ankommen. Und so profitiert jeder von uns. Und diese ganze Urheberrechtsdiskussion von heute ist morgen schon kalter Kaffee.”
Diesmal war es nicht nur Höflichkeitsapplaus, der durch das Atrium schallte.
“Wenn das klappt, was wir uns vorstellen, dann wird das den Medienkonsum komplett revolutionieren. Die Zeiten der CDs und DVDs sind dann allemal vorbei! Klar, es gibt noch die eine oder andere Skepsis auf Seiten der Rechteinhaber. Aber die werden wir ausräumen können. Unser Ziel ist nahe: Lemuria als Marktführer in allen Bereichen. Wir werden die Nummer eins im Internet sein. Und wir werden das gesamte Wissen der Erde speichern - zum Wohl der Menschheit.”
Der Applaus hätte kaum größer sein können. Hier waren Überzeugungstäter am Werk. Das spürte Andreas. Es war eine Firma mit lauter Verrückten. Die Sorte Mensch, die sich noch spät in der Nacht eine Pizza bestellt, weil sie festgestellt hatte, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hat.
“Aber nun zu einem anderen Thema”, sagte Stefan Busch. “Und das führt uns zurück bis zu den Anfängen dieser Firma und bis zu unserer Firmenphilosophie. Jeder von Ihnen weiß, dass ein Amerikaner mit Namen Peter Mason die Firma Lemuria gegründet hat. Was die wenigsten wissen: Peter Mason hat das Asperger-Syndrom. Als er zwanzig Jahre alt war, stellte er fest, dass er zwar hochintelligent war, dass ihn aber niemand so richtig leiden konnte und dass er kaum soziale Kontakte hatte. Er stellte auch fest, dass er trotz seiner hohen Intelligenz Schwierigkeiten hatte, einen Job zu bekommen. Und schließlich stellte er fest, dass er im Internet keine Probleme hatte, Freunde zu finden. Also beschloss er, ein Netzwerk zu entwickeln, mit dem er Kontakte knüpfen und vor allem diese Kontakte halten konnte. Ihm war es zunächst nicht wichtig, zu wissen, was seine Freunde gerade tun. Er wollte überhaupt erst Freunde haben.”
Also ein Verwandter im Geiste, dachte sich Andreas, und er fragte sich, ob Peter Mason auch die Welt Lemuria besucht hatte und so auf den Namen gekommen war. Auf jeden Fall waren Masons
Bemühungen zumindest teilweise erfolgreich: Andreas hatte viele Freunde, wenn auch nur online.
“Das war der eine Grund, warum er Lemuria gegründet hatte”, fuhr Stefan Busch fort. “Aber es gibt noch einen anderen: Menschen wie ihn in Lohn und Brot zu bringen. Menschen mit Asperger-Syndrom, Menschen mit ADS, klassische Nerds, Hochbegabte, Menschen mit Sozialphobie, kurz: Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt trotz ihres hohen Potenzials nur geringe Chancen hatten - ganz einfach, weil ihnen etwas fehlte, das heute enorm wichtig ist: die so genannten Soft Skills. Menschen, die vielleicht in der Schule gemobbt wurden. Menschen, die nicht immer die Ballkönigin bekamen - manchmal auch überhaupt keine Mädchen. Oder überhaupt keine Jungs - je nachdem. Schüchterne Menschen. Außenseiter. Menschen, die erst lernen müssen, dass sie für diese Gesellschaft enorm wichtig, enorm wertvoll sind. Sein Traum war der Traum einer besseren Welt - und das hat er versucht umzusetzen.”
Starker Applaus. Andreas spürte: Sie waren alle eine große Familie. Sie alle mochten ihre Marotten haben, aber jeder war so, wie er war, etwas ganz besonderes. Seltsam vielleicht. Vielleicht auch für Menschen, die gerade nicht in diesem Atrium saßen, unverständlich. Aber sie arbeiteten alle an etwas Großem, an etwas Besonderem, an der Zukunft.
“Der ganze Witz an der Sache ist: Er wollte nur solche Menschen einstellen, merkte aber schnell, dass das nicht möglich ist”, sagte Stefan Busch. “Im Vertrieb braucht man eben auch Leute, die so ticken, wie die meisten. Klar, da arbeiten auch Verrückte - aber eben anders Verrückte - wenn Sie wissen, was ich meine. Und noch etwas: Wenn wir für die Zukunft arbeiten, dann arbeiten wir für die Zukunft ALLER Menschen. Längst ist Lemuria in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und das heißt: Wir müssen wissen, was normale Menschen wollen, was normale Menschen brauchen. Menschen, die vielleicht nicht die Intelligentesten sind. Aber auch nicht die Dümmsten. Menschen, die es verstehen, geschickt Netzwerke zu knüpfen, die gerne auf Partys gehen, die die Gesellschaft anderer Menschen lieben und die bei anderen Menschen beliebt sind - kurz: Menschen, die das genaue Gegenteil sind von den meisten, die hier arbeiten. Und das kann nur jemand wissen, der zu ihnen gehört. Deshalb möchte ich Ihnen heute eine neue Mitarbeiterin vorstellen. Sie kommt aus der Deutschland-Zentrale und wird Ihre neue Vorgesetzte sein. Dafür kommt Ihr bisheriger Niederlassungsleiter Volker Weiss in die Deutschland-Zentrale. Ihr Name ist Lucía Sánchez, und sie ist hier. Frau Sánchez, ich darf Sie auf die Bühne bitten.”
Andreas glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Die Frau, die jetzt aus der ersten Reihe aufstand und auf die provisorische Bühne ans Rednerpult ging, war Königin Sundari. Die gleichen hüftlangen Haare. Die gleichen braunen Augen. Die gleichen hohen Wangenknochen. Die gleichen vollen Lippen. Sogar die gleichen geschmeidigen Bewegungen. Sie sah nicht nur so aus. Sie WAR es. Es war ein und dieselbe Person. Dessen war sich Andreas sicher.
Und als sie dann an das Mikrofon trat und anfing zu sprechen, bemerkte er, dass Lucía Sánchez auch die selbe Stimme hatte wie Sundari. Nur in einem unterschied sie sich: Sie sprach akzentfreies Deutsch - trotz ihres spanischen Namens.
“Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen”, sagte sie. “Ich will keine großen Worte machen. Ich finde, viele Leute verbringen zu viele nutzlose Zeit mit Reden. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit, und ich finde, dass in den nächsten Wochen und Monaten spannende Aufgaben auf uns warten, auf die ich mich freue. Noch ein paar kurze Worte zu meinem Namen und meinen Aussehen: Ja, ich habe einen Migrationshintergrund, wie man neudeutsch so schön sagt. Ja, meine Eltern sind beide Spanier. Aber ich bin in Deutschland geboren und zur Schule gegangen - also Bildungsinländerin und außerdem EU-Bürgerin. Und vor allem: Ich bin eine Frau - und eure Chefin. Wer ein Problem damit hat, kann gehen. Alle anderen: Auf gute Zusammenarbeit.”
Während die anderen kräftig applaudierten, dachte Andreas nach. Wie war es möglich, dass diese Lucía Sánchez genauso aussah wie Königin Sundari, ja, dass sie sich genauso bewegte und genauso redete? Wie konnte das sein? War es tatsächlich eine und die selbe Person? Hatte sie sich für den bevorstehenden Kampf in seine Welt begeben? Nein, das war unmöglich. Und während seine Kollegen aufstanden und ihren Büros zustrebten, beschloss Andreas, die Antworten auf einige Fragen zu suchen, die ihn derzeit beschäftigten.
Andreas hielt das alles für komplette Zeitverschwendung, und er saß meistens zusammen mit Alexander in einer der letzten Reihen, um die Versammlung irgendwie hinter sich zu bringen.
Die Niederlassung war nicht sonderlich groß. Alles in allem arbeiteten hier siebzig Mitarbeiter an der Zukunft der Menschheit - wie es Lemuria gerne hochtrabend formulierte. Und so fanden auch alle bequem im Atrium Platz. Gerade betrat Volker die Bühne. Auf Twitter und Facebook und natürlich auch auf Lemuria nannte er sich Folkherr und fand das unglaublich witzig. Folkherr war jemand, den man vielleicht eher in der Piratenpartei vermutet hätte als als Leiter einer Niederlassung. Er trug einen Vollbart und lange, braune Haare, die er sich hinten zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Außerdem hatte er eine Brille mit einem dicken, schwarzen Rand und trug fast immer schwarze Kleidung - auch heute, obwohl er sich etwas schicker herausgeputzt hatte. Allein schon daran, dass er ordentlich gepflegt aussah und dass er einen schwarzen Sakko und ein schwarzes Hemd trug, war ersichtlich, dass etwas besonderes in der Luft lag - wie wohl so vieles, was an diesem Tag geschah, etwas besonderes war.
Folkherr betrat die Bühne, ging zielstrebig ans Mikrofon und sagte: “Werte Mitarbeiter!”
Werte Mitarbeiter! Sonst sagte er immer: “Hallo, Leute!” Oder: “Liebe Freunde!” Es war eindeutig was im Busch.
“Werte Mitarbeiter. Heute ist ein ganz besonderer Tag für Lemuria Deutschland - und für diese Niederlassung. Bitte begrüßt mit mir den Leiter von Lemuria Deutschland. Stefan Busch.”
Der Mann, der jetzt die Bühne betrat, war das, was Andreas einen klassischen Krawattenträger nannte. Sein Anzug saß, als sei er darin geboren worden, und er bewegte sich darin wie ein Geschäftsmann, der es gewohnt war, über mehrere hundert Menschen zu befehlen.
“Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Mitarbeiter” sagte er. “Ich will Sie auch nicht lange mit Begrüßungsfloskeln aufhalten. Die Zeit ist knapp bemessen, und Sie haben sicherlich auch einiges zu tun. Gestatten Sie dennoch, dass ich ein paar Worte an Sie richte.”
“Blablabla”, sagte Alexander zu Andreas. Dieser grinste.
“Die aktuellen Zahlen sind verblüffend gut. Daher großes Lob an Sie alle. Im Bereich Soziale Netzwerke haben wir den Marktführer Facebook bald eingeholt. Im Bereich Suchmaschinen ist Google nach wie vor uneinholbar - aber wir sind immerhin schon besser als Bing. Unsere Videoplattform ist ebenfalls die Nummer zwei - auch wenn der Abstand zu YouTube zugegebenermaßen noch recht groß ist. Unsere E-Books-Plattform ist die einzige dieser Art im Web. Und das zahlt sich aus. Wir haben schon mehr E-Books verkauft als Amazon. Im Bereich E-Mail gab es nie einen derartigen Marktführer wie in anderen Bereichen. Ob Yahoo, GMX, Web.de oder Hotmail: Wie Sie wissen, gab es da gleich mehrere, etwa gleich große Anbieter. Die gute Nachricht ist: Mit Lemuria Mail haben wir sie alle eingeholt. Vielleicht weil die E-Mail-Adresse @lemuria.de besonders attraktiv zu sein scheint. Wie dem auch sei, großes Lob. Was besonders gut ankommt, sind unsere GPS-Apps mit Routenplaner, City Guides und so weiter und so weiter. Wo wir noch ein bisschen schwach auf der Brust sind, das sind unsere Online-Magazine. Aber gut, da hier bei Ihnen keine Online-Redakteure arbeiten, kann ich dazu nicht viel sagen.”
Er grinste, als hätte er einen guten Witz gemacht. Dann fuhr er fort: “Wir haben die Saat ausgebracht. Jetzt wird es Zeit, die Ernte einzufahren. Es ist nicht damit getan, dass ein paar Leute bei uns Mitglied sind. Ich will ALLE haben. Ich will, dass es hip ist, bei uns Mitglied zu sein, dass man um uns nicht herum kommt. Ich will, dass Lemuria über kurz oder lang das restliche Internet ablöst. Dass der komplette Informationsaustausch der Welt über unsere Server abläuft!”
Andreas wusste nicht, warum er klatschte und warum all die anderen klatschten. Das klang ihm zu sehr nach Großmachtfantasie. Irgend etwas war hier im Busch. Er musste über das Wortspiel grinsen, als Stefan Busch fortfuhr: “Ein erster Schritt dahin wird sein unsere Mediendatenbank. Wir werden so etwas aufziehen wie den Windows Media Player - nur eben online. Wir stehen gerade in Verhandlungen mit der GEMA und mit Sony und mit Time Warner und den ganzen anderen Medienunternehmen. Wenn wir das durchsetzen können, was wir uns vorgenommen haben, dann wird das richtig fett. Stellen Sie sich vor: eine Plattform, auf der Sie jedes x-beliebige Musikstück und jeden x-beliebigen Film ansehen können, wann immer Sie möchten - und das nicht mit Pay per View - sondern mit Hilfe einer Musik- und Video-Flatrate. Das heißt, an dem, was wir über die Flatrate einnehmen, verdient die komplette Film- und Musikindustrie. UND: Da wir Marktführer und Monopolist sein werden, da nur wir diese Verträge haben, können wir auch Werbung schalten und zusätzlich verdienen. Wie immer zeichnen wir die Nutzerdaten auf, schauen uns an: Was für Filme sieht dieser Mensch, was für eine Musik hört er, ein Algorithmus berechnet, was diesen Menschen außerdem noch gefallen könnte, und dementsprechend platzieren wir die Werbung. Und da das ganze noch mit dem Lemuria-Profil verknüpft ist, können die Freunde dieses Menschen sehen, was er gerade für Filme sieht, was er für Musik hört, und außerdem können wir die Daten sammeln und sie der Filmindustrie zur Verfügung stellen. Dann wissen die wieder, welche Filme am besten ankommen. Und so profitiert jeder von uns. Und diese ganze Urheberrechtsdiskussion von heute ist morgen schon kalter Kaffee.”
Diesmal war es nicht nur Höflichkeitsapplaus, der durch das Atrium schallte.
“Wenn das klappt, was wir uns vorstellen, dann wird das den Medienkonsum komplett revolutionieren. Die Zeiten der CDs und DVDs sind dann allemal vorbei! Klar, es gibt noch die eine oder andere Skepsis auf Seiten der Rechteinhaber. Aber die werden wir ausräumen können. Unser Ziel ist nahe: Lemuria als Marktführer in allen Bereichen. Wir werden die Nummer eins im Internet sein. Und wir werden das gesamte Wissen der Erde speichern - zum Wohl der Menschheit.”
Der Applaus hätte kaum größer sein können. Hier waren Überzeugungstäter am Werk. Das spürte Andreas. Es war eine Firma mit lauter Verrückten. Die Sorte Mensch, die sich noch spät in der Nacht eine Pizza bestellt, weil sie festgestellt hatte, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hat.
“Aber nun zu einem anderen Thema”, sagte Stefan Busch. “Und das führt uns zurück bis zu den Anfängen dieser Firma und bis zu unserer Firmenphilosophie. Jeder von Ihnen weiß, dass ein Amerikaner mit Namen Peter Mason die Firma Lemuria gegründet hat. Was die wenigsten wissen: Peter Mason hat das Asperger-Syndrom. Als er zwanzig Jahre alt war, stellte er fest, dass er zwar hochintelligent war, dass ihn aber niemand so richtig leiden konnte und dass er kaum soziale Kontakte hatte. Er stellte auch fest, dass er trotz seiner hohen Intelligenz Schwierigkeiten hatte, einen Job zu bekommen. Und schließlich stellte er fest, dass er im Internet keine Probleme hatte, Freunde zu finden. Also beschloss er, ein Netzwerk zu entwickeln, mit dem er Kontakte knüpfen und vor allem diese Kontakte halten konnte. Ihm war es zunächst nicht wichtig, zu wissen, was seine Freunde gerade tun. Er wollte überhaupt erst Freunde haben.”
Also ein Verwandter im Geiste, dachte sich Andreas, und er fragte sich, ob Peter Mason auch die Welt Lemuria besucht hatte und so auf den Namen gekommen war. Auf jeden Fall waren Masons
Bemühungen zumindest teilweise erfolgreich: Andreas hatte viele Freunde, wenn auch nur online.
“Das war der eine Grund, warum er Lemuria gegründet hatte”, fuhr Stefan Busch fort. “Aber es gibt noch einen anderen: Menschen wie ihn in Lohn und Brot zu bringen. Menschen mit Asperger-Syndrom, Menschen mit ADS, klassische Nerds, Hochbegabte, Menschen mit Sozialphobie, kurz: Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt trotz ihres hohen Potenzials nur geringe Chancen hatten - ganz einfach, weil ihnen etwas fehlte, das heute enorm wichtig ist: die so genannten Soft Skills. Menschen, die vielleicht in der Schule gemobbt wurden. Menschen, die nicht immer die Ballkönigin bekamen - manchmal auch überhaupt keine Mädchen. Oder überhaupt keine Jungs - je nachdem. Schüchterne Menschen. Außenseiter. Menschen, die erst lernen müssen, dass sie für diese Gesellschaft enorm wichtig, enorm wertvoll sind. Sein Traum war der Traum einer besseren Welt - und das hat er versucht umzusetzen.”
Starker Applaus. Andreas spürte: Sie waren alle eine große Familie. Sie alle mochten ihre Marotten haben, aber jeder war so, wie er war, etwas ganz besonderes. Seltsam vielleicht. Vielleicht auch für Menschen, die gerade nicht in diesem Atrium saßen, unverständlich. Aber sie arbeiteten alle an etwas Großem, an etwas Besonderem, an der Zukunft.
“Der ganze Witz an der Sache ist: Er wollte nur solche Menschen einstellen, merkte aber schnell, dass das nicht möglich ist”, sagte Stefan Busch. “Im Vertrieb braucht man eben auch Leute, die so ticken, wie die meisten. Klar, da arbeiten auch Verrückte - aber eben anders Verrückte - wenn Sie wissen, was ich meine. Und noch etwas: Wenn wir für die Zukunft arbeiten, dann arbeiten wir für die Zukunft ALLER Menschen. Längst ist Lemuria in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und das heißt: Wir müssen wissen, was normale Menschen wollen, was normale Menschen brauchen. Menschen, die vielleicht nicht die Intelligentesten sind. Aber auch nicht die Dümmsten. Menschen, die es verstehen, geschickt Netzwerke zu knüpfen, die gerne auf Partys gehen, die die Gesellschaft anderer Menschen lieben und die bei anderen Menschen beliebt sind - kurz: Menschen, die das genaue Gegenteil sind von den meisten, die hier arbeiten. Und das kann nur jemand wissen, der zu ihnen gehört. Deshalb möchte ich Ihnen heute eine neue Mitarbeiterin vorstellen. Sie kommt aus der Deutschland-Zentrale und wird Ihre neue Vorgesetzte sein. Dafür kommt Ihr bisheriger Niederlassungsleiter Volker Weiss in die Deutschland-Zentrale. Ihr Name ist Lucía Sánchez, und sie ist hier. Frau Sánchez, ich darf Sie auf die Bühne bitten.”
Andreas glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Die Frau, die jetzt aus der ersten Reihe aufstand und auf die provisorische Bühne ans Rednerpult ging, war Königin Sundari. Die gleichen hüftlangen Haare. Die gleichen braunen Augen. Die gleichen hohen Wangenknochen. Die gleichen vollen Lippen. Sogar die gleichen geschmeidigen Bewegungen. Sie sah nicht nur so aus. Sie WAR es. Es war ein und dieselbe Person. Dessen war sich Andreas sicher.
Und als sie dann an das Mikrofon trat und anfing zu sprechen, bemerkte er, dass Lucía Sánchez auch die selbe Stimme hatte wie Sundari. Nur in einem unterschied sie sich: Sie sprach akzentfreies Deutsch - trotz ihres spanischen Namens.
“Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen”, sagte sie. “Ich will keine großen Worte machen. Ich finde, viele Leute verbringen zu viele nutzlose Zeit mit Reden. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit, und ich finde, dass in den nächsten Wochen und Monaten spannende Aufgaben auf uns warten, auf die ich mich freue. Noch ein paar kurze Worte zu meinem Namen und meinen Aussehen: Ja, ich habe einen Migrationshintergrund, wie man neudeutsch so schön sagt. Ja, meine Eltern sind beide Spanier. Aber ich bin in Deutschland geboren und zur Schule gegangen - also Bildungsinländerin und außerdem EU-Bürgerin. Und vor allem: Ich bin eine Frau - und eure Chefin. Wer ein Problem damit hat, kann gehen. Alle anderen: Auf gute Zusammenarbeit.”
Während die anderen kräftig applaudierten, dachte Andreas nach. Wie war es möglich, dass diese Lucía Sánchez genauso aussah wie Königin Sundari, ja, dass sie sich genauso bewegte und genauso redete? Wie konnte das sein? War es tatsächlich eine und die selbe Person? Hatte sie sich für den bevorstehenden Kampf in seine Welt begeben? Nein, das war unmöglich. Und während seine Kollegen aufstanden und ihren Büros zustrebten, beschloss Andreas, die Antworten auf einige Fragen zu suchen, die ihn derzeit beschäftigten.
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 10. Mai 2013
00001110 - Wir sind überall!
mercury mailer, 21:21h
Jetzt hing er wieder vor seiner Nase. Doch diesmal sagte er nicht “Guten Appetit!” Diesmal sagte er gar nichts. Er hing einfach an der Wand der U-Bahn-Station und verkündete, dass er heute kommen würde. Für Andreas klang es wie eine Drohung. Warum wollte er trotzdem dorthin? Warum zog ihn irgendetwas unwiderstehlich zu dieser Vortragsveranstaltung, obwohl er genau wusste, dass sie ihm nicht gefallen würde?
Auch wenn er bisherigen Klassentreffen fern geblieben war, so musste er sich endlich eingestehen, dass es Menschen gab, die erfolgreicher waren als er - sogar sehr viele Menschen. Was war denn das für ein Erfolg, bei einem Software-Unternehmen als Entwickler und Programmierer zu arbeiten? Wenn man Informatik studiert hatte? Ausgerechnet derjenige, der ihn am meisten schikaniert hatte, war der einzige seiner Klasse, der einen eigenen Wikipedia-Artikel hatte. Andreas hatte das am vergangenen Abend nachgeprüft. Dieser Vollidiot! Arschloch!
Allerdings: Das war nicht das einzige, was ihn an diesem Morgen in der U-Bahn-Station störte. Da war noch etwas anderes. Etwas lag in der Luft. Und es war nicht dieser ozonartige Geruch, der verbreitet wurde, wann immer eine U-Bahn einfuhr. Es war nicht der Schweißgeruch von Tausenden von Menschen, die sich im Berufsverkehr in die Bahn drängten. Es war nicht der Geruch nach Alkohol, der noch von der vergangenen Nacht übrig war. Da war noch etwas anderes, das an diesem Morgen schwer in der Luft hing.
Er dachte an Sundari und an ihre Warnung. Sie wollten ihn töten, hatte sie gesagt. Und sie seien auch in seiner eigenen Welt. Aber wer waren sie? Gab es noch andere außer ihm, die von Lemuria wussten? War es ein Zufall, dass sein Arbeitgeber auch Lemuria hieß?
Nicht weit von ihm entfernt saß ein Mann in einem schwarzen Mantel. Er trug einen Dreitagebart und eine Sonnenbrille. Er las den Express, den es an jeder Straßenecke in diesen Automaten zu kaufen gab. Aber immer wieder schaute er zu ihm hinüber. Jetzt galt äußerste Wachsamkeit. Aber was konnte er schon tun? Was sollte er tun, wenn er plötzlich ein Maschinengewehr zückte, so wie in diesen Terminator-Filmen? “Sind Sie Andreas Held? Ich komme aus einer anderen Welt, und Sie müssen sterben!” Die Na’e Vykati. Die einen Dämon beschwören wollten, der vielleicht schon längst da war. Was sollte er tun, wenn er ihn plötzlich angriff? Er wusste, was er in Lemuria tun würde. Den Angriff parieren und ihm die Waffe aus der Hand schlagen. Aber hier war das leider nicht so einfach. In diesem Spiel war der Schwierigkeitsgrad etwas nach oben gesetzt - und er hatte nur ein Leben.
Endlich fuhr der Zug ein, der ihn zur Arbeit bringen sollte. Andreas atmete auf. Endlich konnte er weg. Weg von diesem Robert-Jens-Plakat und weg von diesem Terminator-Matrix-Typen.
Quietschend hielt der Zug, und Menschentrauben bewegten sich auf ihn zu. Innen standen sie wieder dicht gedrängt und zusammen gequetscht wie Teenager auf einem Justin Bieber-Konzert. Andreas hasste das. Dieser Körperkontakt mit wildfremden Menschen jeden Morgen machte ihn noch ganz kirre.
Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der Mann mit der Sonnenbrille aufstand und die Zeitung zusammenfaltete, als wäre sie eine Tischdecke. Dann ging er auf die Bahn zu, als könnte ihm nichts und niemanden etwas anhaben. Sollte er vielleicht doch ein Maschinengewehr aus dem Mantel holen und einfach um sich schießen - ein wilder Amoklauf in der U-Bahn als Vorwand, um einen unliebsamen Gott loszuwerden?
Nein. Wenn er das laut sagen würde, würden sie ihn abholen. Und dann ab mit ihm in die Geschlossene. Er sah eindeutig zu viele Filme. Dieser Mann war vielleicht harmlos. Auch wenn er nicht den Eindruck machte. Ganz und gar nicht. Wie ein Geheimagent, der die Unauffälligkeit noch üben musste.
Andreas reihte sich ein in die Traube, die in die U-Bahn drängte, und er wurde von der Körperwärme und den Ausdünstungen der anderen Fahrgäste empfangen. Demonstrativ desinteressiert schauten sie zur Seite oder auf den Boden. Manche kauten Kaugummi, andere setzten auf ihrem iPhone ein Tweet ab, wieder andere hatte die Kopfhörer ihrer iPods in den Ohren. Die Bahn setzte sich in Bewegung, und Andreas sah, wie der Mann mit der Sonnenbrille auf ihn zukam. Er hatte ein kantiges Gesicht. Markantes Kinn, markante Nase. Auf keinen Fall unauffällig. Jetzt erst fielen Andreas seine schwarzen Handschuhe auf. Ihm fiel noch ein weiterer Film ein. Men in Black.
Aber nein, das hier war kein Film. Es war auch kein Traum. Es war echt.
Der Mann kämpfte sich durch die Menschenmenge. Andreas hatte ein mulmiges Gefühl. Er wollte weg. Nur weg. Auch er fing an, sich zwischen den Rücken der stehenden Menschen hindurch zu kämpfen. Schritt für Schritt. Schon kam Mr. Smith näher. Der Wagen fuhr quietschend um eine Kurve, und Andreas hatte seine Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ganz anders der Mann mit der Sonnenbrille. Fehlte tatsächlich nur noch das Maschinengewehr.
Aber würde er das wirklich tun? Im Berufsverkehr, wenn es zig Zeugen gab? Nein, sie würden ihn provozieren, in eine dunkle Gasse zu gehen - irgendwo in einem der letzten Hinterhofviertel der Stadt. Sie würden ihn dorthin führen, wo ihn niemand sehen konnte. Wo niemand sein Schreien hörte. Aber sie würden ihn auf keinen Fall vor aller Augen abschlachten. Nein, sie, wer auch immer sie waren, bezweckten damit etwas ganz anderes. Und er wollte auf keinen Fall, dass sie bekamen, was sie wollten - was immer es auch war.
“Sathi!” flüsterte er in seiner Verzweiflung. “Sathi, hilf mir!”
Aber Sathi blieb verschwunden. Wahrscheinlich schlief er gerade. Kein Wunder, in Lemuria war es auch Nacht.
Jetzt war der Mann nicht mehr weit. Bald würde er kein Maschinengewehr mehr benötigen. Ein Messer würde vollkommen ausreichen. Einmal den Dolch in den Rücken gestoßen, wenn niemand hinsah, und schon würde in der U-Bahn eine Leiche mitfahren. Andreas hatte Angst - und wie immer, wenn er Angst hatte, spielte er mit seinen Fingern. Er verwurstelte und verknotete sie, machte Verrenkungen, die niemand sonst konnte (Er selber war ganz verblüfft darüber, dass von seinen Kollegen niemand mit seinen Fingern so flattern konnte, dass der Ringfinger knallend auf den Daumen oder Daumenknöchel schlug.).
Dann endlich, als der Mann nur noch nach ihm zu greifen brauchte, fuhr der Zug in die nächste U-Bahn-Station ein. Andreas quetschte sich nach draußen und stand auf dem Bahnsteig. Doch der Mann folgte ihm nicht. Er ging an das Fenster rechts des Ausgangs, durch den Andreas soeben nach draußen entwischt war. Dann nahm er seine Sonnenbrille ab und schaute ihn nur kurz an. Kurz genug für Andreas, um zu erkennen, dass seine Augen schwarz waren. Komplett schwarz. Sogar das, was bei allen anderen Menschen weiß ist. Andreas erschauerte.
Noch während der Zug wieder los fuhr, hob der Mann ein Blatt Papier hoch und hielt es gegen die Scheibe. Andreas las:
WIR SIND
ÜBERALL !!!
Dann stand er zusammen mit den anderen Reisenden auf einem Bahnsteig, auf den er nicht wollte. Und mit einem eisigen Schauer dachte er: Wenn dieser Mann ihn hätte töten wollen, so hätte er es bereits getan. Andreas hatte gegen sie - wer auch immer sie waren - keine Chance.
Auch wenn er bisherigen Klassentreffen fern geblieben war, so musste er sich endlich eingestehen, dass es Menschen gab, die erfolgreicher waren als er - sogar sehr viele Menschen. Was war denn das für ein Erfolg, bei einem Software-Unternehmen als Entwickler und Programmierer zu arbeiten? Wenn man Informatik studiert hatte? Ausgerechnet derjenige, der ihn am meisten schikaniert hatte, war der einzige seiner Klasse, der einen eigenen Wikipedia-Artikel hatte. Andreas hatte das am vergangenen Abend nachgeprüft. Dieser Vollidiot! Arschloch!
Allerdings: Das war nicht das einzige, was ihn an diesem Morgen in der U-Bahn-Station störte. Da war noch etwas anderes. Etwas lag in der Luft. Und es war nicht dieser ozonartige Geruch, der verbreitet wurde, wann immer eine U-Bahn einfuhr. Es war nicht der Schweißgeruch von Tausenden von Menschen, die sich im Berufsverkehr in die Bahn drängten. Es war nicht der Geruch nach Alkohol, der noch von der vergangenen Nacht übrig war. Da war noch etwas anderes, das an diesem Morgen schwer in der Luft hing.
Er dachte an Sundari und an ihre Warnung. Sie wollten ihn töten, hatte sie gesagt. Und sie seien auch in seiner eigenen Welt. Aber wer waren sie? Gab es noch andere außer ihm, die von Lemuria wussten? War es ein Zufall, dass sein Arbeitgeber auch Lemuria hieß?
Nicht weit von ihm entfernt saß ein Mann in einem schwarzen Mantel. Er trug einen Dreitagebart und eine Sonnenbrille. Er las den Express, den es an jeder Straßenecke in diesen Automaten zu kaufen gab. Aber immer wieder schaute er zu ihm hinüber. Jetzt galt äußerste Wachsamkeit. Aber was konnte er schon tun? Was sollte er tun, wenn er plötzlich ein Maschinengewehr zückte, so wie in diesen Terminator-Filmen? “Sind Sie Andreas Held? Ich komme aus einer anderen Welt, und Sie müssen sterben!” Die Na’e Vykati. Die einen Dämon beschwören wollten, der vielleicht schon längst da war. Was sollte er tun, wenn er ihn plötzlich angriff? Er wusste, was er in Lemuria tun würde. Den Angriff parieren und ihm die Waffe aus der Hand schlagen. Aber hier war das leider nicht so einfach. In diesem Spiel war der Schwierigkeitsgrad etwas nach oben gesetzt - und er hatte nur ein Leben.
Endlich fuhr der Zug ein, der ihn zur Arbeit bringen sollte. Andreas atmete auf. Endlich konnte er weg. Weg von diesem Robert-Jens-Plakat und weg von diesem Terminator-Matrix-Typen.
Quietschend hielt der Zug, und Menschentrauben bewegten sich auf ihn zu. Innen standen sie wieder dicht gedrängt und zusammen gequetscht wie Teenager auf einem Justin Bieber-Konzert. Andreas hasste das. Dieser Körperkontakt mit wildfremden Menschen jeden Morgen machte ihn noch ganz kirre.
Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der Mann mit der Sonnenbrille aufstand und die Zeitung zusammenfaltete, als wäre sie eine Tischdecke. Dann ging er auf die Bahn zu, als könnte ihm nichts und niemanden etwas anhaben. Sollte er vielleicht doch ein Maschinengewehr aus dem Mantel holen und einfach um sich schießen - ein wilder Amoklauf in der U-Bahn als Vorwand, um einen unliebsamen Gott loszuwerden?
Nein. Wenn er das laut sagen würde, würden sie ihn abholen. Und dann ab mit ihm in die Geschlossene. Er sah eindeutig zu viele Filme. Dieser Mann war vielleicht harmlos. Auch wenn er nicht den Eindruck machte. Ganz und gar nicht. Wie ein Geheimagent, der die Unauffälligkeit noch üben musste.
Andreas reihte sich ein in die Traube, die in die U-Bahn drängte, und er wurde von der Körperwärme und den Ausdünstungen der anderen Fahrgäste empfangen. Demonstrativ desinteressiert schauten sie zur Seite oder auf den Boden. Manche kauten Kaugummi, andere setzten auf ihrem iPhone ein Tweet ab, wieder andere hatte die Kopfhörer ihrer iPods in den Ohren. Die Bahn setzte sich in Bewegung, und Andreas sah, wie der Mann mit der Sonnenbrille auf ihn zukam. Er hatte ein kantiges Gesicht. Markantes Kinn, markante Nase. Auf keinen Fall unauffällig. Jetzt erst fielen Andreas seine schwarzen Handschuhe auf. Ihm fiel noch ein weiterer Film ein. Men in Black.
Aber nein, das hier war kein Film. Es war auch kein Traum. Es war echt.
Der Mann kämpfte sich durch die Menschenmenge. Andreas hatte ein mulmiges Gefühl. Er wollte weg. Nur weg. Auch er fing an, sich zwischen den Rücken der stehenden Menschen hindurch zu kämpfen. Schritt für Schritt. Schon kam Mr. Smith näher. Der Wagen fuhr quietschend um eine Kurve, und Andreas hatte seine Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ganz anders der Mann mit der Sonnenbrille. Fehlte tatsächlich nur noch das Maschinengewehr.
Aber würde er das wirklich tun? Im Berufsverkehr, wenn es zig Zeugen gab? Nein, sie würden ihn provozieren, in eine dunkle Gasse zu gehen - irgendwo in einem der letzten Hinterhofviertel der Stadt. Sie würden ihn dorthin führen, wo ihn niemand sehen konnte. Wo niemand sein Schreien hörte. Aber sie würden ihn auf keinen Fall vor aller Augen abschlachten. Nein, sie, wer auch immer sie waren, bezweckten damit etwas ganz anderes. Und er wollte auf keinen Fall, dass sie bekamen, was sie wollten - was immer es auch war.
“Sathi!” flüsterte er in seiner Verzweiflung. “Sathi, hilf mir!”
Aber Sathi blieb verschwunden. Wahrscheinlich schlief er gerade. Kein Wunder, in Lemuria war es auch Nacht.
Jetzt war der Mann nicht mehr weit. Bald würde er kein Maschinengewehr mehr benötigen. Ein Messer würde vollkommen ausreichen. Einmal den Dolch in den Rücken gestoßen, wenn niemand hinsah, und schon würde in der U-Bahn eine Leiche mitfahren. Andreas hatte Angst - und wie immer, wenn er Angst hatte, spielte er mit seinen Fingern. Er verwurstelte und verknotete sie, machte Verrenkungen, die niemand sonst konnte (Er selber war ganz verblüfft darüber, dass von seinen Kollegen niemand mit seinen Fingern so flattern konnte, dass der Ringfinger knallend auf den Daumen oder Daumenknöchel schlug.).
Dann endlich, als der Mann nur noch nach ihm zu greifen brauchte, fuhr der Zug in die nächste U-Bahn-Station ein. Andreas quetschte sich nach draußen und stand auf dem Bahnsteig. Doch der Mann folgte ihm nicht. Er ging an das Fenster rechts des Ausgangs, durch den Andreas soeben nach draußen entwischt war. Dann nahm er seine Sonnenbrille ab und schaute ihn nur kurz an. Kurz genug für Andreas, um zu erkennen, dass seine Augen schwarz waren. Komplett schwarz. Sogar das, was bei allen anderen Menschen weiß ist. Andreas erschauerte.
Noch während der Zug wieder los fuhr, hob der Mann ein Blatt Papier hoch und hielt es gegen die Scheibe. Andreas las:
WIR SIND
ÜBERALL !!!
Dann stand er zusammen mit den anderen Reisenden auf einem Bahnsteig, auf den er nicht wollte. Und mit einem eisigen Schauer dachte er: Wenn dieser Mann ihn hätte töten wollen, so hätte er es bereits getan. Andreas hatte gegen sie - wer auch immer sie waren - keine Chance.
... link (0 Kommentare) ... comment
Donnerstag, 9. Mai 2013
00001101 - Guten Appetit!
mercury mailer, 22:22h
Wenn Andreas an Robert Jens dachte, dann hatte er vor allem ein Bild im Auge. Robert Jens, der grinsend sein Gesicht über ihn gebeugt hatte und eine halbvolle Kakaotüte nach ihm warf, während er feixend “Guten Appetit!” brüllte - begleitet von dem Gelächter seiner anderen Schulkameraden. Andreas saß in einem dieser Müllcontainer, von denen einige im Pausenhof standen. Das waren metallene Container, die man rollen, öffnen und schließen konnte. Die Schüler konnten dort die Reste ihrer Pausenbrote entsorgen. Auf der anderen Seite dienten sie als Sammelbehältnis für die überall herumstehenden kleineren Abfalleimer aus Drahtgitter. Der Hausmeister - und gegebenfalls der eine oder andere Schüler, der aufgrund von Fehlverhalten dazu verdonnert wurde, leerte die Abfalleimer aus, und der Inhalt landete in eben einem dieser Container, bevor sie alle einmal in der Woche von der Müllabfuhr abgeholt wurden.
So etwas wie Mülltrennung gab es damals noch nicht. Alles landete in den gleichen Containern: die Frischhaltefolie, mit denen die Pausenbrote eingewickelt waren, die Kakaotüten, die es beim Hausmeister zu kaufen gab, Glasflaschen mit Wasser, Cola und Limonade, Essensreste, aber auch Rotzfahnen oder manchmal auch Hundescheiße, die jemand mit Hilfe eines Taschentuchs aufgehoben und dort entsorgt hatte. Einige Schüler hatten sogar hinein gekotzt.
Es war das alte Schauspiel - ein Stück, das nach seiner Premiere über die Spielzeiten hinweg immer erneut aufgrund seiner großen Beliebtheit eine Wiederholung erfuhr: Robert und einige andere packten Andreas, trugen ihn quer durch den Schulhof und warfen ihn in die Mülltonne. Er landete unsanft auf einigen Getränkedosen, Safttüten und Einwegflaschen. Ein strenger Geruch verriet ihm, dass auch halbverdorbenes Fleisch und Hundescheiße nicht weit waren. Jemand machte den Deckel zu, und Andreas saß in der Falle. In einer äußerst dunklen und ungemütlichen Falle. Er versuchte, den Deckel zu öffnen, doch es gelang ihm nicht. Offenbar wurde er von außen zugehalten. Draußen johlten die Jungs aus seiner Klasse fröhlich.
Je länger Andreas in seinem metallenen Gefängnis saß, desto mulmiger wurde ihm zumute. Es roch entsetzlich, und langsam hatte er Angst, keine Luft mehr zu bekommen. Andreas rief um Hilfe, aber das rief nur weiteres Gelächter seiner Schulkameraden hervor. Er geriet in Panik, bommerte wie wild gegen die Wand des Containers. Er war allein in der stinkenden Finsternis.
Dann endlich öffnete sich die Klappe, und er sah Robert, sah sein grinsendes Gesicht. Wenn er gekonnt hätte, hätte er ihm eine reingeschlagen. Aber er wusste genau, was dann passiert wäre: Robert hätte es nichts ausgemacht. Er hätte weiter gegrinst und dann Andreas eine reingeschlagen. Weil er so schwach war. Weil man es mit ihm machen konnte. Und weil er anders war. Egal, so war das Leben eben. So was nannte man Evolution. Das Überleben der Tüchtigsten. Oder der Stärksten, der Schnellsten, was auch immer. Natürliche Selektion. Deshalb hatte er auch später nie die Frauen abbekommen, während sich Robert nicht einmal bemühen musste. Robert war ein Gewinner, Andreas ein Verlierer. Das Leben konnte so ungerecht sein.
Jetzt blickte Robert auf Andreas herab wie ein Fürst, vor dem einer seiner Leibeigenen im Dreck lag. Er grinste schadenfroh, als hätte es Andreas nicht anders verdient. Und noch bevor der Gedemütigte irgend etwas unternehmen konnte, um den Container wieder zu verlassen, warf Robert die halbvolle Kakaotüte nach ihm. “Guten Appetit”, sagte er. Natürlich patschte die Kakaotüte genau auf Andreas’ Winterjacke. Und er spürte mehr als dass er sah, wie die braune Flüssigkeit sich über seine Jacke verteilte wie die flüssigen Exkremente eines Darmkranken. Ein Gefühl von Ekel stieg in ihm hoch, als der Kakaogeruch an seine Nase drang. Andreas hasste Kakao. Er wusste nicht warum, aber es war so. Manche Nahrungsmittel - wie beispielsweise Eier oder Kakao - erregten bei ihm so viel Ekel, dass er kotzen musste. Auch jetzt war ihm wieder danach. Er versuchte, den Container zu öffnen, aber es gelang ihm nicht. Wieder hielt jemand den Deckel zu.
“Trink erst mal deinen Kakao!” rief Robert. Er sprach es Kaka-o aus.
Andreas spürte, wie es ihm schlecht wurde, wie es ihm hochkam. Schon hatte er das flaue Gefühl im Magen, das er immer hatte, kurz bevor es so weit war. Dann kroch schon die ekelhaft schmeckende Kotze die Speiseröhre nach oben. Er schmeckte sie in seinem Rachen, er schmeckte sie in seinem Mund - mehr aus Reflex als durch bewusste Entscheidung öffnete er ihn und entließ die sauer schmeckende Brühe dorthin, wo ganz andere ekelhafte Dinge lagen.
Dann spürte er, wie sie anfingen, den Container durch den Schulhof zu rollen. Sie wollten ihn und den Müll durcheinanderwirbeln. Das gelang ihnen aber nur bedingt. Zwar landete durchaus die eine oder andere Rotzfahne, das eine oder andere Stück Papier, die eine oder andere Getränketüte in seinem Schoß. Doch glücklicherweise blieb seine Kotze dort, wo sie war. Andreas wurde noch übler. Ein zweites Mal entleerte er seinen Magen durch die Vordertür.
Endlich ertönte der Schulgong und erlöste Andreas von seinem Leiden. Müde kletterte er aus dem Container und setzte sich draußen daneben, während er zusah, wie die Schüler wieder in dem Gebäude verschwanden. Er würde sich krank melden. Ja, er würde ins Schulsekretariat gehen und sagen, er habe eine Magenstimmung. Immerhin hatte er erbrechen müssen. Und jetzt fühlte er sich schwach auf den Beinen. Man hatte ihn gemobbt. Vor allem einer hatte ihn gemobbt: Robert Jens, der größte Rabauke der Klasse. Andreas beschloss, dafür zu sorgen, dass er Ärger bekam. Und zwar gewaltigen. Und wie ein böser Geist hing das Gesicht vor seiner Nase. Robert, der mit der Kakaotüte nach ihm warf und “Guten Appetit!” sagte.
So etwas wie Mülltrennung gab es damals noch nicht. Alles landete in den gleichen Containern: die Frischhaltefolie, mit denen die Pausenbrote eingewickelt waren, die Kakaotüten, die es beim Hausmeister zu kaufen gab, Glasflaschen mit Wasser, Cola und Limonade, Essensreste, aber auch Rotzfahnen oder manchmal auch Hundescheiße, die jemand mit Hilfe eines Taschentuchs aufgehoben und dort entsorgt hatte. Einige Schüler hatten sogar hinein gekotzt.
Es war das alte Schauspiel - ein Stück, das nach seiner Premiere über die Spielzeiten hinweg immer erneut aufgrund seiner großen Beliebtheit eine Wiederholung erfuhr: Robert und einige andere packten Andreas, trugen ihn quer durch den Schulhof und warfen ihn in die Mülltonne. Er landete unsanft auf einigen Getränkedosen, Safttüten und Einwegflaschen. Ein strenger Geruch verriet ihm, dass auch halbverdorbenes Fleisch und Hundescheiße nicht weit waren. Jemand machte den Deckel zu, und Andreas saß in der Falle. In einer äußerst dunklen und ungemütlichen Falle. Er versuchte, den Deckel zu öffnen, doch es gelang ihm nicht. Offenbar wurde er von außen zugehalten. Draußen johlten die Jungs aus seiner Klasse fröhlich.
Je länger Andreas in seinem metallenen Gefängnis saß, desto mulmiger wurde ihm zumute. Es roch entsetzlich, und langsam hatte er Angst, keine Luft mehr zu bekommen. Andreas rief um Hilfe, aber das rief nur weiteres Gelächter seiner Schulkameraden hervor. Er geriet in Panik, bommerte wie wild gegen die Wand des Containers. Er war allein in der stinkenden Finsternis.
Dann endlich öffnete sich die Klappe, und er sah Robert, sah sein grinsendes Gesicht. Wenn er gekonnt hätte, hätte er ihm eine reingeschlagen. Aber er wusste genau, was dann passiert wäre: Robert hätte es nichts ausgemacht. Er hätte weiter gegrinst und dann Andreas eine reingeschlagen. Weil er so schwach war. Weil man es mit ihm machen konnte. Und weil er anders war. Egal, so war das Leben eben. So was nannte man Evolution. Das Überleben der Tüchtigsten. Oder der Stärksten, der Schnellsten, was auch immer. Natürliche Selektion. Deshalb hatte er auch später nie die Frauen abbekommen, während sich Robert nicht einmal bemühen musste. Robert war ein Gewinner, Andreas ein Verlierer. Das Leben konnte so ungerecht sein.
Jetzt blickte Robert auf Andreas herab wie ein Fürst, vor dem einer seiner Leibeigenen im Dreck lag. Er grinste schadenfroh, als hätte es Andreas nicht anders verdient. Und noch bevor der Gedemütigte irgend etwas unternehmen konnte, um den Container wieder zu verlassen, warf Robert die halbvolle Kakaotüte nach ihm. “Guten Appetit”, sagte er. Natürlich patschte die Kakaotüte genau auf Andreas’ Winterjacke. Und er spürte mehr als dass er sah, wie die braune Flüssigkeit sich über seine Jacke verteilte wie die flüssigen Exkremente eines Darmkranken. Ein Gefühl von Ekel stieg in ihm hoch, als der Kakaogeruch an seine Nase drang. Andreas hasste Kakao. Er wusste nicht warum, aber es war so. Manche Nahrungsmittel - wie beispielsweise Eier oder Kakao - erregten bei ihm so viel Ekel, dass er kotzen musste. Auch jetzt war ihm wieder danach. Er versuchte, den Container zu öffnen, aber es gelang ihm nicht. Wieder hielt jemand den Deckel zu.
“Trink erst mal deinen Kakao!” rief Robert. Er sprach es Kaka-o aus.
Andreas spürte, wie es ihm schlecht wurde, wie es ihm hochkam. Schon hatte er das flaue Gefühl im Magen, das er immer hatte, kurz bevor es so weit war. Dann kroch schon die ekelhaft schmeckende Kotze die Speiseröhre nach oben. Er schmeckte sie in seinem Rachen, er schmeckte sie in seinem Mund - mehr aus Reflex als durch bewusste Entscheidung öffnete er ihn und entließ die sauer schmeckende Brühe dorthin, wo ganz andere ekelhafte Dinge lagen.
Dann spürte er, wie sie anfingen, den Container durch den Schulhof zu rollen. Sie wollten ihn und den Müll durcheinanderwirbeln. Das gelang ihnen aber nur bedingt. Zwar landete durchaus die eine oder andere Rotzfahne, das eine oder andere Stück Papier, die eine oder andere Getränketüte in seinem Schoß. Doch glücklicherweise blieb seine Kotze dort, wo sie war. Andreas wurde noch übler. Ein zweites Mal entleerte er seinen Magen durch die Vordertür.
Endlich ertönte der Schulgong und erlöste Andreas von seinem Leiden. Müde kletterte er aus dem Container und setzte sich draußen daneben, während er zusah, wie die Schüler wieder in dem Gebäude verschwanden. Er würde sich krank melden. Ja, er würde ins Schulsekretariat gehen und sagen, er habe eine Magenstimmung. Immerhin hatte er erbrechen müssen. Und jetzt fühlte er sich schwach auf den Beinen. Man hatte ihn gemobbt. Vor allem einer hatte ihn gemobbt: Robert Jens, der größte Rabauke der Klasse. Andreas beschloss, dafür zu sorgen, dass er Ärger bekam. Und zwar gewaltigen. Und wie ein böser Geist hing das Gesicht vor seiner Nase. Robert, der mit der Kakaotüte nach ihm warf und “Guten Appetit!” sagte.
... link (0 Kommentare) ... comment
Mittwoch, 8. Mai 2013
00001100 - Wochenende
mercury mailer, 22:32h
Andreas war kaum eingeschlafen, als er wieder in seiner eigenen Wohnung erwachte. Als wäre nichts gewesen. Als wäre sein erster Ausflug nach Lemuria seit zwanzig Jahren ein Traum gewesen. Doch hatte er sich bislang jeden Morgen wie erschlagen gefühlt und als allererstes immer eine Tasse Kaffee gebraucht, so fühlte er sich diesmal so wach und frisch wie nie zuvor. Munter sprang er aus dem Bett und riss den Rollladen so weit auf, dass er durch die Spalten nach draußen sehen konnte. Es war ein wunderschöner Tag. Der Himmel war blau, die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und ein Gefühl des Erwachens, des Aufbruchs lag in der Luft. Das Leben war schön, und nach diesem Freitag würde ihn das Wochenende erwarten. Zwei Tage Ruhe und Frieden. Vielleicht würde er in den Park gehen, um sich etwas auszuspannen. Vielleicht an den Fluss, um ein wenig spazierenzugehen. Vielleicht aber auch in eines der unzähligen Museen der Stadt. Er kannte noch nicht alle. Oder aber er würde ins Straßencafé gehen. Schauen, ob er vielleicht doch noch eine Frau abbekäme. Nein, er war zu alt dafür. Die Frauen, die für Flirts empfänglich waren, waren wesentlich jünger.
Er stieg unter die Dusche und ließ das Wasser an seinem Körper herablaufen. Er mochte das Gefühl von Wasser auf seiner Haut - sofern es warm und kein Regen war. Heute noch mal arbeiten und am Abend dann auf den Vortrag. Normalerweise stellte er sich so etwas nicht unter einer angenehmen Abendgestaltung vor. Aber dafür interessierte ihn der Vortrag schon zu sehr. Er war gespannt, was dieser Robert Jens alles zu sagen hatte, und er würde sich den Vortrag auf keinen Fall entgehen lassen. Dieses Arschloch.
Er stieg unter die Dusche und ließ das Wasser an seinem Körper herablaufen. Er mochte das Gefühl von Wasser auf seiner Haut - sofern es warm und kein Regen war. Heute noch mal arbeiten und am Abend dann auf den Vortrag. Normalerweise stellte er sich so etwas nicht unter einer angenehmen Abendgestaltung vor. Aber dafür interessierte ihn der Vortrag schon zu sehr. Er war gespannt, was dieser Robert Jens alles zu sagen hatte, und er würde sich den Vortrag auf keinen Fall entgehen lassen. Dieses Arschloch.
... link (0 Kommentare) ... comment
Dienstag, 7. Mai 2013
00001011 - Thronfolge
mercury mailer, 21:45h
Andreas lag in seinem Schlafgemach und starrte an die Decke. Es war keine gewöhnliche Decke, sondern ein Deckengemälde, das von einem Plattgoldrelief umschlossen war. Eigentlich sah es aus wie in einem Barockschloss - außer dass das Gemälde keine biblischen und keine griechisch-römischen Motive darstellte - sondern ein lemurianisches: Sapana, den Gott des Schlafes. Er stand dort, ein Jüngling mit braunen Locken, gekleidet in ein langes, purpurnes Gewand. Er hatte spitze Ohren und trug ein Füllhorn, aus dem allerlei bunte Bilder purzelten: Bilder von Einhörnern, von Zwergen, Elfen, Gnomen, Wäldern, Elefanten, auch Orks - von allem etwas.
Andreas konnte nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her, als es plötzlich an die Tür klopfte.
“Herein”, sagte er.
Ein Lemure betrat das Schlafzimmer, und sein schwarz-weiß gestreifter Schwanz wedelte lustig hinter ihm. Es war Pacasa. “Verzeihen Sie, Srimana”, sagte er. “Aber die Königin wünscht Sie zu sprechen.
Ich soll Sie zu ihr führen.”
“Die Königin. Warte nur, ich hole mal kurz was zum Anziehen.”
“Das wird nicht nötig sein. Die Königin wünscht Sie so zu sehen, wie Sie sind.”
Um nicht nur im Pyjama durch den Palast zu gehen, zog sich Andreas schnell einen Morgenmantel über, schlüpfte in seine Pantoffeln, und schon waren sie draußen auf dem Flur.
Draußen war es kalt, und es wehte ein kühler Wind. Doch zum Glück mussten sie nicht allzu weit laufen. Nur den Korridor entlang und eine Treppe nach oben. Elektrisches Licht gab es in Lemuria nicht, und so musste Pacasa mit einer Kerze Andreas den Weg leuchten. Draußen schien der Vollmond und tauchte den Korridor in ein milchiges Licht. Klar, es war etwas düster und unheimlich, und Andreas wusste, dass in diesem Palast auch einige Geister spukten. So wie Dämonen waren auch Geister in dieser Welt keine Glaubensfrage, sondern eine Tatsache, mit der manche Leute etwas allzu selbstverständlich umgingen. Aber Andreas und Pacasa hatten Glück, und es begegnete ihnen keiner der ehemaligen Könige, die als Porträts an den Wänden verewigt waren. Der ganze Palast schien zu schlafen - und das galt nicht nur für die Menschen, sondern für alles, was darin lebte und mit ausreichend Intelligenz ausgestattet war, um zu stören oder sich gestört zu fühlen.
Am Schlafzimmer der Königin angekommen klopfte Pacasa an die Tür. “Er ist hier, Mahima!” sagte er.
“Schick ihn rein und verschwinde”, ertönte es von drinnen.
Andreas betrat den Raum. Er war groß - größer als die Wohnung in seiner Welt. Im Schlafzimmer der Königin war Andreas noch nie gewesen, da Sundari bei seinem letzten Aufenthalt noch Prinzessin gewesen war. Und es war nicht nur ein Schlafzimmer. Das Bett stand in der Mitte des Raumes, und es war ein Himmelbett von der Größe eines ganzen Zimmers. Sanfte, weiß-durchsichtige Seidenschleier hingen vom Baldachin herab bis zur Bettdecke, auf der zahlreiche Kissen lagen. Auf dem Bett aber saß die Königin und schaute zu Andreas herüber. Sie lächelte. Dann schob sie die Schleier beiseite, stand auf und blieb schließlich direkt vor Andreas stehen. Das einzige Kleidungsstück, das sie trug, war ein hauchdünnes Nachthemd, das ihren ganzen Körper umhüllte, wenn es zugeknöpft war. Aber es war nicht zugeknöpft, und so konnte Andreas alles sehen: Ihre Brüste, die für ihr Alter noch enorm fest aussahen. Ihren Bauch, dessen Muskeln Andreas die Schamesröte ins Gesicht trieben, denn er sah längst nicht so gut aus. Naja, jedenfalls nicht in seiner eigenen Welt. Die schlanken, langen Beine. Und dazwischen das dunkle Dreieck in ihrem Schritt, das an den Rändern rasiert und insgesamt leicht gestutzt war.
Andreas wagte kaum zu atmen. Ihre Schönheit erinnerte ihn an alte Marmorskulpturen griechischer Göttinnen. Sie war perfekt - als hätte ein italienischer Meister sie aus Holz geschnitzt und mit einem leichten, durchsichtigen Seidentuch bedeckt.
Sie ließ das Nachthemd auf den Boden fallen und stand jetzt komplett nackt vor ihm. Dann umarmte sie ihn, schmiegte sich an ihn wie eine Katze.
“Du warst lange fort”, sagte sie. Mehr ein Flüstern. “Warum?”
Andreas wusste keine rechte Antwort. Es war seine Entscheidung gewesen, Lemuria für immer zu verlassen. Er hatte einen Schlussstrich ziehen wollen, ein neues Leben anfangen. Ein Leben, in dem er ernst genommen werden konnte, in dem er normal sein konnte - wie jeder andere auch. Ein Leben als Erwachsener. Ausflüge in eine Fantasiewelt hatten da keinen Platz. Er hatte einfach entschieden, nicht mehr nach Lemuria zu reisen, und dann hatte es geklappt. Nie wieder war er dort aufgewacht. Natürlich hatte er auch weiterhin geträumt, und er war auch in ferne Länder gereist. Aber er wollte sein Leben in seiner wirklichen Welt verbringen.
“Du hast es versprochen. Du hast versprochen, dass wir heiraten”, sagte Sundari. “Warum hast du mich allein gelassen?”
“Ich habe mein altes Leben zerschmettert”, sagte Andreas.
Das stimmte. An seinem letzten Tag in der zehnten Klasse, am letzten Tag, an dem er mit seiner alten Klasse und auch mit Robert Jens zusammen war, waren sie mit einem Klassenprojekt in den Werkräumen beschäftigt gewesen. Sie sollten Fachwerkhäuser bauen. Andreas kam mit seinen beiden linken Händen überhaupt nicht zurecht und war ständig am Fluchen. Eine Wut hatte sich in ihm aufgestaut, als ein Kunstlehrer plötzlich den Raum betrat und sagte: “Ich brauche Leute, die Tonwaren zerschmettern.”
Sofort war Andreas mit dabei. Es waren getöpferte Kunstwerke anderer Klassen. Kunstwerke, die kein Schüler mehr abgeholt hatte. Und jetzt wurden sie zerstört. Kleine Töpfe und Gefäße, auch Figuren und Figuretten. Ab in den Müllcontainer damit! Auf der einen Seite tat es ihm Leid um die kleinen Kunstwerke. Aber auf der anderen Seite wuchs seine Zerstörungswut. Ein Kunstwerk nach dem anderen landete mit heftiger Wucht an der Wand des Containers oder auf den ganzen anderen Töpferwaren. Es zersplitterte längst nicht so gut wie Glas, aber es fühlte sich gut an. Den ganzen Frust von zehn Schuljahren konnte er endlich los werden. Und so zerschmetterte auch sein bisheriges Leben. Er wollte neu anfangen. Von vorne. So sein wie die anderen. Nicht ihr Prügelknabe und Sündenbock. Nicht derjenige, der in der Pause immer im Mülleimer landete, dessen Stifte, Mützen und Regenschirme ständig geklaut wurden, wenn er sie nicht irgendwo vergaß. Nein, das Leben war vorbei. Und auch Lemuria war vorbei. Mit jedem Tonkrug, der im Container landete, vergrub er es. Er wollte Frauen kennen lernen, mit ihnen Sex haben, Partys feiern. Schepper! Er wollte so sein wie die anderen auch. Krach! Das alles endlich hinter sich lassen. Bum! Und so zerbrach Stück für Stück sein bisheriges Leben. Und als eine kleine Figur, die ihm in die Hände fiel, genauso aussah wie Prinzessin Sundari, schmetterte er sie besonders genüsslich in den Container. Mit Sundari hatte er seinen ersten Kuss, seinen ersten Sex. Aber jetzt wollte er echte Frauen haben, die wirklich existierten. In seiner eigenen Welt.
“Ich habe auf dich gewartet”, sagte Sundari. “Zwanzig Jahre lang. Du wolltest mich heiraten, aber jetzt ist es fast zu spät.” Sie weinte fast. “Du hast es versprochen!”
Er nahm sie in den Arm. “Es tut mir Leid, Sundari”, sagte er. “Ich hätte nicht gedacht, dass du so lange wartest. Ich habe gedacht, du heiratest jemand anderes.”
“Ich wollte nie jemand anderes haben. Ich wollte immer nur dich.”
Andreas schien das alles sehr unrealistisch. Es widersprach sämtlichen Erfahrungen, die er in den vergangenen zwanzig Jahren gemacht hatte. Frauen warteten nicht. Jedenfalls nicht für gewöhnlich. Bis er gemerkt hatte, dass sich eine Frau für ihn interessierte, hatte sie sich schon längst einen anderen geholt. Ein Wochenende reichte, und sie war weg.
“Bitte verzeih mir”, sagte er. “Aber diese Welt war für mich nicht real. Als ich mich entschlossen habe, sie zu verlassen, habe ich nicht damit gerechnet, dass es dich weiterhin gibt. Ich habe geglaubt, dass ich diese Welt erschaffen habe und dass es sie nicht wirklich gibt und dass sie verschwindet, sobald ich sie nicht mehr besuche.”
“Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht das ist, was ich glaube”, entgegnete Sundari. “Hältst du mich denn jetzt für real?”
Wieder wusste Andreas einen Augenblick lang nicht, was er sagen sollte. Er hatte es sich nicht ausgesucht, in diese Welt zurückzukehren. Sie hatte ihn gerufen. Aber nach wie vor hielt er das alles für ein Hirngespinst. Lemuria und Sundari - das gab es nicht wirklich. Dennoch zog es Andreas vor zu lügen:
“Ich habe geglaubt, das hier wäre nicht real. Aber du hast mich eines besseren belehrt.”
“Das ist sehr schön.” Sie küsste ihn, und er spürte ihre Zunge in seinem Mund. Ihre Brüste richteten sich auf, und das selbe konnte man von seinem besten Freund im Unterleib sagen.
Dann löste sie sich von ihm und schaute ihn mit ihren dunkelbraunen, beinahe schwarzen Augen an. “Da wäre noch etwas: Wie du weißt, habe ich nie geheiratet. Und wie du weißt, habe ich deswegen auch keinen Thronfolger. Mein Vater ist tot und hat mir dieses Königreich hinterlassen. Meine Schwester hat den König von Purvi Lemuria geheiratet. Wenn ich ohne Thronfolger sterbe, dann wird mein Königreich untergehen, und es wird an Purvi Lemuria fallen. Das ganze Reich sehnt sich nach einem Thronfolger, und ich kann es ihm nicht geben. Ich bin ja noch nicht einmal verheiratet.”
“Du willst mich heiraten?”
Sie lächelte. “Wenn du magst. Ansonsten gäbe es aber noch eine andere Lösung.”
“Welche?”
“Ich will, dass du mir heute einen Thronfolger zeugst - oder eine Thronfolgerin. Egal. Beides ist möglich. Hauptsache, jemand, der das Reich erben kann. Die Nacht ist günstig. Es kann heute geschehen. Und die Prophezeiung sagt, es wird heute geschehen, sofern wir es heute Nacht tun.”
“Aber du bist nicht verheiratet. Wie kann ich dir einen legitimen Erben zeugen?”
“Ich bin die Königin von Madhya Lemuria. Mir werden die Leute glauben, wenn ich ihnen sage, dass es eine Jungfrauengeburt ist, dass ein Gott mein Kind gezeugt hat.”
“Also bin ich doch ein Gott?”
“Möglich. Aber ich glaube nicht daran. Aber der Gedanke ist durchaus reizvoll, mit einem Gott die Nacht zu verbringen.”
“Und ich finde es reizvoll, mit einer Königin die Nacht zu verbringen.”
“Es ist für uns beide nicht das erste Mal”, sagte sie. “Also, worauf warten wir noch?”
Sie küssten sich lang und leidenschaftlich, und dann warf er sie durch die seidenen Schleier auf das Bett. Sie wälzten sich in den weichen Kissen, während der Vollmond durch das offene Fenster sein milchiges Licht in das Schlafgemach warf. Sie liebten sich nicht nur einmal - ein Gott und eine Königin im Rausch der Sinne vereint. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren spürte Andreas wieder dieses kribbelnde, ekstatische Gefühl von damals. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren verfiel er dem Rausch der wahren Liebe. Diese Königin mochte ein Hirngespinst sein oder nicht: die Gefühle waren echt und blieben es.
Andreas konnte nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her, als es plötzlich an die Tür klopfte.
“Herein”, sagte er.
Ein Lemure betrat das Schlafzimmer, und sein schwarz-weiß gestreifter Schwanz wedelte lustig hinter ihm. Es war Pacasa. “Verzeihen Sie, Srimana”, sagte er. “Aber die Königin wünscht Sie zu sprechen.
Ich soll Sie zu ihr führen.”
“Die Königin. Warte nur, ich hole mal kurz was zum Anziehen.”
“Das wird nicht nötig sein. Die Königin wünscht Sie so zu sehen, wie Sie sind.”
Um nicht nur im Pyjama durch den Palast zu gehen, zog sich Andreas schnell einen Morgenmantel über, schlüpfte in seine Pantoffeln, und schon waren sie draußen auf dem Flur.
Draußen war es kalt, und es wehte ein kühler Wind. Doch zum Glück mussten sie nicht allzu weit laufen. Nur den Korridor entlang und eine Treppe nach oben. Elektrisches Licht gab es in Lemuria nicht, und so musste Pacasa mit einer Kerze Andreas den Weg leuchten. Draußen schien der Vollmond und tauchte den Korridor in ein milchiges Licht. Klar, es war etwas düster und unheimlich, und Andreas wusste, dass in diesem Palast auch einige Geister spukten. So wie Dämonen waren auch Geister in dieser Welt keine Glaubensfrage, sondern eine Tatsache, mit der manche Leute etwas allzu selbstverständlich umgingen. Aber Andreas und Pacasa hatten Glück, und es begegnete ihnen keiner der ehemaligen Könige, die als Porträts an den Wänden verewigt waren. Der ganze Palast schien zu schlafen - und das galt nicht nur für die Menschen, sondern für alles, was darin lebte und mit ausreichend Intelligenz ausgestattet war, um zu stören oder sich gestört zu fühlen.
Am Schlafzimmer der Königin angekommen klopfte Pacasa an die Tür. “Er ist hier, Mahima!” sagte er.
“Schick ihn rein und verschwinde”, ertönte es von drinnen.
Andreas betrat den Raum. Er war groß - größer als die Wohnung in seiner Welt. Im Schlafzimmer der Königin war Andreas noch nie gewesen, da Sundari bei seinem letzten Aufenthalt noch Prinzessin gewesen war. Und es war nicht nur ein Schlafzimmer. Das Bett stand in der Mitte des Raumes, und es war ein Himmelbett von der Größe eines ganzen Zimmers. Sanfte, weiß-durchsichtige Seidenschleier hingen vom Baldachin herab bis zur Bettdecke, auf der zahlreiche Kissen lagen. Auf dem Bett aber saß die Königin und schaute zu Andreas herüber. Sie lächelte. Dann schob sie die Schleier beiseite, stand auf und blieb schließlich direkt vor Andreas stehen. Das einzige Kleidungsstück, das sie trug, war ein hauchdünnes Nachthemd, das ihren ganzen Körper umhüllte, wenn es zugeknöpft war. Aber es war nicht zugeknöpft, und so konnte Andreas alles sehen: Ihre Brüste, die für ihr Alter noch enorm fest aussahen. Ihren Bauch, dessen Muskeln Andreas die Schamesröte ins Gesicht trieben, denn er sah längst nicht so gut aus. Naja, jedenfalls nicht in seiner eigenen Welt. Die schlanken, langen Beine. Und dazwischen das dunkle Dreieck in ihrem Schritt, das an den Rändern rasiert und insgesamt leicht gestutzt war.
Andreas wagte kaum zu atmen. Ihre Schönheit erinnerte ihn an alte Marmorskulpturen griechischer Göttinnen. Sie war perfekt - als hätte ein italienischer Meister sie aus Holz geschnitzt und mit einem leichten, durchsichtigen Seidentuch bedeckt.
Sie ließ das Nachthemd auf den Boden fallen und stand jetzt komplett nackt vor ihm. Dann umarmte sie ihn, schmiegte sich an ihn wie eine Katze.
“Du warst lange fort”, sagte sie. Mehr ein Flüstern. “Warum?”
Andreas wusste keine rechte Antwort. Es war seine Entscheidung gewesen, Lemuria für immer zu verlassen. Er hatte einen Schlussstrich ziehen wollen, ein neues Leben anfangen. Ein Leben, in dem er ernst genommen werden konnte, in dem er normal sein konnte - wie jeder andere auch. Ein Leben als Erwachsener. Ausflüge in eine Fantasiewelt hatten da keinen Platz. Er hatte einfach entschieden, nicht mehr nach Lemuria zu reisen, und dann hatte es geklappt. Nie wieder war er dort aufgewacht. Natürlich hatte er auch weiterhin geträumt, und er war auch in ferne Länder gereist. Aber er wollte sein Leben in seiner wirklichen Welt verbringen.
“Du hast es versprochen. Du hast versprochen, dass wir heiraten”, sagte Sundari. “Warum hast du mich allein gelassen?”
“Ich habe mein altes Leben zerschmettert”, sagte Andreas.
Das stimmte. An seinem letzten Tag in der zehnten Klasse, am letzten Tag, an dem er mit seiner alten Klasse und auch mit Robert Jens zusammen war, waren sie mit einem Klassenprojekt in den Werkräumen beschäftigt gewesen. Sie sollten Fachwerkhäuser bauen. Andreas kam mit seinen beiden linken Händen überhaupt nicht zurecht und war ständig am Fluchen. Eine Wut hatte sich in ihm aufgestaut, als ein Kunstlehrer plötzlich den Raum betrat und sagte: “Ich brauche Leute, die Tonwaren zerschmettern.”
Sofort war Andreas mit dabei. Es waren getöpferte Kunstwerke anderer Klassen. Kunstwerke, die kein Schüler mehr abgeholt hatte. Und jetzt wurden sie zerstört. Kleine Töpfe und Gefäße, auch Figuren und Figuretten. Ab in den Müllcontainer damit! Auf der einen Seite tat es ihm Leid um die kleinen Kunstwerke. Aber auf der anderen Seite wuchs seine Zerstörungswut. Ein Kunstwerk nach dem anderen landete mit heftiger Wucht an der Wand des Containers oder auf den ganzen anderen Töpferwaren. Es zersplitterte längst nicht so gut wie Glas, aber es fühlte sich gut an. Den ganzen Frust von zehn Schuljahren konnte er endlich los werden. Und so zerschmetterte auch sein bisheriges Leben. Er wollte neu anfangen. Von vorne. So sein wie die anderen. Nicht ihr Prügelknabe und Sündenbock. Nicht derjenige, der in der Pause immer im Mülleimer landete, dessen Stifte, Mützen und Regenschirme ständig geklaut wurden, wenn er sie nicht irgendwo vergaß. Nein, das Leben war vorbei. Und auch Lemuria war vorbei. Mit jedem Tonkrug, der im Container landete, vergrub er es. Er wollte Frauen kennen lernen, mit ihnen Sex haben, Partys feiern. Schepper! Er wollte so sein wie die anderen auch. Krach! Das alles endlich hinter sich lassen. Bum! Und so zerbrach Stück für Stück sein bisheriges Leben. Und als eine kleine Figur, die ihm in die Hände fiel, genauso aussah wie Prinzessin Sundari, schmetterte er sie besonders genüsslich in den Container. Mit Sundari hatte er seinen ersten Kuss, seinen ersten Sex. Aber jetzt wollte er echte Frauen haben, die wirklich existierten. In seiner eigenen Welt.
“Ich habe auf dich gewartet”, sagte Sundari. “Zwanzig Jahre lang. Du wolltest mich heiraten, aber jetzt ist es fast zu spät.” Sie weinte fast. “Du hast es versprochen!”
Er nahm sie in den Arm. “Es tut mir Leid, Sundari”, sagte er. “Ich hätte nicht gedacht, dass du so lange wartest. Ich habe gedacht, du heiratest jemand anderes.”
“Ich wollte nie jemand anderes haben. Ich wollte immer nur dich.”
Andreas schien das alles sehr unrealistisch. Es widersprach sämtlichen Erfahrungen, die er in den vergangenen zwanzig Jahren gemacht hatte. Frauen warteten nicht. Jedenfalls nicht für gewöhnlich. Bis er gemerkt hatte, dass sich eine Frau für ihn interessierte, hatte sie sich schon längst einen anderen geholt. Ein Wochenende reichte, und sie war weg.
“Bitte verzeih mir”, sagte er. “Aber diese Welt war für mich nicht real. Als ich mich entschlossen habe, sie zu verlassen, habe ich nicht damit gerechnet, dass es dich weiterhin gibt. Ich habe geglaubt, dass ich diese Welt erschaffen habe und dass es sie nicht wirklich gibt und dass sie verschwindet, sobald ich sie nicht mehr besuche.”
“Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht das ist, was ich glaube”, entgegnete Sundari. “Hältst du mich denn jetzt für real?”
Wieder wusste Andreas einen Augenblick lang nicht, was er sagen sollte. Er hatte es sich nicht ausgesucht, in diese Welt zurückzukehren. Sie hatte ihn gerufen. Aber nach wie vor hielt er das alles für ein Hirngespinst. Lemuria und Sundari - das gab es nicht wirklich. Dennoch zog es Andreas vor zu lügen:
“Ich habe geglaubt, das hier wäre nicht real. Aber du hast mich eines besseren belehrt.”
“Das ist sehr schön.” Sie küsste ihn, und er spürte ihre Zunge in seinem Mund. Ihre Brüste richteten sich auf, und das selbe konnte man von seinem besten Freund im Unterleib sagen.
Dann löste sie sich von ihm und schaute ihn mit ihren dunkelbraunen, beinahe schwarzen Augen an. “Da wäre noch etwas: Wie du weißt, habe ich nie geheiratet. Und wie du weißt, habe ich deswegen auch keinen Thronfolger. Mein Vater ist tot und hat mir dieses Königreich hinterlassen. Meine Schwester hat den König von Purvi Lemuria geheiratet. Wenn ich ohne Thronfolger sterbe, dann wird mein Königreich untergehen, und es wird an Purvi Lemuria fallen. Das ganze Reich sehnt sich nach einem Thronfolger, und ich kann es ihm nicht geben. Ich bin ja noch nicht einmal verheiratet.”
“Du willst mich heiraten?”
Sie lächelte. “Wenn du magst. Ansonsten gäbe es aber noch eine andere Lösung.”
“Welche?”
“Ich will, dass du mir heute einen Thronfolger zeugst - oder eine Thronfolgerin. Egal. Beides ist möglich. Hauptsache, jemand, der das Reich erben kann. Die Nacht ist günstig. Es kann heute geschehen. Und die Prophezeiung sagt, es wird heute geschehen, sofern wir es heute Nacht tun.”
“Aber du bist nicht verheiratet. Wie kann ich dir einen legitimen Erben zeugen?”
“Ich bin die Königin von Madhya Lemuria. Mir werden die Leute glauben, wenn ich ihnen sage, dass es eine Jungfrauengeburt ist, dass ein Gott mein Kind gezeugt hat.”
“Also bin ich doch ein Gott?”
“Möglich. Aber ich glaube nicht daran. Aber der Gedanke ist durchaus reizvoll, mit einem Gott die Nacht zu verbringen.”
“Und ich finde es reizvoll, mit einer Königin die Nacht zu verbringen.”
“Es ist für uns beide nicht das erste Mal”, sagte sie. “Also, worauf warten wir noch?”
Sie küssten sich lang und leidenschaftlich, und dann warf er sie durch die seidenen Schleier auf das Bett. Sie wälzten sich in den weichen Kissen, während der Vollmond durch das offene Fenster sein milchiges Licht in das Schlafgemach warf. Sie liebten sich nicht nur einmal - ein Gott und eine Königin im Rausch der Sinne vereint. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren spürte Andreas wieder dieses kribbelnde, ekstatische Gefühl von damals. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren verfiel er dem Rausch der wahren Liebe. Diese Königin mochte ein Hirngespinst sein oder nicht: die Gefühle waren echt und blieben es.
... link (0 Kommentare) ... comment
Montag, 6. Mai 2013
00001010 - Ein Bankett
mercury mailer, 21:46h
Sie saßen zum Bankett im Speisesaal. Lemuren trugen Köstlichkeiten aus ganz Lemuria auf. Einige davon kannte Andreas gut aus seiner eigenen Welt: Bananen, Melonen, Mangos, aber auch Pflaumen und viel Reis und Curry. Anderes war ihm nur durch seine Aufenthalte in Lemuria bekannt. Die Früchte des Pavitra-Baums. Putzige Nagetiere, die Gofarsa genannt wurden und ausgesprochen zart und lecker schmeckten. Gebratener Pfau. Meeresschnecken. Dazu Gewürze, die so köstlich waren, dass sich Andreas in all den Jahren nach Lemuria zurückgesehnt hatte, auch wenn er mit dieser Welt innerlich abgeschlossen hatte. Jetzt konnte er sie endlich wieder probieren. Es gab Goldkrabben und gebratene Rotkorallen. Alles, was man sich nur vorstellen konnte, landete in der Küche. Mit zwei Ausnahmen: Lemuren und alles andere, was reden konnte, durfte unter keinen Umständen verzehrt werden. Und die andere Ausnahme waren Rinder, die in Lemuria als heilig galten.
Die Banketttafel war lang - etwa doppelt so lang wie Andreas’ Wohnung. Nicht nur die Königin und er hatten daran Platz genommen, sondern der gesamte Hofstaat und einige Gäste - Fürsten, Vasallen, die gerade bei Hof weilten. Einen Mann hatte die Königin nicht an ihrer Seite. Statt dessen hatte Andreas direkt neben ihr Platz genommen - allerdings nicht zu ihrer Linken, wo eigentlich nach lemurischer Tradition ihr Ehemann hätte sitzen müssen. Dieser Platz war demonstrativ leer geblieben. Andreas saß zu ihrer Rechten, an dem Platz, der traditionell dem Ehrengast vorbehalten war - und wenn es keinen Ehrengast als solchen gab, dann dem vornehmsten der übrigen Gäste - und das war in diesem Fall der Fürst von Tandula Bhumi, der Andreas direkt gegenüber saß.
“Nun zum Geschäftlichen”, sagte Königin Sundari. “Oder besser zu den Problemen, die unser Reich und vielleicht sogar unsere ganze Welt beschäftigen. Ich weiß nicht, ob Sie von der Sekte gehört haben, die Na’e Vykati.”
“Sie sollen in den Bergen wohnen und einen bösen Gott zum Leben erwecken”, sagte Andreas.
“Das stimmt”, entgegnete der Fürst. “Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wie Sie wissen, herrscht in Madhya Lemuria Religionsfreiheit. Jeder kann das glauben, was er will - und das wird auch reichlich ausgenutzt. Das liegt in unserer Kultur begründet. Wer von Anfang an an viele Götter glaubt, dem macht es nichts aus, wenn es mal ein paar mehr oder weniger sind - oder wenn eine Religionsgemeinschaft mal glaubt, sie müsste nur an einen Gott glauben. Das ist uns vollkommen egal. Aber es gibt eben Religionen, da hört der Spaß auf.”
“Was der Fürst sagt, ist vollkommen richtig”, sagte Königin Sundari. “Unsere Religion war von Anfang an in viele verschiedene Sekten und Konfessionen gespalten, die nur schwer unter einen Hut zu kriegen sind. Was ich aber nicht dulde, das sind Menschenopfer. Und was ich auch nicht dulde, ist, dass andere intelligente Lebewesen auf den Altären geopfert werden. Zwerge, Wichtel, Elben, Gnome, Trolle - sogar Orks, obwohl die das mieseste sind, was es auf der Götter weiter Erde gibt.”
“Ja, Orks sind richtig üble Burschen”, sagte Andreas. Er war ihnen schon mehrmals im Kampf gegenüber gestanden.
“Der Witz ist: Das tun die Na’e Vykati gar nicht”, fuhr Sundari fort. “Sie wollen es tun, aber haben es bisher noch nicht getan.”
Einige Lemuren kamen mit einem großen Tablett an und stellten es direkt vor der Königin auf den Tisch. Darauf war ein Spanferkel, das von gebratenen Tomaten umgeben war. Auch in seiner Schnauze steckte eine Tomate. Die Königin schnitt sich mit dem Messer ein Stück ab und legte es sich auf den Teller.
“Wo der Spaß auch aufhört, ist, wenn richtig finstere Mächte im Spiel sind”, sagte der Fürst. “Und ich rede nicht von der Göttin Kali. Diese Na’e Vykati legen es wirklich darauf an.”
“Sie glauben, dass es die Welt von Lemuria nicht wirklich gibt”, sagte die Königin. “Sie glauben, diese Welt ist eine Illusion - eine Phantasie, die dem Kopf eines Achtjährigen entsprungen ist.”
“Ich war acht Jahre alt, als ich das erste Mal hier war”, sagte Andreas.
“Wir wollen dir nicht zu nahe treten”, sagte der Fürst. “Aber du bist derjenige, den die Na’e Vykati für den Schöpfer dieser Welt halten. Du bist ihr Gott.”
“Ich dachte, die hätten einen anderen Gott, den sie beschwören wollen. Einen bösartigen Dämon.”
“Das stimmt”, sagte Sundari. “Und hier wird es kompliziert. Um es kurz zu machen: Sie wollen dich töten.”
“Mich töten? Und warum?”
“Sie glauben, dass die Schöpfung unabhängig von ihrem Gott existiert”, sagte der Fürst. “Wenn ein Dichter zum Beispiel stirbt, dann lebt sein Werk trotzdem weiter. Insofern kann eine Welt auch dann weiter leben, wenn ihr Gott tot ist. Aber sie glauben, dass diese Welt nur frei sein kann, wenn sie ihren Schöpfer töten.”
“Und deshalb beschwören sie diesen Dämon?”
“Nein. Ich sagte ja bereits, es wird kompliziert.”
Andreas sah die Königin verwirrt an. “Ich verstehe das nicht.”
“Es gibt viele Welten. Virtuelle Welten, Phantasiewelten, Parallelwelten... Allen diesen Welten ist eines gemeinsam: Für die Bewohner sind sie real. Aber für die Bewohner anderer Welten nicht unbedingt. Das zumindest ist der Glaube der Na’e Vykati. Was passiert mit einem Traum, wenn der Träumer erwacht?”
“Der Traum zerplatzt wie eine Seifenblase”, sagte Andreas.
“Ich glaube das, du glaubst das, und die Königin glaubt das”, sagte der Fürst. “Aber die Na’e Vykati glauben, dass der Traum weiter existiert und dass er vom Träumer frei ist. Sie können jetzt selbst den Traum weiter träumen und selbst bestimmen, wie der Traum weiter geht. Wenn Gott tot ist, wird der Mensch zum neuen Gott.”
“Außer, sie beschwören sich selber einen Gott”, sagte Andreas.
“Falsch”, entgegnete die Königin. “Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das eine ist Befreiung, das zweite ist der Griff nach der Weltherrschaft. Dieser Dämon, den sie beschwören, das ist keine Glaubensfrage. Den gibt es wirklich.”
Andreas nickte. In den rund acht Jahren, in denen er immer wieder nach Lemuria gereist war, hatte er so manchen Dämon getroffen. In seiner eigenen Welt mochte die Frage, ob es wirklich Dämonen gab, eine Glaubensfrage sein. Einige mochten daran glauben, andere nicht. Doch in Lemuria waren sie eine Tatsache, die selbstverständlich hingenommen wurde. Dämonen existierten wie Zwerge, Trolle oder Orks. Man konnte ihnen begegnen, und viele, die Pech hatten, wussten ein Lied davon zu singen.
“Ob sie dich zuerst töten und dann den Dämon beschwören, ob sie zuerst den Dämon beschwören und dich dann töten oder ob sie beides gleichzeitig erledigen, ist vollkommen egal”, sagte der Fürst. “Sie wollen beides tun. Das haben sie sich fest vorgenommen. Und wehe dem, der sich ihnen in den Weg stellt.”
“Aber wenn sie mich töten wollen”, fragte Andreas, “warum muss ich trotzdem diesen gefährlichen Job erledigen?”
“Weil du es kannst”, sagte Sundari. “Du und niemand sonst. Und weil du selber in Gefahr bist. Denn diese Sekte existiert auch in deiner Welt. Und sie werden dich finden, und sie werden dich töten. Wenn du hier bist, ist das für dich ein Vorteil. Du bist ein erfahrener Kämpfer. Du hast hier Fähigkeiten, die du in deiner eigenen Welt nicht hast. In deiner eigenen Welt bist du schwach und langsam und fällst trotz deiner Intelligenz leicht auf die Fallen anderer herein. Diese Fehler hast du hier nicht. Du kannst sie nur hier besiegen. In deiner eigenen Welt ist es sehr gefährlich.”
“Kann ich also von meiner Welt in diese herüber wechseln?”
Sundari schüttelte den Kopf. “Das wird nicht so einfach möglich sein. Du kannst es dir nicht aussuchen, wann du hier und wann du dort bist. Jetzt schläfst du in deiner eigenen Welt; deshalb bist du hier. Wenn du hier schläfst, ist es umgekehrt. Und bedenke, dass die Zeit hier anders verläuft, als in deiner Welt. Innerhalb einer einzigen Nacht können hier Tage vergehen.”
“Wie in Inception.”
“Was ist Inception?”
“Ach was, nicht so wichtig. Also, was habe ich in meiner Welt zu tun?”
“Das wissen wir nicht”, sagte der Fürst. “Wir kennen deine Welt nicht. Die Regeln dieser Welt sind uns fremd. Aber was du in unserer Welt zu tun hast, sagen wir dir gleich. Vorher noch eins: Das, was die Na’e Vykati glauben, ist nicht das, was wir glauben. Wir glauben nicht, dass du ein Gott bist. Und wir glauben auch nicht, dass du unsere Welt erschaffen hast. Die gab es schon vorher. Zumindest ich habe Erinnerungen an die Zeit davor. Wir haben unsere eigene Religion, unsere eigenen Götter. Du hast ganz besondere Kräfte. Aber das macht dich nicht zum Gott.”
“Dem kann ich nur zustimmen”, sagte Sundari. “Und jetzt zu deinen Aufgaben: Du wirst dich nach Mandira begeben und dir dort das Licht von Mandira holen. Es ist die einzige Waffe, mit der du den finsteren Dämon Sansarom Kanasa zerstören kannst. Das Licht von Mandira ist nämlich etwas ganz besonderes - es strahlt hell wie die Sonne - selbst in der Dunkelheit.”
“Das liegt an den Leuchtkristallen”, fuhr der Fürst fort. “Die Zwerge nennen sie den Samen der Sonne. Sie haben diese Kristalle vor unzähligen Zeiten unter der Erde entdeckt. Sie sehen auf dem ersten Blick aus wie gewöhnliche Kristalle. Aber zündet man sie an, brennen sie hell wie die Sonne - und das stundenlang. Deshalb bauen die Zwerge die Leuchtkristalle ab, um sie in ihren Grubenlampen zu verwenden. Das Licht, das so entsteht, hat eine ähnliche Wirkung wie Sonnenlicht. Es lässt sogar Trolle in Stein verwandeln.”
“Aber das Licht von Mandira zu holen, ist eine Herausforderung”, sagte Sundarin. “Die Priester gehören nicht zu meinem Königreich. Sie gehören zu keinem Königreich. Sie lassen sich von niemandem etwas sagen - außer von den Göttern selbst.”
“Ich nehme an, dass ich nicht zu ihrem Olymp gehöre.”
“So ist es. Ihre Götter existieren wirklich.”
“Glaube oder Tatsache?”
“Tatsache.”
“Au weia.”
“Du sagst es. Mit einem Gott legt man sich besser nicht an.”
“Sag das den Na’e Vykati.”
“Sag du das den Atheisten in deiner Welt.”
Andreas schwieg betreten. Er hatte in seinem Leben schon öfter mit dem Atheismus geliebäugelt. Derzeit war er weder Atheist, noch war er gläubig. Er betrachtete Atheisten und religiöse Menschen mit der gleichen Skepsis - insbesondere dann, wenn es sich um Missionare für die eine oder andere Seite handelte. Wer ihm seinen Glauben aufzwingen wollte - egal, wie er aussah -, der hatte von Anfang an verloren. Dieses Lemuria, diese Fantasiewelt, war für ihn nichts anderes als eine Reise, auf die ihn sein Unterbewusstsein schickte. Nichts weiter als ein Computer-Adventure im Kopf. Ein Spiel, eine Simulation, in die er sich als Kind zurückgezogen hatte, als ihm die Realität nichts mehr zu bieten hatte. Aber warum war er jetzt wieder hier? Hatte dieser Robert Jens die Erinnerungen daran wieder geweckt?
Andreas bugsierte eine mit Schweinehackfleisch gefüllte Aubergine auf seinen Teller. Er konnte deutlich den herzhaften, leicht fettigen Geschmack auf der Zunge spüren. Wenn er mit den Fingern über den Tisch fuhr, ertastete er die feine Maserung. Er hörte die Musik, die ein Zwergenorchester spielte. Er nahm die vielfältigen Gerüche exotischer Gewürze wahr. Alle seine Sinne meldeten ihm Details über Details. So etwas konnte kein Traum sein. Es war auf irgendeine Art und Weise real. Aber wie? Würde es seinen Tod bedeuten, wenn er auf einem Abenteuer in Lemuria starb? Oder würde er nur zu Hause in seinem Bett aufwachen?
“Aber wenn ich mich nicht mit Göttern anlegen soll”, sagte Andreas, “wie hole ich das Licht von Mandira?”
“Wer sagt, dass du dich mit Göttern anlegen sollst?” fragte Sundari. “Die Mehrheit der Götter ist auf unserer Seite.”
“Also, wo liegt da das Problem?”
“Pujari Raja heißt das Problem.”
“Noch ein Gott?”
“Ein Mensch. Ein Priester. Der Herr der Priester. Der König von Mandira, wenn man so will. Pujari Raja ist eigentlich nicht böse. Er ist auch nicht gut. Um genau zu sein: Er ist neutral. Aber er glaubt, dass das Ende der Welt gekommen ist, sobald das Licht aus Mandira verschwindet - ganz gleich, was die Götter sagen. Jeden Gott, der versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, sieht er als Lügner oder Betrüger oder als Trick finsterer Mächte an. Und die anderen Priester gehorchen ihm aufs Wort. Pujari Raja musst du besiegen - aber Vorsicht: Er beherrscht Hatya Kikala, eine uralte Kampfkunst.”
“In niederlemurischer Sprache heißt das die Kunst des Tötens”, ergänzte der Fürst, und Andreas erschauerte. Langsam glaubte er nicht mehr, dass sein Unterbewusstsein das alles erfunden hatte.
“Allerdings gibt es vielleicht einen Weg, Pujari Raja zu überzeugen”, sagte Sundari. “Was weißt du über unsere Religion?”
Andreas stammelte etwas von Brahma und Wischnu zusammen, doch Sundari lachte nur. “Nein, wir sind keine Hindus. Die lemurische Religion ist anders. Wir haben fünf Hauptgötter und unzählige Nebengötter. Da wäre Ithara, unser Hauptgott, der am ehesten euerm Gott entspricht. Er ist der Schöpfer des Himmels und der Erde. Der Himmel hat einen eigenen Gott, den Gott der Luft. Wir stellen ihn als weiße Taube dar. Sein Name ist Hava. Unsere Erdgöttin heißt Prittvi. Wir stellen sie immer als Mutter mit Kind dar. Das Kind ist ihr Sohn Pani, der Gott des Wassers, denn die Erde bringt Wasser hervor. Der Gott des Feuers heißt Aga, eine wilde Bestie mit Hörnern und einem Schwanz. Jeder dieser Götter hat ein Hauptheiligtum, und nach Aga, ins Hauptheiligtum des Gottes des Feuers musst du zuerst.”
“Aga liegt im Land der Feueranbeter - genau an der Stelle, an der erstmals ein Mensch Feuer gemacht hat”, ergänzte der Fürst. “Wir glauben, dass dieses Feuer immer noch brennt - auf der Tempelpyramide. Sollte es jemals verlöschen, werden alle Feuer dieser Welt verlöschen - und niemand wird wieder eins entfachen können.”
“Geh nach Aga”, sagte Sundari. “Hol dir ein Stück vom Feuer, geh dann nach Mandira und hol dir das Licht von Mandira, und dann geh ins Asamana-Taka-Gebirge und besiege die Na’e Vykati. Ist erst einmal der Samsaron Kanasa zum Leben erweckt, bedeutet das das Ende der Welt, so wie wir sie kennen. Das Finstere Zeitalter wird zurückkehren, und du bist der einzige, der es verhindern kann.”
“Dann werde ich es wohl tun müssen”, sagte Andreas.
“Du musst nicht”, entgegnete der Fürst.
“Aber wenn du es nicht tust, ist unser Schicksal besiegelt”, sagte Sundari. “Und deins auch: Denn die dunklen Mächte sind auch schon in Asaliduniya eingedrungen.” Asaliduniya nannten die Lemurier Andreas’ Welt.
Die Banketttafel war lang - etwa doppelt so lang wie Andreas’ Wohnung. Nicht nur die Königin und er hatten daran Platz genommen, sondern der gesamte Hofstaat und einige Gäste - Fürsten, Vasallen, die gerade bei Hof weilten. Einen Mann hatte die Königin nicht an ihrer Seite. Statt dessen hatte Andreas direkt neben ihr Platz genommen - allerdings nicht zu ihrer Linken, wo eigentlich nach lemurischer Tradition ihr Ehemann hätte sitzen müssen. Dieser Platz war demonstrativ leer geblieben. Andreas saß zu ihrer Rechten, an dem Platz, der traditionell dem Ehrengast vorbehalten war - und wenn es keinen Ehrengast als solchen gab, dann dem vornehmsten der übrigen Gäste - und das war in diesem Fall der Fürst von Tandula Bhumi, der Andreas direkt gegenüber saß.
“Nun zum Geschäftlichen”, sagte Königin Sundari. “Oder besser zu den Problemen, die unser Reich und vielleicht sogar unsere ganze Welt beschäftigen. Ich weiß nicht, ob Sie von der Sekte gehört haben, die Na’e Vykati.”
“Sie sollen in den Bergen wohnen und einen bösen Gott zum Leben erwecken”, sagte Andreas.
“Das stimmt”, entgegnete der Fürst. “Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wie Sie wissen, herrscht in Madhya Lemuria Religionsfreiheit. Jeder kann das glauben, was er will - und das wird auch reichlich ausgenutzt. Das liegt in unserer Kultur begründet. Wer von Anfang an an viele Götter glaubt, dem macht es nichts aus, wenn es mal ein paar mehr oder weniger sind - oder wenn eine Religionsgemeinschaft mal glaubt, sie müsste nur an einen Gott glauben. Das ist uns vollkommen egal. Aber es gibt eben Religionen, da hört der Spaß auf.”
“Was der Fürst sagt, ist vollkommen richtig”, sagte Königin Sundari. “Unsere Religion war von Anfang an in viele verschiedene Sekten und Konfessionen gespalten, die nur schwer unter einen Hut zu kriegen sind. Was ich aber nicht dulde, das sind Menschenopfer. Und was ich auch nicht dulde, ist, dass andere intelligente Lebewesen auf den Altären geopfert werden. Zwerge, Wichtel, Elben, Gnome, Trolle - sogar Orks, obwohl die das mieseste sind, was es auf der Götter weiter Erde gibt.”
“Ja, Orks sind richtig üble Burschen”, sagte Andreas. Er war ihnen schon mehrmals im Kampf gegenüber gestanden.
“Der Witz ist: Das tun die Na’e Vykati gar nicht”, fuhr Sundari fort. “Sie wollen es tun, aber haben es bisher noch nicht getan.”
Einige Lemuren kamen mit einem großen Tablett an und stellten es direkt vor der Königin auf den Tisch. Darauf war ein Spanferkel, das von gebratenen Tomaten umgeben war. Auch in seiner Schnauze steckte eine Tomate. Die Königin schnitt sich mit dem Messer ein Stück ab und legte es sich auf den Teller.
“Wo der Spaß auch aufhört, ist, wenn richtig finstere Mächte im Spiel sind”, sagte der Fürst. “Und ich rede nicht von der Göttin Kali. Diese Na’e Vykati legen es wirklich darauf an.”
“Sie glauben, dass es die Welt von Lemuria nicht wirklich gibt”, sagte die Königin. “Sie glauben, diese Welt ist eine Illusion - eine Phantasie, die dem Kopf eines Achtjährigen entsprungen ist.”
“Ich war acht Jahre alt, als ich das erste Mal hier war”, sagte Andreas.
“Wir wollen dir nicht zu nahe treten”, sagte der Fürst. “Aber du bist derjenige, den die Na’e Vykati für den Schöpfer dieser Welt halten. Du bist ihr Gott.”
“Ich dachte, die hätten einen anderen Gott, den sie beschwören wollen. Einen bösartigen Dämon.”
“Das stimmt”, sagte Sundari. “Und hier wird es kompliziert. Um es kurz zu machen: Sie wollen dich töten.”
“Mich töten? Und warum?”
“Sie glauben, dass die Schöpfung unabhängig von ihrem Gott existiert”, sagte der Fürst. “Wenn ein Dichter zum Beispiel stirbt, dann lebt sein Werk trotzdem weiter. Insofern kann eine Welt auch dann weiter leben, wenn ihr Gott tot ist. Aber sie glauben, dass diese Welt nur frei sein kann, wenn sie ihren Schöpfer töten.”
“Und deshalb beschwören sie diesen Dämon?”
“Nein. Ich sagte ja bereits, es wird kompliziert.”
Andreas sah die Königin verwirrt an. “Ich verstehe das nicht.”
“Es gibt viele Welten. Virtuelle Welten, Phantasiewelten, Parallelwelten... Allen diesen Welten ist eines gemeinsam: Für die Bewohner sind sie real. Aber für die Bewohner anderer Welten nicht unbedingt. Das zumindest ist der Glaube der Na’e Vykati. Was passiert mit einem Traum, wenn der Träumer erwacht?”
“Der Traum zerplatzt wie eine Seifenblase”, sagte Andreas.
“Ich glaube das, du glaubst das, und die Königin glaubt das”, sagte der Fürst. “Aber die Na’e Vykati glauben, dass der Traum weiter existiert und dass er vom Träumer frei ist. Sie können jetzt selbst den Traum weiter träumen und selbst bestimmen, wie der Traum weiter geht. Wenn Gott tot ist, wird der Mensch zum neuen Gott.”
“Außer, sie beschwören sich selber einen Gott”, sagte Andreas.
“Falsch”, entgegnete die Königin. “Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das eine ist Befreiung, das zweite ist der Griff nach der Weltherrschaft. Dieser Dämon, den sie beschwören, das ist keine Glaubensfrage. Den gibt es wirklich.”
Andreas nickte. In den rund acht Jahren, in denen er immer wieder nach Lemuria gereist war, hatte er so manchen Dämon getroffen. In seiner eigenen Welt mochte die Frage, ob es wirklich Dämonen gab, eine Glaubensfrage sein. Einige mochten daran glauben, andere nicht. Doch in Lemuria waren sie eine Tatsache, die selbstverständlich hingenommen wurde. Dämonen existierten wie Zwerge, Trolle oder Orks. Man konnte ihnen begegnen, und viele, die Pech hatten, wussten ein Lied davon zu singen.
“Ob sie dich zuerst töten und dann den Dämon beschwören, ob sie zuerst den Dämon beschwören und dich dann töten oder ob sie beides gleichzeitig erledigen, ist vollkommen egal”, sagte der Fürst. “Sie wollen beides tun. Das haben sie sich fest vorgenommen. Und wehe dem, der sich ihnen in den Weg stellt.”
“Aber wenn sie mich töten wollen”, fragte Andreas, “warum muss ich trotzdem diesen gefährlichen Job erledigen?”
“Weil du es kannst”, sagte Sundari. “Du und niemand sonst. Und weil du selber in Gefahr bist. Denn diese Sekte existiert auch in deiner Welt. Und sie werden dich finden, und sie werden dich töten. Wenn du hier bist, ist das für dich ein Vorteil. Du bist ein erfahrener Kämpfer. Du hast hier Fähigkeiten, die du in deiner eigenen Welt nicht hast. In deiner eigenen Welt bist du schwach und langsam und fällst trotz deiner Intelligenz leicht auf die Fallen anderer herein. Diese Fehler hast du hier nicht. Du kannst sie nur hier besiegen. In deiner eigenen Welt ist es sehr gefährlich.”
“Kann ich also von meiner Welt in diese herüber wechseln?”
Sundari schüttelte den Kopf. “Das wird nicht so einfach möglich sein. Du kannst es dir nicht aussuchen, wann du hier und wann du dort bist. Jetzt schläfst du in deiner eigenen Welt; deshalb bist du hier. Wenn du hier schläfst, ist es umgekehrt. Und bedenke, dass die Zeit hier anders verläuft, als in deiner Welt. Innerhalb einer einzigen Nacht können hier Tage vergehen.”
“Wie in Inception.”
“Was ist Inception?”
“Ach was, nicht so wichtig. Also, was habe ich in meiner Welt zu tun?”
“Das wissen wir nicht”, sagte der Fürst. “Wir kennen deine Welt nicht. Die Regeln dieser Welt sind uns fremd. Aber was du in unserer Welt zu tun hast, sagen wir dir gleich. Vorher noch eins: Das, was die Na’e Vykati glauben, ist nicht das, was wir glauben. Wir glauben nicht, dass du ein Gott bist. Und wir glauben auch nicht, dass du unsere Welt erschaffen hast. Die gab es schon vorher. Zumindest ich habe Erinnerungen an die Zeit davor. Wir haben unsere eigene Religion, unsere eigenen Götter. Du hast ganz besondere Kräfte. Aber das macht dich nicht zum Gott.”
“Dem kann ich nur zustimmen”, sagte Sundari. “Und jetzt zu deinen Aufgaben: Du wirst dich nach Mandira begeben und dir dort das Licht von Mandira holen. Es ist die einzige Waffe, mit der du den finsteren Dämon Sansarom Kanasa zerstören kannst. Das Licht von Mandira ist nämlich etwas ganz besonderes - es strahlt hell wie die Sonne - selbst in der Dunkelheit.”
“Das liegt an den Leuchtkristallen”, fuhr der Fürst fort. “Die Zwerge nennen sie den Samen der Sonne. Sie haben diese Kristalle vor unzähligen Zeiten unter der Erde entdeckt. Sie sehen auf dem ersten Blick aus wie gewöhnliche Kristalle. Aber zündet man sie an, brennen sie hell wie die Sonne - und das stundenlang. Deshalb bauen die Zwerge die Leuchtkristalle ab, um sie in ihren Grubenlampen zu verwenden. Das Licht, das so entsteht, hat eine ähnliche Wirkung wie Sonnenlicht. Es lässt sogar Trolle in Stein verwandeln.”
“Aber das Licht von Mandira zu holen, ist eine Herausforderung”, sagte Sundarin. “Die Priester gehören nicht zu meinem Königreich. Sie gehören zu keinem Königreich. Sie lassen sich von niemandem etwas sagen - außer von den Göttern selbst.”
“Ich nehme an, dass ich nicht zu ihrem Olymp gehöre.”
“So ist es. Ihre Götter existieren wirklich.”
“Glaube oder Tatsache?”
“Tatsache.”
“Au weia.”
“Du sagst es. Mit einem Gott legt man sich besser nicht an.”
“Sag das den Na’e Vykati.”
“Sag du das den Atheisten in deiner Welt.”
Andreas schwieg betreten. Er hatte in seinem Leben schon öfter mit dem Atheismus geliebäugelt. Derzeit war er weder Atheist, noch war er gläubig. Er betrachtete Atheisten und religiöse Menschen mit der gleichen Skepsis - insbesondere dann, wenn es sich um Missionare für die eine oder andere Seite handelte. Wer ihm seinen Glauben aufzwingen wollte - egal, wie er aussah -, der hatte von Anfang an verloren. Dieses Lemuria, diese Fantasiewelt, war für ihn nichts anderes als eine Reise, auf die ihn sein Unterbewusstsein schickte. Nichts weiter als ein Computer-Adventure im Kopf. Ein Spiel, eine Simulation, in die er sich als Kind zurückgezogen hatte, als ihm die Realität nichts mehr zu bieten hatte. Aber warum war er jetzt wieder hier? Hatte dieser Robert Jens die Erinnerungen daran wieder geweckt?
Andreas bugsierte eine mit Schweinehackfleisch gefüllte Aubergine auf seinen Teller. Er konnte deutlich den herzhaften, leicht fettigen Geschmack auf der Zunge spüren. Wenn er mit den Fingern über den Tisch fuhr, ertastete er die feine Maserung. Er hörte die Musik, die ein Zwergenorchester spielte. Er nahm die vielfältigen Gerüche exotischer Gewürze wahr. Alle seine Sinne meldeten ihm Details über Details. So etwas konnte kein Traum sein. Es war auf irgendeine Art und Weise real. Aber wie? Würde es seinen Tod bedeuten, wenn er auf einem Abenteuer in Lemuria starb? Oder würde er nur zu Hause in seinem Bett aufwachen?
“Aber wenn ich mich nicht mit Göttern anlegen soll”, sagte Andreas, “wie hole ich das Licht von Mandira?”
“Wer sagt, dass du dich mit Göttern anlegen sollst?” fragte Sundari. “Die Mehrheit der Götter ist auf unserer Seite.”
“Also, wo liegt da das Problem?”
“Pujari Raja heißt das Problem.”
“Noch ein Gott?”
“Ein Mensch. Ein Priester. Der Herr der Priester. Der König von Mandira, wenn man so will. Pujari Raja ist eigentlich nicht böse. Er ist auch nicht gut. Um genau zu sein: Er ist neutral. Aber er glaubt, dass das Ende der Welt gekommen ist, sobald das Licht aus Mandira verschwindet - ganz gleich, was die Götter sagen. Jeden Gott, der versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, sieht er als Lügner oder Betrüger oder als Trick finsterer Mächte an. Und die anderen Priester gehorchen ihm aufs Wort. Pujari Raja musst du besiegen - aber Vorsicht: Er beherrscht Hatya Kikala, eine uralte Kampfkunst.”
“In niederlemurischer Sprache heißt das die Kunst des Tötens”, ergänzte der Fürst, und Andreas erschauerte. Langsam glaubte er nicht mehr, dass sein Unterbewusstsein das alles erfunden hatte.
“Allerdings gibt es vielleicht einen Weg, Pujari Raja zu überzeugen”, sagte Sundari. “Was weißt du über unsere Religion?”
Andreas stammelte etwas von Brahma und Wischnu zusammen, doch Sundari lachte nur. “Nein, wir sind keine Hindus. Die lemurische Religion ist anders. Wir haben fünf Hauptgötter und unzählige Nebengötter. Da wäre Ithara, unser Hauptgott, der am ehesten euerm Gott entspricht. Er ist der Schöpfer des Himmels und der Erde. Der Himmel hat einen eigenen Gott, den Gott der Luft. Wir stellen ihn als weiße Taube dar. Sein Name ist Hava. Unsere Erdgöttin heißt Prittvi. Wir stellen sie immer als Mutter mit Kind dar. Das Kind ist ihr Sohn Pani, der Gott des Wassers, denn die Erde bringt Wasser hervor. Der Gott des Feuers heißt Aga, eine wilde Bestie mit Hörnern und einem Schwanz. Jeder dieser Götter hat ein Hauptheiligtum, und nach Aga, ins Hauptheiligtum des Gottes des Feuers musst du zuerst.”
“Aga liegt im Land der Feueranbeter - genau an der Stelle, an der erstmals ein Mensch Feuer gemacht hat”, ergänzte der Fürst. “Wir glauben, dass dieses Feuer immer noch brennt - auf der Tempelpyramide. Sollte es jemals verlöschen, werden alle Feuer dieser Welt verlöschen - und niemand wird wieder eins entfachen können.”
“Geh nach Aga”, sagte Sundari. “Hol dir ein Stück vom Feuer, geh dann nach Mandira und hol dir das Licht von Mandira, und dann geh ins Asamana-Taka-Gebirge und besiege die Na’e Vykati. Ist erst einmal der Samsaron Kanasa zum Leben erweckt, bedeutet das das Ende der Welt, so wie wir sie kennen. Das Finstere Zeitalter wird zurückkehren, und du bist der einzige, der es verhindern kann.”
“Dann werde ich es wohl tun müssen”, sagte Andreas.
“Du musst nicht”, entgegnete der Fürst.
“Aber wenn du es nicht tust, ist unser Schicksal besiegelt”, sagte Sundari. “Und deins auch: Denn die dunklen Mächte sind auch schon in Asaliduniya eingedrungen.” Asaliduniya nannten die Lemurier Andreas’ Welt.
... link (0 Kommentare) ... comment
Sonntag, 5. Mai 2013
00001001 - Rajadhani
mercury mailer, 10:27h
Ein Lemure riss ihn aus seinen Gedanken. Wohlgemerkt ein Lemure, kein Lemurier. Diese beiden Worte sollte man unter gar keinen Umständen miteinander verwechseln, denn es gilt als grobe Beleidigung, einen Lemurier als Lemuren zu bezeichnen. Lemuren sind Halbaffen, kleine, pelzige Tiere, die den Affen ähnlich sehen. In Lemuria konnten die Lemuren sprechen, und sie hatten auch einen gewissen Grad an Intelligenz. Selten waren sie intelligenter als ein durchschnittlicher Sonderschüler, aber das reichte für ihre Zwecke vollkommen aus, denn die Lemuren dienten den Lemuriern als Sklaven, oder treffender: als Dienstboten. Lemuren mochten zwar im Vergleich mit Menschen nicht sonderlich intelligent sein, aber sie galten als äußerst höflich und waren mit einem feinen Gespür für Anstand ausgestattet. Hinzu kam, dass sie äußerst putzig waren. Sie besaßen also all die Eigenschaften, die Dienstboten bei den Lemuriern brauchten.
Dieser Lemure war klein, hatte ein braunes Fell und einen schwarz-weiß gestreiften Schwanz. Sein Gesicht war fast komplett weiß. Nur um die Augen hatte er zwei schwarze Flecken und einen weiteren um die Schnauze. Es sah ein wenig aus wie ein Totenschädel, doch das Wesen des Lemuren war alles andere als furchteinflößend.
“Ich störe Sie nur ungern, Srimana”, sagte der Lemure. “Aber ich habe den Auftrag, Sie nach Rajadhani zu bringen. Ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten. Mein Name ist Pacasa, und ich stehe stets zu Ihren Diensten.”
Wie zur Zustimmung oder als Kommentar trompetete plötzlich ein Elefant. Andreas sah auf, und da stand er vor ihm: Ein gewaltiger indischer Elefant mit kurzen Stoßzähnen und kleinen Ohren. Auf seinem Rücken trug er so etwas wie einen kleinen Pavillon, der aus einem roten Baldachin bestand, der wiederum von goldenen Säulen getragen wurde. Eine rote Decke mit weißem Muster lag unter dem Baldachin und hing links und rechts an den Flanken des Elefanten herunter. Im Baldachin aber saß ein weiterer Lemur. Er sah aus wie ein Koboldmaki - außer, dass er größer war. Seine beiden Augen nahmen fast den gesamten Kopf ein. Er schien zu grinsen. Dann zog er an einer Leine, und eine Art Strickleiter fiel an der rechten Flanke des Elefanten herab, bis die unterste Sprosse den Boden und die oberste den Pavillon berührte.
“Von wem kommt denn der Auftrag?” fragte Andreas.
“Von Königin Sundari”, antwortete Pacasa. “Ich soll Sie zu ihr bringen.”
“Hat sie noch mehr gesagt?”
“Nein, nur das.”
Andreas stieg die ersten Sprossen der Leiter nach oben. Normalerweise, in seiner Welt, wäre ihm schwindelig geworden. Er hätte sich geweigert weiterzugehen, und er hätte Angst gehabt, er könnte abstürzen. Viel zu wackelig war die Leiter, und sie schwankte hin und her, während er hochkletterte, obwohl der Elefant wie eine Statue stehen blieb. Aber dies war nicht seine Welt. Dies war Lemuria, und hier hatte er Kräfte, die ihm in seiner Welt fehlten. Mühelos erklomm er die Leiter Sprosse für Sprosse, bis er oben im Pavillon angekommen war, wo er auf einem bequemen Teppich Platz nahm. Hinter ihm huschte Pacasa die Leiter hoch, und war Andreas schon flink gewesen, so erwies sich der Lemure als wahres Klettertalent. Es vergingen keine zwei Minuten von der ersten Begegnung bis zum Aufbruch des Elefanten. Pacasa zog noch die Strickleiter nach oben, und schon setzte sich der Elefant in Bewegung. Die Lemuren schienen es eilig zu haben.
Der Weg war länger, als Andreas es in Erinnerung hatte. Zuerst bewegten sie sich durch einen Dschungel mit einem nahezu undurchdringlichen Blätterdach. Zahlreiche Vögel ließen ihr Gekreische hören, während sich der Elefant gemächlich seinen Weg durch das Dickicht bahnte. Doch dann, als die Reise durch den Urwald kein Ende mehr nehmen wollte, öffnete sich der Wald wie ein Vorhang und gab den Blick frei auf eine scheinbar endlose Ebene, die nahezu komplett unter Wasser stand. Nur einige Dämme ragten aus dem Wasser hervor. Der Elefant, der von dem Koboldmaki geführt wurde, stieg auf einen der Dämme, und dann entdeckte Andreas, warum alles unter Wasser stand: Hier wuchs Reis. Und in manchen Becken waren dunkelhäutige Lemurier dabei, die Reispflanzen zu pflegen, zu pflanzen oder zu ernten. Er wusste es auch nicht genau, denn mit Reis kannte er sich nicht aus. Ihn interessierte es auch nicht.
Der Elefant schien keiner Hauptstraße zu folgen. Er bog mal nach rechts, mal nach links auf einen anderen Damm ab. Es war ein Labyrinth von Dämmen, das durch diese Reisebene führte. Schon bald war nach allen Seiten nichts anderes mehr zu sehen als diese unendlichen Reisfelder. Nur in der Ferne erhoben sich die schneebedeckten Gipfel des Asamana-Taka-Gebirges.
Allmählich bekam Andreas Hunger. Aber er unterdrückte ihn. Wenn die Lemuren etwas zu essen für ihn hatten, würden sie es schon sagen. Momentan machten sie keine Anstalten, als würde in der nächsten Zeit irgendetwas geschehen. Sie schwiegen oder unterhielten sich in ihrer ureigenen Sprache, die ein Mensch weder verstehen, noch lernen und erst recht nicht sprechen konnte.
Erst als Andreas dachte, dass er für immer in diesen endlosen Reisfeldern bleiben musste, tauchte eine Kette von Hügeln am Horizont auf. Die Hügel wurden größer und entpuppten sich als veritables Mittelgebirge, das aber - anders als die Mittelgebirge in Deutschland - nicht bewaldet war. Statt dessen bestand es aus Grasland, das ab und zu von Büschen durchsetzt war. Genau darauf hielt der Elefant zu.
Auch das Mittelgebirge war nicht in einer halben Stunde abgehakt - im Gegenteil: Waren sie wohl am frühen Morgen gestartet, so stand die Sonne schon sehr tief, als sie endlich die Anhöhe erreichten, von der Andreas zum ersten Mal die Stadt Rajadhani sehen konnte. Es hatte sich nichts, absolut gar nichts verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war.
Rajadhani war eine Stadt, die in konzentrischen Kreisen angelegt war: In der Mitte stand der Königspalast, ein riesiger Bau mit zahlreichen Innenhöfen inmitten einer gewaltigen Parkanlage. Um den Palast herum waren die Gebäude der Reichen: Königliche Beamte und vor allem Kaufleute, die in großen Villen und geräumigen Gärten residierten. Dann folgten nach außen hin die Gebäude der Mittelschicht. Sie wurden kleiner und auch ein wenig schäbiger. Denn jetzt wohnten Handwerker und kleinere, also weniger reiche Kaufleute in immer noch teilweise schmucken Stadthäusern. Aber die Straßen wurden enger und waren immer seltener gepflastert, und Parks gab es hier kaum noch. Dafür erhob sich so mancher Tempel mit seinen prächtigen Bauten über das Häusermeer. Noch weiter draußen gingen die Stadtviertel der Lohnarbeiter langsam in die Armenviertel, in die Slums der Stadt über. Hier wohnten die Ärmsten der Armen, die Tagelöhner und auch die Bauern, die ihre Felder verlassen hatten in der Hoffnung, in der Stadt eine bessere Arbeit zu finden. Je weiter man nach außen blickte, desto armseliger wurden die Behausungen. Zunächst waren es noch Lehmhütten, dann wurden es einfache Wellblechhütten, die bunt zusammengewürfelt ein labyrinthartiges Gassengewirr bildeten. Noch weiter außen ging die Stadt in das Grasland über. Hier waren es Stoffzelte, in denen die Menschen hausten.
Doch mitten durch die Elendviertel hindurch führten vier Prachtstraßen - eine in jede Himmelsrichtung. So dass jeder den Königspalast erreichen konnte, ohne sich durch die Slums durchzukämpfen. Bewacht waren die Straßen von Rittern in glänzenden Rüstungen, die darauf achteten, dass keiner der Reisenden angegriffen oder auch nur belästigt wurde, der ins Innere der Stadt vordringen wollte.
Auf der Prachtstraße war viel los - und es war nicht verwunderlich, denn es war der einzige Ort der Stadt, an dem sich Menschen aus allen sozialen Schichten tummelten. Da gab es verdreckte, ausgemergelte Männer, die sich gerade mal einen Lendenschurz leisten konnten, Handwerker, die mit Ochsenkarren unterwegs waren - das Automobil war in dieser Welt noch nicht erfunden. Kinder, die in verdreckten Hemden durch die Stadt rannten, und Sänften, in denen Lemuren reiche Menschen durch die Stadt trugen. Ab und zu entdeckte Andreas auch einen Vertreter einer anderen Spezies - einen Zwerg beispielsweise oder einen Zentauren. Aber diese Wesen trauten sich nur selten in die großen Städte der Menschen. Oftmals waren sie und die Lemuren die einzigen intelligenten Spezies in derartigen Städten.
Endlich hatten sie den Königspalast erreicht. Er sah aus wie eine Mischung aus Buckingham-Palast und 1001 Nacht. Genau so hatte sich Andreas immer den Palast des Kaisers von Indien vorgestellt, als er noch klein gewesen war. In der Mitte ein gewaltiges Haus von der Höhe eines Turmes. Die Kuppel, aus dem das Dach bestand, sah so aus wie die Kuppel des Tadsch Mahal. Links und rechts daneben die Seitenflügel, die im Erdgeschoss aus Säulenhallen bestanden, im Obergeschoss dann aber mit eher nüchtern wirkenden Fassaden mit nur wenig Zierrat ausgestattet waren, bevor darüber schlanke, weiße Türme wie Minarette bis in den Himmel wuchsen.
Vor dem Schloss aber war eine hohe Mauer, die von einem noch höheren Eisenzaun bekrönt war. Nur an einer einzigen Stelle gab es einen Durchlass. Die Wachen, die dort Dienst hatten, sahen so ähnlich aus wie britische Palastwachen. Auch sie trugen rote Uniformen, aber auf dem Kopf hatten sie goldene Helme anstatt der schwarzen Bärenfellmützen. Als der Elefant auf die Wachen zukamen, standen sie stramm und salutierten. Andere Wachen öffneten schnell die Schranke, so dass das Tier hindurch marschieren konnte, ohne anzuhalten.
Der Elefant stoppte erst, als sie im Ehrenhof angekommen waren. An drei von vier Seiten waren sie jetzt von Palastflügeln umgeben. Jeder sah anders aus. Neben dem orientalischen Mittelflügel gab es rechts und links Gebäude, die eher an den chinesischen Stil erinnerten. Verspielte, rote Pagodendächer bekrönten die Türme, die auf dem ansonsten nüchternen Gebäude aufsaßen.
Und dann sah er SIE: Sie saß auf dem Thron in einer goldenen Sänfte, die von acht Lemuren getragen wurde. Sie war mit den Jahren noch viel schöner geworden - auch reifer. Und in ihrem Gesicht bildeten sich die ersten Falten. Doch noch immer waren ihre Augen von diesem undurchdringlichen Braun. Noch immer waren ihre Haare schwarz und so lang, dass sie ihr bis zur Hüfte reichten. Noch immer hatte sie diese hohen Wangenknochen, diese gerade und nicht zu große Nase, diese vollen Lippen und diese bronzebraune Haut. Noch immer war sie die schönste Frau, die Andreas je gesehen hatte - was nichts heißen mag, da er ohnehin den ganzen Tag am Computer saß. Aber trotzdem: Auch auf YouTube und Lemuria (also dem Computer-Lemuria) gab es schöne Frauen. Und sie konnten alle nicht Königin Sundari das Wasser reichen.
Andreas erwartete, dass der Koboldmaki jeden Moment die Strickleiter nach unten lassen würde, doch statt dessen geschah etwas anderes: Der Rüssel des Elefanten packte ihn, holte ihn aus dem Pavillon heraus, hob ihn durch die Luft und setzte ihn direkt vor der Sänfte der Königin auf die Füße. Andreas wollte sofort auf die Knie gehen und vor Sundari den Boden küssen, so wie es in Lemuria Brauch war, doch Sundari winkte ab. “Nein, Andreas. Du brauchst vor mir nicht auf die Knie zu gehen. Wir sind alte Freunde. Und als einen solchen möchte ich dich in meinem Haus begrüßen. Nach allem, was du für mein Reich und für unsere Welt getan hast, ist es nur fair, wenn wir uns auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen.”
Sie gab den Lemuren ein Zeichen, und sie ließen die Sänfte nieder. Dann erhob sich Sundari, ging auf Andreas zu und umarmte ihn.
Dieser Lemure war klein, hatte ein braunes Fell und einen schwarz-weiß gestreiften Schwanz. Sein Gesicht war fast komplett weiß. Nur um die Augen hatte er zwei schwarze Flecken und einen weiteren um die Schnauze. Es sah ein wenig aus wie ein Totenschädel, doch das Wesen des Lemuren war alles andere als furchteinflößend.
“Ich störe Sie nur ungern, Srimana”, sagte der Lemure. “Aber ich habe den Auftrag, Sie nach Rajadhani zu bringen. Ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten. Mein Name ist Pacasa, und ich stehe stets zu Ihren Diensten.”
Wie zur Zustimmung oder als Kommentar trompetete plötzlich ein Elefant. Andreas sah auf, und da stand er vor ihm: Ein gewaltiger indischer Elefant mit kurzen Stoßzähnen und kleinen Ohren. Auf seinem Rücken trug er so etwas wie einen kleinen Pavillon, der aus einem roten Baldachin bestand, der wiederum von goldenen Säulen getragen wurde. Eine rote Decke mit weißem Muster lag unter dem Baldachin und hing links und rechts an den Flanken des Elefanten herunter. Im Baldachin aber saß ein weiterer Lemur. Er sah aus wie ein Koboldmaki - außer, dass er größer war. Seine beiden Augen nahmen fast den gesamten Kopf ein. Er schien zu grinsen. Dann zog er an einer Leine, und eine Art Strickleiter fiel an der rechten Flanke des Elefanten herab, bis die unterste Sprosse den Boden und die oberste den Pavillon berührte.
“Von wem kommt denn der Auftrag?” fragte Andreas.
“Von Königin Sundari”, antwortete Pacasa. “Ich soll Sie zu ihr bringen.”
“Hat sie noch mehr gesagt?”
“Nein, nur das.”
Andreas stieg die ersten Sprossen der Leiter nach oben. Normalerweise, in seiner Welt, wäre ihm schwindelig geworden. Er hätte sich geweigert weiterzugehen, und er hätte Angst gehabt, er könnte abstürzen. Viel zu wackelig war die Leiter, und sie schwankte hin und her, während er hochkletterte, obwohl der Elefant wie eine Statue stehen blieb. Aber dies war nicht seine Welt. Dies war Lemuria, und hier hatte er Kräfte, die ihm in seiner Welt fehlten. Mühelos erklomm er die Leiter Sprosse für Sprosse, bis er oben im Pavillon angekommen war, wo er auf einem bequemen Teppich Platz nahm. Hinter ihm huschte Pacasa die Leiter hoch, und war Andreas schon flink gewesen, so erwies sich der Lemure als wahres Klettertalent. Es vergingen keine zwei Minuten von der ersten Begegnung bis zum Aufbruch des Elefanten. Pacasa zog noch die Strickleiter nach oben, und schon setzte sich der Elefant in Bewegung. Die Lemuren schienen es eilig zu haben.
Der Weg war länger, als Andreas es in Erinnerung hatte. Zuerst bewegten sie sich durch einen Dschungel mit einem nahezu undurchdringlichen Blätterdach. Zahlreiche Vögel ließen ihr Gekreische hören, während sich der Elefant gemächlich seinen Weg durch das Dickicht bahnte. Doch dann, als die Reise durch den Urwald kein Ende mehr nehmen wollte, öffnete sich der Wald wie ein Vorhang und gab den Blick frei auf eine scheinbar endlose Ebene, die nahezu komplett unter Wasser stand. Nur einige Dämme ragten aus dem Wasser hervor. Der Elefant, der von dem Koboldmaki geführt wurde, stieg auf einen der Dämme, und dann entdeckte Andreas, warum alles unter Wasser stand: Hier wuchs Reis. Und in manchen Becken waren dunkelhäutige Lemurier dabei, die Reispflanzen zu pflegen, zu pflanzen oder zu ernten. Er wusste es auch nicht genau, denn mit Reis kannte er sich nicht aus. Ihn interessierte es auch nicht.
Der Elefant schien keiner Hauptstraße zu folgen. Er bog mal nach rechts, mal nach links auf einen anderen Damm ab. Es war ein Labyrinth von Dämmen, das durch diese Reisebene führte. Schon bald war nach allen Seiten nichts anderes mehr zu sehen als diese unendlichen Reisfelder. Nur in der Ferne erhoben sich die schneebedeckten Gipfel des Asamana-Taka-Gebirges.
Allmählich bekam Andreas Hunger. Aber er unterdrückte ihn. Wenn die Lemuren etwas zu essen für ihn hatten, würden sie es schon sagen. Momentan machten sie keine Anstalten, als würde in der nächsten Zeit irgendetwas geschehen. Sie schwiegen oder unterhielten sich in ihrer ureigenen Sprache, die ein Mensch weder verstehen, noch lernen und erst recht nicht sprechen konnte.
Erst als Andreas dachte, dass er für immer in diesen endlosen Reisfeldern bleiben musste, tauchte eine Kette von Hügeln am Horizont auf. Die Hügel wurden größer und entpuppten sich als veritables Mittelgebirge, das aber - anders als die Mittelgebirge in Deutschland - nicht bewaldet war. Statt dessen bestand es aus Grasland, das ab und zu von Büschen durchsetzt war. Genau darauf hielt der Elefant zu.
Auch das Mittelgebirge war nicht in einer halben Stunde abgehakt - im Gegenteil: Waren sie wohl am frühen Morgen gestartet, so stand die Sonne schon sehr tief, als sie endlich die Anhöhe erreichten, von der Andreas zum ersten Mal die Stadt Rajadhani sehen konnte. Es hatte sich nichts, absolut gar nichts verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war.
Rajadhani war eine Stadt, die in konzentrischen Kreisen angelegt war: In der Mitte stand der Königspalast, ein riesiger Bau mit zahlreichen Innenhöfen inmitten einer gewaltigen Parkanlage. Um den Palast herum waren die Gebäude der Reichen: Königliche Beamte und vor allem Kaufleute, die in großen Villen und geräumigen Gärten residierten. Dann folgten nach außen hin die Gebäude der Mittelschicht. Sie wurden kleiner und auch ein wenig schäbiger. Denn jetzt wohnten Handwerker und kleinere, also weniger reiche Kaufleute in immer noch teilweise schmucken Stadthäusern. Aber die Straßen wurden enger und waren immer seltener gepflastert, und Parks gab es hier kaum noch. Dafür erhob sich so mancher Tempel mit seinen prächtigen Bauten über das Häusermeer. Noch weiter draußen gingen die Stadtviertel der Lohnarbeiter langsam in die Armenviertel, in die Slums der Stadt über. Hier wohnten die Ärmsten der Armen, die Tagelöhner und auch die Bauern, die ihre Felder verlassen hatten in der Hoffnung, in der Stadt eine bessere Arbeit zu finden. Je weiter man nach außen blickte, desto armseliger wurden die Behausungen. Zunächst waren es noch Lehmhütten, dann wurden es einfache Wellblechhütten, die bunt zusammengewürfelt ein labyrinthartiges Gassengewirr bildeten. Noch weiter außen ging die Stadt in das Grasland über. Hier waren es Stoffzelte, in denen die Menschen hausten.
Doch mitten durch die Elendviertel hindurch führten vier Prachtstraßen - eine in jede Himmelsrichtung. So dass jeder den Königspalast erreichen konnte, ohne sich durch die Slums durchzukämpfen. Bewacht waren die Straßen von Rittern in glänzenden Rüstungen, die darauf achteten, dass keiner der Reisenden angegriffen oder auch nur belästigt wurde, der ins Innere der Stadt vordringen wollte.
Auf der Prachtstraße war viel los - und es war nicht verwunderlich, denn es war der einzige Ort der Stadt, an dem sich Menschen aus allen sozialen Schichten tummelten. Da gab es verdreckte, ausgemergelte Männer, die sich gerade mal einen Lendenschurz leisten konnten, Handwerker, die mit Ochsenkarren unterwegs waren - das Automobil war in dieser Welt noch nicht erfunden. Kinder, die in verdreckten Hemden durch die Stadt rannten, und Sänften, in denen Lemuren reiche Menschen durch die Stadt trugen. Ab und zu entdeckte Andreas auch einen Vertreter einer anderen Spezies - einen Zwerg beispielsweise oder einen Zentauren. Aber diese Wesen trauten sich nur selten in die großen Städte der Menschen. Oftmals waren sie und die Lemuren die einzigen intelligenten Spezies in derartigen Städten.
Endlich hatten sie den Königspalast erreicht. Er sah aus wie eine Mischung aus Buckingham-Palast und 1001 Nacht. Genau so hatte sich Andreas immer den Palast des Kaisers von Indien vorgestellt, als er noch klein gewesen war. In der Mitte ein gewaltiges Haus von der Höhe eines Turmes. Die Kuppel, aus dem das Dach bestand, sah so aus wie die Kuppel des Tadsch Mahal. Links und rechts daneben die Seitenflügel, die im Erdgeschoss aus Säulenhallen bestanden, im Obergeschoss dann aber mit eher nüchtern wirkenden Fassaden mit nur wenig Zierrat ausgestattet waren, bevor darüber schlanke, weiße Türme wie Minarette bis in den Himmel wuchsen.
Vor dem Schloss aber war eine hohe Mauer, die von einem noch höheren Eisenzaun bekrönt war. Nur an einer einzigen Stelle gab es einen Durchlass. Die Wachen, die dort Dienst hatten, sahen so ähnlich aus wie britische Palastwachen. Auch sie trugen rote Uniformen, aber auf dem Kopf hatten sie goldene Helme anstatt der schwarzen Bärenfellmützen. Als der Elefant auf die Wachen zukamen, standen sie stramm und salutierten. Andere Wachen öffneten schnell die Schranke, so dass das Tier hindurch marschieren konnte, ohne anzuhalten.
Der Elefant stoppte erst, als sie im Ehrenhof angekommen waren. An drei von vier Seiten waren sie jetzt von Palastflügeln umgeben. Jeder sah anders aus. Neben dem orientalischen Mittelflügel gab es rechts und links Gebäude, die eher an den chinesischen Stil erinnerten. Verspielte, rote Pagodendächer bekrönten die Türme, die auf dem ansonsten nüchternen Gebäude aufsaßen.
Und dann sah er SIE: Sie saß auf dem Thron in einer goldenen Sänfte, die von acht Lemuren getragen wurde. Sie war mit den Jahren noch viel schöner geworden - auch reifer. Und in ihrem Gesicht bildeten sich die ersten Falten. Doch noch immer waren ihre Augen von diesem undurchdringlichen Braun. Noch immer waren ihre Haare schwarz und so lang, dass sie ihr bis zur Hüfte reichten. Noch immer hatte sie diese hohen Wangenknochen, diese gerade und nicht zu große Nase, diese vollen Lippen und diese bronzebraune Haut. Noch immer war sie die schönste Frau, die Andreas je gesehen hatte - was nichts heißen mag, da er ohnehin den ganzen Tag am Computer saß. Aber trotzdem: Auch auf YouTube und Lemuria (also dem Computer-Lemuria) gab es schöne Frauen. Und sie konnten alle nicht Königin Sundari das Wasser reichen.
Andreas erwartete, dass der Koboldmaki jeden Moment die Strickleiter nach unten lassen würde, doch statt dessen geschah etwas anderes: Der Rüssel des Elefanten packte ihn, holte ihn aus dem Pavillon heraus, hob ihn durch die Luft und setzte ihn direkt vor der Sänfte der Königin auf die Füße. Andreas wollte sofort auf die Knie gehen und vor Sundari den Boden küssen, so wie es in Lemuria Brauch war, doch Sundari winkte ab. “Nein, Andreas. Du brauchst vor mir nicht auf die Knie zu gehen. Wir sind alte Freunde. Und als einen solchen möchte ich dich in meinem Haus begrüßen. Nach allem, was du für mein Reich und für unsere Welt getan hast, ist es nur fair, wenn wir uns auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen.”
Sie gab den Lemuren ein Zeichen, und sie ließen die Sänfte nieder. Dann erhob sich Sundari, ging auf Andreas zu und umarmte ihn.
... link (0 Kommentare) ... comment
Samstag, 4. Mai 2013
00001000 - Am See
mercury mailer, 19:22h
Es klopfte an die Tür.
“Andreas, bist du da drin?”
Seine Mutter.
“Ich muss jetzt gehen”, sagte er zu Prinzessin Sundari. Das Mädchen zog einen Schmollmund und gab ihm einen letzten, flüchtigen Kuss auf die Lippen. Dann löste sich die Prinzessin in Luft auf - und mit ihr der ganze Königspalast. Jetzt saß er wieder im Lesesessel in seinem Zimmer, in seiner Hand die Chroniken von Narnia, in denen er in den vergangenen Stunden kaum gelesen hatte. Kaum hatte er das Buch geöffnet, war er wieder nach Lemuria gekommen - das märchenhaft schöne Land mit der märchenhaft schönen Prinzessin, der er ewige Liebe geschworen hatte. Wenn er groß war, würde er sie mal heiraten. Das hatte er sich fest vorgenommen.
“Andreas, was hast du hier verloren? Draußen ist so schönes Wetter!”
“Draußen ist langweilig”, sagte Andreas. Draußen gab es keine Prinzessinnen. Nur doofe Mädchen aus seiner Klasse. Und die waren weder besonders schön, noch besonders nett zu ihm.
“Komm, geh raus, spielen! Schnapp dir dein Fahrrad und fahr einmal um den Block.”
Das sagte sie jedesmal, wenn ihr nichts mehr einfiel. Schon seit Jahren hatte er keinen neuen Freund mit nach Hause gebracht - weil er keine Freunde hatte. Nicht einen einzigen. Warum auch? Er konnte mit ihnen nichts anfangen. Sie lebten in ihrer eigenen Welt - und er lebte in der seinen. Wenn er mit anderen Leuten aus seiner Klasse zusammen war, dann unterhielten sie sich über Dinge, die ihn langweilten, die er nicht verstand. Sie schienen sich sogar manchmal zu verstehen, ohne dass sie miteinander sprechen mussten. Andreas war das unheimlich.
“Also gut!” Es war mehr eine lästige Pflichtübung. Einmal die Straße runter, dann den jungen Ahornbaum umrundet, der am Ende der Straße in der Mitte auf einer kleinen Verkehrsinsel stand, und dann wieder zurück.
“Aber nicht bloß um den Baum”, fügte seine Mutter hinzu.
Andreas stöhnte.
“Warum gehst du nicht auf die Wiese und spielst Fußball mit den anderen Jungs?”
Weil Andreas Fußball hasste. Er hasste es wie die Pest. 22 Männer, die einem Ball hinterher jagten. Die versuchten, den Ball ins gegnerische Tor zu schießen. Neunzig Minuten lang geschah nichts anderes. Langweilig. Und er selber wollte es erst recht nicht spielen, weil er sich als zu ungeschickt erwiesen hatte. Wenn er mal den Ball hatte, dann wusste er nicht, was er tun sollte, und so stand er immer unschlüssig auf dem Platz herum, bis einer der Gegner ihm den Ball abgenommen hatte. Aus diesem Grund wurde er immer als letzter in die Mannschaft gewählt, und dann bestand seine Strategie darin, möglichst nicht an den Ball zu kommen. Am Anfang hatten die anderen noch versucht, ihn ins Spiel zu integrieren. Doch nachdem sie gemerkt hatten, dass er damit völlig überfordert war, hatten sie es sein lassen. Nein, Fußball, das war definitiv nichts für ihn. Das konnte er nicht. Dazu war er nicht fähig. “Oder spiel mit den anderen fangen.”
Genau so eine Katastrophe. Entweder musste er selber fangen und erwischte nie jemanden, oder er gehörte selber zu denjenigen, die gefangen werden sollten - und war immer der erste, der erwischt wurde. Genau wie beim Völkerball, beim Berliner Wettlauf, bei “Fischer, Fischer, welche Fahne weht heute?” oder bei “Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?”. Eine einzige Katastrophe.
Neuerdings spielten die Kinder aus seinem Viertel im Wendehammer der Nachbarstraße Rollschuhfangen - und er hatte keine Rollschuhe. Das heißt, er hatte welche, war ihnen aber schon längst entwachsen. Er hatte sie nur einmal angehabt und war dabei fürchterlich auf die Nase geflogen - und das schon nach wenigen Schritten. Seine Knie hatten beide geblutet, denn er war - wie es damals unter Kindern üblich war - ohne Knieschützer gefahren. Seitdem hatte er es nie wieder probiert - und damit war er bei den Kindern im Viertel abgemeldet.
Blieb also das Fahrradfahren. Und das tat er alleine. Einmal quer durch die Siedlung durch die zahlreichen Fuß- und Radwege, vorbei an kleinen Reihenhäusern mit Gärten. Mal fuhr er auch runter zum Spielplatz, wo er schaukelte. Und manchmal etwas weiter weg bis zum See, wo er sich ans Ufer legte, dem sanften Plätschern und dem Zwitschern der Vögel zuhörte und sich nach Lemuria träumte.
“Ich fahr Rad”, sagte Andreas. “Und nicht nur um den Baum.”
Er ging in die Garage, schnappte sich sein Fahrrad, schloss das Garagentor ab und machte sich dann auf den Weg. Der Fahrtwind peitschte ihm ins Gesicht, als er die Straße seines Elternhauses verließ und nach rechts in die nächste Straße einbog. Eine wenig stark befahrene Straße, die mitten durch das Wohngebiet führte. Heute lag sie in der 30er-Zone, doch damals durften die Autos hier noch 50 fahren. Seine Mutter hatte immer Angst, wenn er das eng umrissene Wohnviertel verließ, doch dann wurde es für Andreas erst spannend. Im Viertel gab es nur Häuser, einen Spielplatz, eine Wiese, auf der die Kinder immer Fußball spielten, diverse Wohnwege mit Einfamilienhäusern, Reihenhäusern und einem Hochhaus, das direkt an der Wiese stand. Gepflegte Langeweile. Und Kinder, die ihm auf die Nerven gingen. Weil sie sich über ihn lustig machten, weil sie ihn nicht mitspielen ließen. Weil sie gehörige Nervensägen waren. Sie ärgerten ihn sogar, wenn er ihnen zu nahe kam. Und er war recht leicht zu ärgern, da er alles glaubte, was man ihm erzählte - sofern es einigermaßen glaubwürdig war.
Also nichts wie raus aus dem Viertel, eine Straße in Richtung Westen, eine größere Straße überquert, und schon war er dem Autoverkehr entronnen. Er hatte die Felder erreicht, die sich im Westen der Stadt ausbreiteten - bis hin zum See. Hier hatte er seine Ruhe. Ab und zu fuhren hier noch Traktoren oder andere Fahrräder, aber ansonsten waren hier nur Felder und die Bahnstrecke, auf der aber selten nur ein Zug fuhr.
In den Wiesen und Feldern westlich der Stadt roch es nach Sommer. Die Grillen verbreiteten ihren zirpenden Lärm, und von der Ferne tönte der Fahrzeuglärm der Autobahn. Aber ansonsten war es ruhig, und Andreas hörte, wie seine Reifen über den Asphalt des Feldwegs rollten und wie seine Kette die Räder antrieb. Er hatte auf dem geraden Feldweg beschleunigt - sein Tachometer zeigte jetzt 30 km/h an. Das war schnell für einen Jungen in seinem Alter. Aber er liebte es, schnell zu fahren und den Wind in seinem Gesicht zu spüren.
Am See angekommen versteckte er sein Fahrrad in einem Gebüsch und ging hinab ans Ufer, bis er direkt an der Wasserfläche stand, die in der Sonne silbrig golden funkelte. Er hörte das Quaken der Frösche und beobachtete, wie Wasserläufer über das Wasser huschten - so wie einst Jesus auf dem Wasser gegangen war.
“Schön hier, nicht wahr?” hörte er plötzlich eine Stimme. Die Stimme eines Mädchens. Er sah sich um und erblickte Prinzessin Sundari. Zunächst war er leicht verwirrt, denn Sundari hatte er noch nie in der wirklichen Welt gesehen. Sonst war Sathi der einzige Lemurier, der je in seiner eigenen Welt aufgetaucht war.
Anmutig schritt sie auf Andreas zu. Ihr langes, schwarzes Haar glänzte in der Sonne. Ihre dunklen Augeln funkelten ihn an. Sie lächelte und entblößte dabei strahlend weiße Zähne.
“Du lebst in einer sehr schönen Welt”, stellte sie fest.
“Nicht so schön wie deine”, entgegnete Andreas. Ganz entgegen seiner Gewohnheit blickte er ihr tief in die Augen.
“Aber schau doch: Der See, die Tiere. Der Sommer.” Sie hatte einen süßen Akzent.
“Aber in deiner Welt begegnet man sich mit viel mehr Respekt. Das fehlt in dieser Welt. Niemand hat Respekt vor mir.”
“Hier weiß keiner, was für ein Held du bist.”
“Weil ich kein Held bin. In deiner Welt bin ich stark. Hier bin ich schwach. In deiner Welt kann ich reiten und fechten. Hier kann ich es nicht. Ich bin wie Superman. In deiner Welt wachsen mir Superkräfte, die ich hier nicht habe.”
“Wer ist Superman?”
“Nicht so wichtig.”
Er warf einen Kieselstein in den See, der mit einem lauten Platschen und Glucksen unterging.
“Meinst du, wir könnten zusammen in deiner Welt leben?”
Andreas schüttelte den Kopf. “Ich will in dieser Welt nicht leben. Erwachsen sein ist furchtbar. Meine Eltern sitzen ständig mit dem Taschenrechner im Wohnzimmer und zahlen Rechnungen oder schreiben an der Steuererklärung. Mein Vater hämmert und bohrt, meine Mutter näht und strickt. Ich will das alles nicht. Und alle machen sich über mich lustig - und ich weiß noch nicht mal, warum.”
“Weil du anders bist.”
“Wieso anders?”
“Du kommst aus einer anderen Welt.”
“Aus deiner Welt?”
Sundari lachte. “Ich glaube nicht - aber es wäre möglich.”
“Aber das erklärt vieles. Ich kann keine Schuhe binden - und wenn ich sie doch binde, dann gehen sie immer auf. Meine Mutter kauft mir deswegen immer Klettverschlussschuhe. Ich konnte früher nicht mit dem Füller schreiben. Meine ganze Hand war blau, wenn ich es versucht habe. Ich kann nicht basteln. Ich kriege das nie so gut hin wie die anderen Kinder. Was die anderen Kinder können, ohne sich anzustrengen, das krieg ich nicht hin - auch wenn ich mich noch so anstrenge.”
“Gibt es denn nichts, was du besonders gut kannst?”
“Doch. Lesen. Das konnte ich schon, bevor ich in die Schule bin. Rechnen. Ich bin besser als alle anderen in meiner Klasse. Und schreiben. Wenn wir Aufsätze als Hausaufgaben auf hatten, dann wollen alle Kinder, dass ich meinen Aufsatz vorlese - weil sie meine Aufsätze so toll finden.”
“Na, siehst du, man kann nichts alles können.”
“Was kannst du denn?”
“Mein Vater bringt mir das Regieren bei. Er sagt, da ich keine Brüder habe und die älteste bin, werde ich eines Tages Königin.”
“Und was machst du jetzt genau, wenn du regierst?”
“Ich sage den Leuten, was sie machen sollen und was nicht.”
“Das ist einfach.”
“So, glaubst du? Dann stell dir vor, du bist König, und in deinem Reich ist eine Seuche ausgebrochen. Eine sehr gefährliche, sehr ansteckende und tödliche Seuche. Da taucht eines Tages ein Alchemist auf, der sagt, er hätte das Gegenmittel gefunden. Aber nur die Reichen können es sich leisten. Also werden die Reichen gesund, während die Armen krank bleiben und weiterhin sterben. Du beschließt als König, den Armen die Medikamente zu spendieren. Der Alchemist nennt dir seinen Preis, aber dein Schatzmeister sagt dir, dass du den Preis nicht bezahlen kannst. Du gehst zum Alchemisten und bittest ihn, mit dem Preis nach unten zu gehen. Aber er weigert sich und sagt, er braucht das Geld. Was tust du?”
“Ich würde ihn festnehmen und zwingen, das Mittel rauszurücken.”
“Würdest du das wirklich?” Sie sah ihn verschmitzt an.
“Würde dich das zu einem guten König machen?” Sie war süß.
“Ich würde gerne König werden. Wenn ich groß bin, dann heirate ich dich, und dann werden wir zusammen über Lemuria regieren.”
“Über Madhya Lemuria”, verbesserte ihn Sundari. “Lemuria ist der Name des Kontinents, und da gibt es auch noch andere Länder. Aber ja, wenn ich groß bin, will ich dich auch heiraten. Aber mein Vater hat gesagt, wenn ich groß bin, dann bin ich Königin, und wenn ich heirate, dann ist mein Mann nur der Prinzgemahl, aber kein König.”
“Damit könnte ich leben”, sagte Andreas. “Du bist das schönste Mädchen, das ich kenne. Und das liebste.
“Ja? Du bist aber auch nicht übel.”
Er wollte sie küssen, aber er war erst neun Jahre alt und noch nicht in der Pubertät. Außerdem wusste er nicht, wie man “richtig” küsst, und so gab er ihr nur einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Sie lächelte.
“Andreas, bist du da drin?”
Seine Mutter.
“Ich muss jetzt gehen”, sagte er zu Prinzessin Sundari. Das Mädchen zog einen Schmollmund und gab ihm einen letzten, flüchtigen Kuss auf die Lippen. Dann löste sich die Prinzessin in Luft auf - und mit ihr der ganze Königspalast. Jetzt saß er wieder im Lesesessel in seinem Zimmer, in seiner Hand die Chroniken von Narnia, in denen er in den vergangenen Stunden kaum gelesen hatte. Kaum hatte er das Buch geöffnet, war er wieder nach Lemuria gekommen - das märchenhaft schöne Land mit der märchenhaft schönen Prinzessin, der er ewige Liebe geschworen hatte. Wenn er groß war, würde er sie mal heiraten. Das hatte er sich fest vorgenommen.
“Andreas, was hast du hier verloren? Draußen ist so schönes Wetter!”
“Draußen ist langweilig”, sagte Andreas. Draußen gab es keine Prinzessinnen. Nur doofe Mädchen aus seiner Klasse. Und die waren weder besonders schön, noch besonders nett zu ihm.
“Komm, geh raus, spielen! Schnapp dir dein Fahrrad und fahr einmal um den Block.”
Das sagte sie jedesmal, wenn ihr nichts mehr einfiel. Schon seit Jahren hatte er keinen neuen Freund mit nach Hause gebracht - weil er keine Freunde hatte. Nicht einen einzigen. Warum auch? Er konnte mit ihnen nichts anfangen. Sie lebten in ihrer eigenen Welt - und er lebte in der seinen. Wenn er mit anderen Leuten aus seiner Klasse zusammen war, dann unterhielten sie sich über Dinge, die ihn langweilten, die er nicht verstand. Sie schienen sich sogar manchmal zu verstehen, ohne dass sie miteinander sprechen mussten. Andreas war das unheimlich.
“Also gut!” Es war mehr eine lästige Pflichtübung. Einmal die Straße runter, dann den jungen Ahornbaum umrundet, der am Ende der Straße in der Mitte auf einer kleinen Verkehrsinsel stand, und dann wieder zurück.
“Aber nicht bloß um den Baum”, fügte seine Mutter hinzu.
Andreas stöhnte.
“Warum gehst du nicht auf die Wiese und spielst Fußball mit den anderen Jungs?”
Weil Andreas Fußball hasste. Er hasste es wie die Pest. 22 Männer, die einem Ball hinterher jagten. Die versuchten, den Ball ins gegnerische Tor zu schießen. Neunzig Minuten lang geschah nichts anderes. Langweilig. Und er selber wollte es erst recht nicht spielen, weil er sich als zu ungeschickt erwiesen hatte. Wenn er mal den Ball hatte, dann wusste er nicht, was er tun sollte, und so stand er immer unschlüssig auf dem Platz herum, bis einer der Gegner ihm den Ball abgenommen hatte. Aus diesem Grund wurde er immer als letzter in die Mannschaft gewählt, und dann bestand seine Strategie darin, möglichst nicht an den Ball zu kommen. Am Anfang hatten die anderen noch versucht, ihn ins Spiel zu integrieren. Doch nachdem sie gemerkt hatten, dass er damit völlig überfordert war, hatten sie es sein lassen. Nein, Fußball, das war definitiv nichts für ihn. Das konnte er nicht. Dazu war er nicht fähig. “Oder spiel mit den anderen fangen.”
Genau so eine Katastrophe. Entweder musste er selber fangen und erwischte nie jemanden, oder er gehörte selber zu denjenigen, die gefangen werden sollten - und war immer der erste, der erwischt wurde. Genau wie beim Völkerball, beim Berliner Wettlauf, bei “Fischer, Fischer, welche Fahne weht heute?” oder bei “Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?”. Eine einzige Katastrophe.
Neuerdings spielten die Kinder aus seinem Viertel im Wendehammer der Nachbarstraße Rollschuhfangen - und er hatte keine Rollschuhe. Das heißt, er hatte welche, war ihnen aber schon längst entwachsen. Er hatte sie nur einmal angehabt und war dabei fürchterlich auf die Nase geflogen - und das schon nach wenigen Schritten. Seine Knie hatten beide geblutet, denn er war - wie es damals unter Kindern üblich war - ohne Knieschützer gefahren. Seitdem hatte er es nie wieder probiert - und damit war er bei den Kindern im Viertel abgemeldet.
Blieb also das Fahrradfahren. Und das tat er alleine. Einmal quer durch die Siedlung durch die zahlreichen Fuß- und Radwege, vorbei an kleinen Reihenhäusern mit Gärten. Mal fuhr er auch runter zum Spielplatz, wo er schaukelte. Und manchmal etwas weiter weg bis zum See, wo er sich ans Ufer legte, dem sanften Plätschern und dem Zwitschern der Vögel zuhörte und sich nach Lemuria träumte.
“Ich fahr Rad”, sagte Andreas. “Und nicht nur um den Baum.”
Er ging in die Garage, schnappte sich sein Fahrrad, schloss das Garagentor ab und machte sich dann auf den Weg. Der Fahrtwind peitschte ihm ins Gesicht, als er die Straße seines Elternhauses verließ und nach rechts in die nächste Straße einbog. Eine wenig stark befahrene Straße, die mitten durch das Wohngebiet führte. Heute lag sie in der 30er-Zone, doch damals durften die Autos hier noch 50 fahren. Seine Mutter hatte immer Angst, wenn er das eng umrissene Wohnviertel verließ, doch dann wurde es für Andreas erst spannend. Im Viertel gab es nur Häuser, einen Spielplatz, eine Wiese, auf der die Kinder immer Fußball spielten, diverse Wohnwege mit Einfamilienhäusern, Reihenhäusern und einem Hochhaus, das direkt an der Wiese stand. Gepflegte Langeweile. Und Kinder, die ihm auf die Nerven gingen. Weil sie sich über ihn lustig machten, weil sie ihn nicht mitspielen ließen. Weil sie gehörige Nervensägen waren. Sie ärgerten ihn sogar, wenn er ihnen zu nahe kam. Und er war recht leicht zu ärgern, da er alles glaubte, was man ihm erzählte - sofern es einigermaßen glaubwürdig war.
Also nichts wie raus aus dem Viertel, eine Straße in Richtung Westen, eine größere Straße überquert, und schon war er dem Autoverkehr entronnen. Er hatte die Felder erreicht, die sich im Westen der Stadt ausbreiteten - bis hin zum See. Hier hatte er seine Ruhe. Ab und zu fuhren hier noch Traktoren oder andere Fahrräder, aber ansonsten waren hier nur Felder und die Bahnstrecke, auf der aber selten nur ein Zug fuhr.
In den Wiesen und Feldern westlich der Stadt roch es nach Sommer. Die Grillen verbreiteten ihren zirpenden Lärm, und von der Ferne tönte der Fahrzeuglärm der Autobahn. Aber ansonsten war es ruhig, und Andreas hörte, wie seine Reifen über den Asphalt des Feldwegs rollten und wie seine Kette die Räder antrieb. Er hatte auf dem geraden Feldweg beschleunigt - sein Tachometer zeigte jetzt 30 km/h an. Das war schnell für einen Jungen in seinem Alter. Aber er liebte es, schnell zu fahren und den Wind in seinem Gesicht zu spüren.
Am See angekommen versteckte er sein Fahrrad in einem Gebüsch und ging hinab ans Ufer, bis er direkt an der Wasserfläche stand, die in der Sonne silbrig golden funkelte. Er hörte das Quaken der Frösche und beobachtete, wie Wasserläufer über das Wasser huschten - so wie einst Jesus auf dem Wasser gegangen war.
“Schön hier, nicht wahr?” hörte er plötzlich eine Stimme. Die Stimme eines Mädchens. Er sah sich um und erblickte Prinzessin Sundari. Zunächst war er leicht verwirrt, denn Sundari hatte er noch nie in der wirklichen Welt gesehen. Sonst war Sathi der einzige Lemurier, der je in seiner eigenen Welt aufgetaucht war.
Anmutig schritt sie auf Andreas zu. Ihr langes, schwarzes Haar glänzte in der Sonne. Ihre dunklen Augeln funkelten ihn an. Sie lächelte und entblößte dabei strahlend weiße Zähne.
“Du lebst in einer sehr schönen Welt”, stellte sie fest.
“Nicht so schön wie deine”, entgegnete Andreas. Ganz entgegen seiner Gewohnheit blickte er ihr tief in die Augen.
“Aber schau doch: Der See, die Tiere. Der Sommer.” Sie hatte einen süßen Akzent.
“Aber in deiner Welt begegnet man sich mit viel mehr Respekt. Das fehlt in dieser Welt. Niemand hat Respekt vor mir.”
“Hier weiß keiner, was für ein Held du bist.”
“Weil ich kein Held bin. In deiner Welt bin ich stark. Hier bin ich schwach. In deiner Welt kann ich reiten und fechten. Hier kann ich es nicht. Ich bin wie Superman. In deiner Welt wachsen mir Superkräfte, die ich hier nicht habe.”
“Wer ist Superman?”
“Nicht so wichtig.”
Er warf einen Kieselstein in den See, der mit einem lauten Platschen und Glucksen unterging.
“Meinst du, wir könnten zusammen in deiner Welt leben?”
Andreas schüttelte den Kopf. “Ich will in dieser Welt nicht leben. Erwachsen sein ist furchtbar. Meine Eltern sitzen ständig mit dem Taschenrechner im Wohnzimmer und zahlen Rechnungen oder schreiben an der Steuererklärung. Mein Vater hämmert und bohrt, meine Mutter näht und strickt. Ich will das alles nicht. Und alle machen sich über mich lustig - und ich weiß noch nicht mal, warum.”
“Weil du anders bist.”
“Wieso anders?”
“Du kommst aus einer anderen Welt.”
“Aus deiner Welt?”
Sundari lachte. “Ich glaube nicht - aber es wäre möglich.”
“Aber das erklärt vieles. Ich kann keine Schuhe binden - und wenn ich sie doch binde, dann gehen sie immer auf. Meine Mutter kauft mir deswegen immer Klettverschlussschuhe. Ich konnte früher nicht mit dem Füller schreiben. Meine ganze Hand war blau, wenn ich es versucht habe. Ich kann nicht basteln. Ich kriege das nie so gut hin wie die anderen Kinder. Was die anderen Kinder können, ohne sich anzustrengen, das krieg ich nicht hin - auch wenn ich mich noch so anstrenge.”
“Gibt es denn nichts, was du besonders gut kannst?”
“Doch. Lesen. Das konnte ich schon, bevor ich in die Schule bin. Rechnen. Ich bin besser als alle anderen in meiner Klasse. Und schreiben. Wenn wir Aufsätze als Hausaufgaben auf hatten, dann wollen alle Kinder, dass ich meinen Aufsatz vorlese - weil sie meine Aufsätze so toll finden.”
“Na, siehst du, man kann nichts alles können.”
“Was kannst du denn?”
“Mein Vater bringt mir das Regieren bei. Er sagt, da ich keine Brüder habe und die älteste bin, werde ich eines Tages Königin.”
“Und was machst du jetzt genau, wenn du regierst?”
“Ich sage den Leuten, was sie machen sollen und was nicht.”
“Das ist einfach.”
“So, glaubst du? Dann stell dir vor, du bist König, und in deinem Reich ist eine Seuche ausgebrochen. Eine sehr gefährliche, sehr ansteckende und tödliche Seuche. Da taucht eines Tages ein Alchemist auf, der sagt, er hätte das Gegenmittel gefunden. Aber nur die Reichen können es sich leisten. Also werden die Reichen gesund, während die Armen krank bleiben und weiterhin sterben. Du beschließt als König, den Armen die Medikamente zu spendieren. Der Alchemist nennt dir seinen Preis, aber dein Schatzmeister sagt dir, dass du den Preis nicht bezahlen kannst. Du gehst zum Alchemisten und bittest ihn, mit dem Preis nach unten zu gehen. Aber er weigert sich und sagt, er braucht das Geld. Was tust du?”
“Ich würde ihn festnehmen und zwingen, das Mittel rauszurücken.”
“Würdest du das wirklich?” Sie sah ihn verschmitzt an.
“Würde dich das zu einem guten König machen?” Sie war süß.
“Ich würde gerne König werden. Wenn ich groß bin, dann heirate ich dich, und dann werden wir zusammen über Lemuria regieren.”
“Über Madhya Lemuria”, verbesserte ihn Sundari. “Lemuria ist der Name des Kontinents, und da gibt es auch noch andere Länder. Aber ja, wenn ich groß bin, will ich dich auch heiraten. Aber mein Vater hat gesagt, wenn ich groß bin, dann bin ich Königin, und wenn ich heirate, dann ist mein Mann nur der Prinzgemahl, aber kein König.”
“Damit könnte ich leben”, sagte Andreas. “Du bist das schönste Mädchen, das ich kenne. Und das liebste.
“Ja? Du bist aber auch nicht übel.”
Er wollte sie küssen, aber er war erst neun Jahre alt und noch nicht in der Pubertät. Außerdem wusste er nicht, wie man “richtig” küsst, und so gab er ihr nur einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Sie lächelte.
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 3. Mai 2013
00000111 - Lemuria in Gefahr
mercury mailer, 20:54h
Er erwachte im Gras und hörte das Rauschen eines Wasserfalls ganz in der Nähe. Das Gras fühlte sich weich und flauschig an. Er fuhr mit seinen Händen hindurch, ließ jeden Halm einzelnen durch seine Finger gleiten. Er liebte dieses Gefühl.
Andreas schlug die Augen auf und blickte in einen blauen Himmel, der von flauschigen Schäfchenwolken bedeckt war. Die Vögel sangen in der Luft ihr ewiges Lied von Lockungen und Lüsten. Es lag etwas Friedvolles in allem, das Andreas sah, hörte und spürte. Es fühlte sich real an - auch wenn er ganz genau wusste, dass es nicht real war.
Er setzte sich auf, beobachtete die Bienen, wie sie die Blüten auf dieser Wiese bestäubten. Aber da waren nicht nur Bienen - auch Feen beteiligten sich an der fleißigen Bestäubungsaktion. Ihre Flügel zitterten, wenn sie in der Luft standen, um den Nektar, von dem sie sich ernährten, einzusammeln.
Andreas stand auf und ging ein paar Schritte auf den kleinen Fluss zu, der mitten durch die Wiese strömte und vom Wasserfall her kam. In der Mitte der Wiese stand eine alte, knorrige Linde mit weit ausladenden Ästen. Nicht weit davon graste eine Schafherde, die von einem Hirten bewacht wurde. Der Hirte war zu weit weg, als dass Andreas ihn hätte erkennen können. Er sah nur den grünen Mantel und den braunen Hut sowie den Stock, den er in der Hand hielt. Um ihn herum sprang bellend ein Hund, der die Schafe zusammentrieb. Hinter der Wiese und hinter dem Baum aber erhoben sich die schneebedeckten Gipfel des Asamana-Taka-Gebirges. Er kannte diese Gipfel - ebenso wie die Wiese, den Fluss, den Wasserfall. Sogar die Elfen. Das alles war ihm vertraut, auch wenn er es schon so viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Diese friedvolle Landschaft hatte sich kaum verändert.
Andreas fing an sich zu erinnern. Er hatte am Abend über Robert Jens im Internet recherchiert, hatte dann seinen Blog geschrieben und schließlich noch ein wenig im sozialen Netzwerk von Lemuria gechattet - und jetzt fand er sich auf einmal in Lemuria wieder. War es Zufall, dass sein Arbeitgeber genauso hieß wie die Welt, die er aus seiner Kindheit kannte? Er wusste es nicht. Hätte er die Firma gegründet, so hätte sie mit Sicherheit Lemuria geheißen. Aber er war es nicht gewesen. Es war irgendein amerikanischer Student - wahrscheinlich viel jünger als er selbst. Er wusste nicht viel über ihn, und es interessierte ihn eigentlich auch gar nicht.
Er lächelte. Wie immer, wenn er nach Lemuria kam. Dieser Friede, der an diesem Ort herrschte, war mit nichts zu vergleichen. Und doch war Lemuria alles andere als eine friedvolle Welt. Was er schon für Kämpfe hatte austragen müssen - mit Drachen, mit Trollen, sogar mit Orks. Und manchmal auch mit Lemuren, jenen intelligenten Halbaffen, die diesem Kontinent ihren Namen gegeben hatten. Manchmal auch gegen andere Menschen aus den nördlichen oder südlichen Reichen, die immer wieder das goldene Königreich der Mitte angegriffen hatten. Doch jedes dieser Abenteuer hatte so begonnen wie dieser Aufenthalt: auf der Wiese nicht weit von Rajadhani entfernt.
“Bist du nun doch gekommen?” sagte Sathi, der zu seinen Füßen stand und eine kleine Pfeife rauchte.
“Was soll das, Sathi? Wir wissen beide, dass das alles nicht real ist.”
“Was ist real?” fragte Sathi. “Ist es deine Welt, in der du dich sowieso kaum noch herumtreibst? Ist es die virtuelle Welt? Oder ist es die Welt, für die deine eigene Welt so etwas ist wie eine virtuelle Welt?”
“Du sprichst in Rätseln, Sathi.”
“Seit der Mensch denken kann, hat er sich fremde Welten ausgedacht”, sagte Sathi. “Atlantis, Shangri-La, Xanadu, Liliput, Oz, Mittelerde, Phantásien, Narnia... Woher willst du wissen, dass gerade deine eigene Welt keine ist, die du dir selber ausgedacht hast?”
“Diese hier ist nicht echt”, sagte Andreas. “Das hier ist ein Hirngespinst.”
“Oder diese Welt ist echt, und die deine ist ein Hirngespinst”, sagte Sathi. “Es ist immer eine Frage des Standpunkts. Erinnere dich: In Lemuria gibt es Romane, die in Welten spielen, die der deinen gleichen.”
“Das alles hat funktioniert, als ich ein Kind war”, entgegnete Andreas. “Ich bin erwachsen. Ich gehe stramm auf die vierzig zu.”
“Natürlich. Du stehst mitten im Leben, du hast Frau und Kinder...”
“Du weißt genau, dass das nicht so ist.”
“Na, also, Peter Pan. Worauf warten wir denn noch? Eine ganze Welt wartet darauf, von dir entdeckt zu werden. Lemuria braucht dich.”
“Was ist es diesmal?”
“Eine Sekte. Die Na’e Vykati. Sie wohnen oben in den Bergen. Das Königreich ist in Gefahr.”
“Warum das?”
“Das wird dir Königin Sundari selbst sagen.”
“Was ist jetzt mit dieser Sekte?”
“Sie wollen den bösen schlummernden Gott Sansarom Kanasa erwecken. Sie nennen ihn auch den Danava. Aber du musst dich beeilen. Es ist nicht mehr viel Zeit.”
“Wie immer”, sagte Andreas.
“Wie immer. Aber wenn der Danava erwacht, ist alles aus. Er ist in der Lage, ganz Lemuria zu vernichten. Und vielleicht sogar auch ein paar benachbarte Welten - möglicherweise gehört die deine dazu.”
“Klingt nach einem Online-Rollenspiel”, sagte Andreas.
“Das ist kein Rollenspiel”, entgegnete Sathi. “Für uns ist es existenziell.”
“Aber warum wollen sie die Welt vernichten? Das ergibt doch keinen Sinn.”
“Sie glauben, dass dann Lemuria durch eine bessere Welt ersetzt wird. Aber das ist ein Irrglaube, den der Danava in ihr Herz gesät hat.”
“Also, ich soll zu der Sekte und soll sie besiegen und verhindern, dass sie den Dämon erwecken?”
“Richtig. Das geht aber nur mit dem Licht von Mandira.”
“Und wer ist Mandira?”
“Wo ist Mandira? - genau in der entgegengesetzten Richtung.”
“Wie immer.”
“Es ist eine Insel im Sagara-Meer. Dort wird das Licht von Tempelpriestern gehütet.”
“Die das Licht aber nicht rausrücken.”
“Woher weißt du das?”
“Och, sonst wäre es ja langweilig. Also, damit wir uns richtig verstehen: Ich reise nach Rajadhani, besuche Königin Sundari, empfange von ihr weitere Instruktionen, mache mich dann auf zur Insel Mandira im Sagara-Meer, hole mir dort das magische Licht, das die Tempelpriester aber nicht rausrücken und reise dann ins Asamana-Taka-Gebirge, um die finstere Sekte und ihren bösen Gott Danava zu besiegen - und das möglichst vor wann?”
“In einem halben Mond um Mitternacht ergibt sich eine höchst seltene Sternenkonstellation. Dann steht der Planet Mangala im Sternzeichen des Drachen. Dann öffnet sich ein Portal zur Unterwelt. Nur dann kann der Danava erwachen - wenn er geweckt wird.”
“Prächtig. Und dazwischen werde ich wieder mit allerlei Monstern und Orks zu kämpfen haben, nicht wahr?”
Sathi zuckte die Achseln. “Wahrscheinlich.”
“Und was, wenn ich mich weigere? Wenn ich sage, dann spiele ich lieber World of Warcraft?”
“Dann wird diese Welt vernichtet.”
“Vielleicht ist es besser so. Ich habe diese Welt sowieso nur aufgesucht, um von der realen Welt zu flüchten.”
“Diese Welt ist real.”
Andreas lächelte gequält. “Vielleicht glaubst du das wirklich. Aber ich habe lange gebraucht, um von dieser Welt loszukommen.”
“Du kannst vor deiner Vergangenheit nicht fliehen. Sie holt dich immer wieder ein. Sei wenigstens einmal noch ein Held. Kämpfe mit uns gegen die Feinde von Lemuria.”
“Sagt mein Chef auch immer”, knurrte Andreas.
“Na also. Machst du jetzt mit oder nicht?”
Andreas überlegte. Die Welt, die er selbst für real hielt, spielte für ihn tatsächlich keine Rolle. Er hatte keine Familie. Seine Eltern waren beide gestorben, und zu seinem Bruder hatte er nur spärlichen Kontakt. Freunde hatte er auch kaum - abgesehen von seinen Online-Freunden. Eigentlich lebte er sein ganzes Leben in der virtuellen Welt - in einer Welt voller Nullen und Einsen. Machte es da so einen großen Unterschied, wenn er sich jetzt auf die Traumwelt von Lemuria einließ? Er hatte hier so viel erlebt. Es war das, was das Leben in seiner Kindheit erträglich gestaltet hatte...
Andreas schlug die Augen auf und blickte in einen blauen Himmel, der von flauschigen Schäfchenwolken bedeckt war. Die Vögel sangen in der Luft ihr ewiges Lied von Lockungen und Lüsten. Es lag etwas Friedvolles in allem, das Andreas sah, hörte und spürte. Es fühlte sich real an - auch wenn er ganz genau wusste, dass es nicht real war.
Er setzte sich auf, beobachtete die Bienen, wie sie die Blüten auf dieser Wiese bestäubten. Aber da waren nicht nur Bienen - auch Feen beteiligten sich an der fleißigen Bestäubungsaktion. Ihre Flügel zitterten, wenn sie in der Luft standen, um den Nektar, von dem sie sich ernährten, einzusammeln.
Andreas stand auf und ging ein paar Schritte auf den kleinen Fluss zu, der mitten durch die Wiese strömte und vom Wasserfall her kam. In der Mitte der Wiese stand eine alte, knorrige Linde mit weit ausladenden Ästen. Nicht weit davon graste eine Schafherde, die von einem Hirten bewacht wurde. Der Hirte war zu weit weg, als dass Andreas ihn hätte erkennen können. Er sah nur den grünen Mantel und den braunen Hut sowie den Stock, den er in der Hand hielt. Um ihn herum sprang bellend ein Hund, der die Schafe zusammentrieb. Hinter der Wiese und hinter dem Baum aber erhoben sich die schneebedeckten Gipfel des Asamana-Taka-Gebirges. Er kannte diese Gipfel - ebenso wie die Wiese, den Fluss, den Wasserfall. Sogar die Elfen. Das alles war ihm vertraut, auch wenn er es schon so viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Diese friedvolle Landschaft hatte sich kaum verändert.
Andreas fing an sich zu erinnern. Er hatte am Abend über Robert Jens im Internet recherchiert, hatte dann seinen Blog geschrieben und schließlich noch ein wenig im sozialen Netzwerk von Lemuria gechattet - und jetzt fand er sich auf einmal in Lemuria wieder. War es Zufall, dass sein Arbeitgeber genauso hieß wie die Welt, die er aus seiner Kindheit kannte? Er wusste es nicht. Hätte er die Firma gegründet, so hätte sie mit Sicherheit Lemuria geheißen. Aber er war es nicht gewesen. Es war irgendein amerikanischer Student - wahrscheinlich viel jünger als er selbst. Er wusste nicht viel über ihn, und es interessierte ihn eigentlich auch gar nicht.
Er lächelte. Wie immer, wenn er nach Lemuria kam. Dieser Friede, der an diesem Ort herrschte, war mit nichts zu vergleichen. Und doch war Lemuria alles andere als eine friedvolle Welt. Was er schon für Kämpfe hatte austragen müssen - mit Drachen, mit Trollen, sogar mit Orks. Und manchmal auch mit Lemuren, jenen intelligenten Halbaffen, die diesem Kontinent ihren Namen gegeben hatten. Manchmal auch gegen andere Menschen aus den nördlichen oder südlichen Reichen, die immer wieder das goldene Königreich der Mitte angegriffen hatten. Doch jedes dieser Abenteuer hatte so begonnen wie dieser Aufenthalt: auf der Wiese nicht weit von Rajadhani entfernt.
“Bist du nun doch gekommen?” sagte Sathi, der zu seinen Füßen stand und eine kleine Pfeife rauchte.
“Was soll das, Sathi? Wir wissen beide, dass das alles nicht real ist.”
“Was ist real?” fragte Sathi. “Ist es deine Welt, in der du dich sowieso kaum noch herumtreibst? Ist es die virtuelle Welt? Oder ist es die Welt, für die deine eigene Welt so etwas ist wie eine virtuelle Welt?”
“Du sprichst in Rätseln, Sathi.”
“Seit der Mensch denken kann, hat er sich fremde Welten ausgedacht”, sagte Sathi. “Atlantis, Shangri-La, Xanadu, Liliput, Oz, Mittelerde, Phantásien, Narnia... Woher willst du wissen, dass gerade deine eigene Welt keine ist, die du dir selber ausgedacht hast?”
“Diese hier ist nicht echt”, sagte Andreas. “Das hier ist ein Hirngespinst.”
“Oder diese Welt ist echt, und die deine ist ein Hirngespinst”, sagte Sathi. “Es ist immer eine Frage des Standpunkts. Erinnere dich: In Lemuria gibt es Romane, die in Welten spielen, die der deinen gleichen.”
“Das alles hat funktioniert, als ich ein Kind war”, entgegnete Andreas. “Ich bin erwachsen. Ich gehe stramm auf die vierzig zu.”
“Natürlich. Du stehst mitten im Leben, du hast Frau und Kinder...”
“Du weißt genau, dass das nicht so ist.”
“Na, also, Peter Pan. Worauf warten wir denn noch? Eine ganze Welt wartet darauf, von dir entdeckt zu werden. Lemuria braucht dich.”
“Was ist es diesmal?”
“Eine Sekte. Die Na’e Vykati. Sie wohnen oben in den Bergen. Das Königreich ist in Gefahr.”
“Warum das?”
“Das wird dir Königin Sundari selbst sagen.”
“Was ist jetzt mit dieser Sekte?”
“Sie wollen den bösen schlummernden Gott Sansarom Kanasa erwecken. Sie nennen ihn auch den Danava. Aber du musst dich beeilen. Es ist nicht mehr viel Zeit.”
“Wie immer”, sagte Andreas.
“Wie immer. Aber wenn der Danava erwacht, ist alles aus. Er ist in der Lage, ganz Lemuria zu vernichten. Und vielleicht sogar auch ein paar benachbarte Welten - möglicherweise gehört die deine dazu.”
“Klingt nach einem Online-Rollenspiel”, sagte Andreas.
“Das ist kein Rollenspiel”, entgegnete Sathi. “Für uns ist es existenziell.”
“Aber warum wollen sie die Welt vernichten? Das ergibt doch keinen Sinn.”
“Sie glauben, dass dann Lemuria durch eine bessere Welt ersetzt wird. Aber das ist ein Irrglaube, den der Danava in ihr Herz gesät hat.”
“Also, ich soll zu der Sekte und soll sie besiegen und verhindern, dass sie den Dämon erwecken?”
“Richtig. Das geht aber nur mit dem Licht von Mandira.”
“Und wer ist Mandira?”
“Wo ist Mandira? - genau in der entgegengesetzten Richtung.”
“Wie immer.”
“Es ist eine Insel im Sagara-Meer. Dort wird das Licht von Tempelpriestern gehütet.”
“Die das Licht aber nicht rausrücken.”
“Woher weißt du das?”
“Och, sonst wäre es ja langweilig. Also, damit wir uns richtig verstehen: Ich reise nach Rajadhani, besuche Königin Sundari, empfange von ihr weitere Instruktionen, mache mich dann auf zur Insel Mandira im Sagara-Meer, hole mir dort das magische Licht, das die Tempelpriester aber nicht rausrücken und reise dann ins Asamana-Taka-Gebirge, um die finstere Sekte und ihren bösen Gott Danava zu besiegen - und das möglichst vor wann?”
“In einem halben Mond um Mitternacht ergibt sich eine höchst seltene Sternenkonstellation. Dann steht der Planet Mangala im Sternzeichen des Drachen. Dann öffnet sich ein Portal zur Unterwelt. Nur dann kann der Danava erwachen - wenn er geweckt wird.”
“Prächtig. Und dazwischen werde ich wieder mit allerlei Monstern und Orks zu kämpfen haben, nicht wahr?”
Sathi zuckte die Achseln. “Wahrscheinlich.”
“Und was, wenn ich mich weigere? Wenn ich sage, dann spiele ich lieber World of Warcraft?”
“Dann wird diese Welt vernichtet.”
“Vielleicht ist es besser so. Ich habe diese Welt sowieso nur aufgesucht, um von der realen Welt zu flüchten.”
“Diese Welt ist real.”
Andreas lächelte gequält. “Vielleicht glaubst du das wirklich. Aber ich habe lange gebraucht, um von dieser Welt loszukommen.”
“Du kannst vor deiner Vergangenheit nicht fliehen. Sie holt dich immer wieder ein. Sei wenigstens einmal noch ein Held. Kämpfe mit uns gegen die Feinde von Lemuria.”
“Sagt mein Chef auch immer”, knurrte Andreas.
“Na also. Machst du jetzt mit oder nicht?”
Andreas überlegte. Die Welt, die er selbst für real hielt, spielte für ihn tatsächlich keine Rolle. Er hatte keine Familie. Seine Eltern waren beide gestorben, und zu seinem Bruder hatte er nur spärlichen Kontakt. Freunde hatte er auch kaum - abgesehen von seinen Online-Freunden. Eigentlich lebte er sein ganzes Leben in der virtuellen Welt - in einer Welt voller Nullen und Einsen. Machte es da so einen großen Unterschied, wenn er sich jetzt auf die Traumwelt von Lemuria einließ? Er hatte hier so viel erlebt. Es war das, was das Leben in seiner Kindheit erträglich gestaltet hatte...
... link (0 Kommentare) ... comment
... older stories