Montag, 21. Oktober 2013
00110111 - Deus ex machina
Vorne standen sie schon so dicht wie bei einem Rockkonzert. Andreas überlegte, ob er das ausnutzen sollte, um per Stagediving zu entschwinden, aber dazu musste er erst einmal die Menschenmenge auf seine Seite bringen. Sonst funktionierte es nicht.

“Glaubt nicht die Lügen von Königin Sundari und den anderen vier Königen von Lemuria. Glaubt nicht die Lügen der Priester von Mandira oder von Aga, Pani, Jamina, Hava und Ithara. Wir haben nicht vor, einen bösen Dämon zu beschwören. Sansarom Kanasa ist kein böser Dämon - er ist der Gott der Zukunft. Er allein kann dafür sorgen, dass für Lemuria das Dritte Zeitalter beginnt. Nach dem Zeitalter der Jagd und dem Zeitalter des Ackerbaus folgt nun das Zeitalter der Industrie. Aber dafür müssen wir uns von unseren alten Göttern befreien.”

Sie hatten die Pyramide erreicht. Von hier unten sah sie aus wie eine Maya-Pyramide. Steile Stufen führten nach oben bis auf die oberste Plattform, wo das Ewige Feuer brannte. Die Wachen zwangen Andreas und Hatana, die Stufen hinaufzugehen. Jeder Widerstand war zwecklos. Es standen dort unten genügend Menschen, die eine mächtige Waffe waren, wenn er sie auf seine Seite brachte. Nur wie?

“Nut riw nellos saw?” fragte Andreas leise.

“Nies egros eniem lam sal sad” entgegnete Sathi. "Regal fua skirt raap nie chon ad bah chi”

“Was ist mit einem Regal?” wollte eine der Wachen wissen.

“Eigam red retsiem letchiw dnis, tßiew ud eiw”, setzte Sathi hinzu.

“Wer oder was ist ein Ziwudeiw?” fragte die Wache.

Andreas grinste. “Anicham xe sued.”

“Vielleicht wird es euch nicht gefallen”, hörte er Para sagen. “Genau so wenig wie es vielleicht den Elefantenjägern zu Beginn des Zweiten Zeitalters gefallen hat, als ihre Söhne sesshaft wurden und die Landwirtschaft von den Elben übernahmen. Den Fortschritt könnt ihr nicht aufhalten - ob es euch gefällt oder nicht. Und die Technik wird die Gewohnheiten der Menschen fundamental verändern. So war es schon mal, und so wird es wieder sein.”
Andreas horchte auf. Das hatte er doch schon mal gehört. Waren Para und Robert doch die selbe Person? Ebenso wie vielleicht Sundari und Lucía? Hatte jeder hier einen Doppelgänger?

“Und jetzt ist er hier”, sagte Para plötzlich. “Der Schöpfer dieser Welt. Hier ist Bahadura Nayaka. Er hat vor dreißig Jahren diese Welt erschaffen. Es ist Zeit, dass wir ihn opfern für die Zukunft.”

“Aber Ithara hat Menschenopfer verboten!” ertönte plötzlich ein Zwischenruf aus dem Publikum. Es erhob sich ein Gemurmel, und Para hatte große Mühe, die Menschenmenge wieder zum Schweigen zu bringen.
Jetzt stand Andreas auf dem Gipfel der Pyramide. Unter ihm Menschen, so weit das Auge reichte. Alle in weiß gekleidet. Alles Männer. Der ganze Heilige Bezirk war voll von ihnen. Es mochten Tausende sein. Vielleicht gar Zehntausende. Die Götter allein wussten, was sie alle dorthin getrieben hatte und was sie ruhig hielt, denn immerhin hatten die Na’e Vykati die gesamte Priesterschaft mindestens eines Klostertempels auf dem Gewissen.

“Ithara ist eine Illusion!” rief Para. “Ithara existiert nicht. Bahadura hat ihn erschaffen - so wie euch alle. Zumindest diejenigen, die über 30 sind. Diese Welt ist eine Junge Welt. Sie existiert erst seit dreißig Jahren. Alle Erinnerungen an eine Zeit davor, alle Geschichtsaufzeichnungen, was auch immer ihr von der Zeit vorher hattet, das sind alles Illusionen und Täuschungen. Bahadura ist der wahre Schöpfer. Aber er ist kein Gott - er ist ein Mensch, so wie wir alle. Und um das zu zeigen und um die Welt von ihrem Schöpfer zu befreien, werde ich ihn für euch opfern. Ich werde ihn ins Feuer von Aga werfen und danach das Feuer löschen. Und ihr werdet sehen: Beides wird Lemuria nichts anhaben können.”

Jetzt ergriff Andreas das Wort. ”Hört nicht auf ihn!” rief er. “Er ist ein Blender, ein Lügner! Jetzt habt ihr die Gelegenheit! Ihr seid mehr als diese Frevler. Sie haben eure Priester getötet. Worauf wartet ihr noch? Greift sie an!”

Aber die Menschenmenge reagierte nicht. Ein Gemurmel erhob sich, und die Leute schienen hin- und hergerissen.

Andreas dachte an Robert und an seinen Vortrag. Die Parkplatzsuche, der Eisbär, die höchst seltsamen Vorkommnisse des vergangenen Abends, der jetzt wie ein Traum erschien, der langsam verblasste. Wenn Para Recht hatte und er wirklich ein Gott in dieser Welt war, konnte er dann Einfluss nehmen auf die Menschen? Hatten die unbewaffneten Gläubigen überhaupt eine Chance gegen die Na’e Vykati mit ihren Säbeln?

Sicher, das hier war ein Spiel. Aber wenn er eine Chance haben wollte, musste er eine Ebene nach oben aufsteigen - vom Spieler zum Admin. Er musste den Cheat-Modus anstellen, direkt in den Programmcode gehen. Das Szenario ändern.

“Anicham xe sued menied tim tztej tsi saw?” fragte Andreas.

“Dludeg”, entgegnete Sathi.

Aus dem Augenwinkel sah Andreas, wie fünf Pilger eine Wache angriffen und überwältigten. Einer nahm den Säbel an sich und erschlug die nächste Wache. Das blieb den anderen Wachen nicht unbemerkt. Sie griffen den kühnen Pilger an, doch der erfuhr Unterstützung. Andere Pilger griffen jetzt auf Seiten der Na’e Vykati ein. Sie versuchten, die Feueranbeter abzudrängen, damit sie nicht zur Pyramide gelangten. Die Unruhen griffen um sich. Wer keinen Säbel hatte, nahm Füße und Fäuste zur Verteidigung und zum Angriff. Wenig später war der gesamte Vorplatz ein einziges Tohuwabohu.

“Genug!” rief Para, aber nur die wenigen, die auf der Pyramide standen, konnten ihn hören. “Werft sie ins Feuer!”

Die Wachen führten Andreas und Hatana an eine provisorische Treppe, die bis direkt ans Feuer führte. Na’e Vykati standen mit den Feuerwehrschläuchen in der Hand auf den Stufen. Jetzt waren es nur noch wenige Schritte bis zum Feuer. Die Menschenmassen am Fuß der Pyramide konnten sie jetzt auch nicht mehr retten. Para war fest entschlossen, ihn zu töten. Das war sicher. Und gegen die Na’e Vykati kam er auch nicht an. Es waren einfach zu viele, die fest auf Paras Seite standen.

Plötzlich wurden Hatana und Andreas von Krallen gepackt und in die Luft gehoben. Die Pyramide, auf der immer noch das Feuer des Aga brannte, wurde kleiner und kleiner. Ein heißer Feuerstrahl wie aus einem Bunsenbrenner traf plötzlich drei Na’e Vykati, die gerade einen Schlauch hielten. Die Männer waren auf der Stelle geröstet. Ein weiterer Feuerstrahl ging hernieder. Es traf den nächsten Schlauch, der sich ebenso schnell verflüssigte wie die Männer, die ihn hielten. Dann der dritte Schlauch, dann der vierte. Andreas beobachtete, wie Para die Treppe hinunter flüchtete und schließlich in der Menschenmenge verschwand, die wie gebannt nach oben blickte - genau zu Andreas und Hatana, die nun in den Krallen eines fliegenden Tieres gefangen waren. Eines fliegenden Tieres, das Feuer spuckte. Eines Drachen.

“Ist das dein Deus ex Machina?” fragte Andreas.

“Nein”, sagte Sathi. “Das war ich nicht. Warst du das etwa?”

Andreas dachte nach, und aus den Tiefen seines Unterbewusstseins tauchte ein Gedanke auf, der für einen Sekundenbruchteil durch seinen Kopf geschossen war: Nur ein Drache kann uns retten. Er hatte den Cheat-Modus gefunden.

Der Drache flog einen weiteren Angriff auf einen Feuerwehrschlauch, der jetzt verwaist auf der Pyramide lag. Die Na’e Vykati waren geflohen. Sie waren die Pyramide herunter gerannt, so schnell sie konnten, waren in der Menge untergetaucht. Um auf Nummer Sicher zu gehen, ließ der Drache auch die Pumpen in Flammen aufgehen, eine nach der anderen.
Einige Pilger fielen auf die Knie und fingen an zu beten. Andere sahen zu, dass sie Land gewannen. Rennend strebten sie auf die vier Tore des Tempelbezirks zu. Na’e Vykati und Feueranbeter waren jetzt nicht mehr auseinanderzuhalten. Von einer Entscheidungsschlacht war jetzt nichts mehr zu sehen. Die Schlacht war entschieden. Die alten Götter hatten gesiegt. Und der Drache erhob sich hoch in die Luft, bis Andreas die ganze Stadt sah. Jetzt stand die Pyramide komplett in Flammen. Der Drache aber flog davon über Wälder und Sümpfe, über Flüsse und Seen, immer dem nächsten Ziel entgegen: Mandira.

... link (0 Kommentare)   ... comment