Mittwoch, 23. Oktober 2013
00111001 - Samstag ist Aufräumtag
Er erwachte schweißgebadet. Was war das eben? Ein Traum? Ein Erinnerungsfetzen? Ein Blick in die Zukunft? Er hatte das Gefühl, das er häufig hatte, wenn er morgens erwachte. Das Gefühl, sich von allen Menschen zurückziehen zu müssen, weil sein Gehirn mit ihm Achterbahn fuhr. Aber jetzt war es besonders schlimm.

Kopfschmerzen. Diese Kopfschmerzen. Der Presslufthammer, den er in seinem Kopf vermutete, entpuppte sich als echter Presslufthammer. Dort draußen rissen sie die Straße auf. Ein hässliches Geräusch.

Andreas sah auf seinen Radiowecker. 10 Uhr. Höchste Zeit aufzustehen. Es war Samstag, und Samstag war Aufräumtag. Was er heute nicht schaffte, würde wieder eine Woche warten müssen. Dabei war seine Duschwanne schon ekelhaft verdreckt. Er musste sie heute unbedingt putzen. Und er musste saugen. Geschirr spülen.

Er sprang aus dem Bett, nur um sich kurz darauf wieder hinzusetzen. Dieser hämmernde Kopfschmerz! Er sollte nicht mehr Nachts so lange um die Häuser ziehen. Aus dem Alter war er draußen - wenn er jemals drin gewesen war. Schnell eine Paracetamol eingeworfen, dann ging es ihm hoffentlich besser! Und dann konnte er sich vielleicht einen Tee machen. Oder was stärkeres, was ihn wieder auf die Beine brachte.
Plötzlich fiel ihm siedendheiß ein, dass er noch gar nicht einkaufen gewesen war. Morgen war Sonntag, und da hatten die Läden zu, und er brauchte noch Milch. Und Kaffee. Und was zum Mittagessen brauchte er auch. Und der Kasten Wasser ging auch zur Neige. Er hasste es, Samstags einkaufen zu gehen. Da war wirklich jeder unterwegs. Menschengewusel in den Gängen, lange Schlangen an den Kassen, und er mittendrin, wie er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, dass er ja nichts vergaß, während die Musik des Einkaufsradios ihn einlullte und jeden Konzentrationsversuch zunichte machte. Samstags im Supermarkt: der Horror!

Er schleppte sich in die Küche, schnappte sich ein Glas, wankte zum Wasserhahn und ließ es volllaufen. Das Geräusch des rauschenden Wassers hämmerte seinen Kopfschmerz noch weiter ins Gehirn. Draußen verstummte der Presslufthammer. Dafür ertönte irgendwo im Haus eine Bohrmaschine. Samstage waren einfach grässlich.

Normalerweise ging er immer Freitags nach Dienstschluss einkaufen. Dann hatte er den ganzen Samstag für den Haushalt. Eigentlich brauchte er mehr als einen Tag dafür, aber erholen wollte er sich auch noch, und dazu ist der Sonntag da. Manchmal fühlte er sich Montags wie gerädert, hatte das Gefühl, sich am Wochenende nicht richtig erholt zu haben. Das kam in letzter Zeit immer öfter vor. Sollte er mal zum Arzt wegen Burn out-Verdacht? Nein. Irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung. Das wusste er. Er wusste nur nicht genau, was es war. Burn out jedenfalls nicht.

Andreas schluckte die Paracetamol und spülte mit Wasser nach. Obwohl er die Tablette möglichst schnell durch seinen Mund bewegte, konnte er den furchtbar bitteren Geschmack spüren.

Der Vortrag hatte ihn vom Einkauf abgehalten.

Robert Jonas kommt!

Robert Jonas ist tot!

So ein Quatsch! Manchmal träumte er aber auch einen Stuss zusammen! Er war doch gestern mit ihm unterwegs gewesen, oder? Er schielte zum Schlüsselbrett. Der Schlüssel, den ihn damals ein Unbekannter im Mannheimer Wasserturm gegeben hatte, hing noch dran. Der Schlüssel des Wassers. Vielleicht sollte er heute mal dem Haus Schwarzwaldstraße 23 einen Besuch abstatten und schauen, wohin ihn der Schlüssel führte. Und dann Nova. Ja, er wollte sich mit ihr treffen. Erst einkaufen, dann Schwarzwaldstraße, dann Nova. Aber zuerst frühstücken. Dann Internet. Wobei, wenn er einmal damit anfing, würde es wieder dauern. Aber mit Nova sollte er übers Internet Kontakt aufnehmen. Verabreden für diesen Abend. Er wollte, er musste sich mit ihr treffen. Es gab viel zu bereden.

Er schaltete den Fernseher ein. Auf ProSieben lief Scrubs. Die richtige Packung Unterhaltung zum Frühstück. Schnell noch eine neue Packung Corn Flakes aufgerissen, den letzten Rest Milch darüber ausgeleert. Nur ein Tag mit Corn Flakes war ein guter Tag.

Nach dem Frühstück schnappte er sich den Matrix-Code, schlug die erste Seite auf und fing an zu lesen:

Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Welt verändern - allein mit der Kraft Ihrer Gedanken. Gibt es nicht, sagen Sie? Neo kann es. Neo ist der Held der Matrix-Trilogie der Wachowsky-Geschwister, und wer die Filme noch nicht gesehen hat, sollte es dringend nachholen - vor allem den ersten Film. Denn er enthält mehr Wahrheit, als selbst den Wachowsky-Geschwistern lieb sein dürfte.

Ich will hier nicht den ganzen Film nacherzählen. Nur so viel: Die Matrix ist eine künstlich generierte Welt aus dem Computer. Nichts in ihr ist echt, und doch herrschen in ihr die gleichen Bedingungen vor wie in unserer Welt. Die gleichen Naturgesetze, die gleichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Matrix ist ein Abbild unserer Welt - und zugleich ein Ersatz, denn die Welt, wie wir sie kennen, ist in diesem Film längst untergegangen.

Andreas schlug das Buch zu. Das alles kam ihm bekannt vor. Sogar sehr bekannt. So als hätte er das alles schon einmal gelesen. Hatte er aber nicht. Das wusste er genau. Er konnte sich genau an alles erinnern, was er gelesen hatte und was nicht. Seltsam war, dass er sich Wort für Wort an den Text erinnerte - fast als hätte er ihn selbst geschrieben.

Es wurde ihm zu unheimlich. Er fuhr seinen Rechner hoch und ging ins Internet. Nova hatte ihm einen Freundschaftsantrag auf Lemuria gestellt. Und auf Facebook ebenfalls. Er beantwortete beide. Dann einen kurzen Blick auf Twitter geworfen. Doch aus dem kurzen Blick wurde eine längere Sitzung. Es gab neue Einträge seiner Lieblings-Blogger. Außerdem war eine Diskussion am Laufen. Es ging darüber, ob Facebook oder Lemuria besser war. Jetzt hieß es eine Lanze für seinen Arbeitgeber brechen. Doch dann kam wieder jemand mit der Kritik, diese ganzen Unternehmen würden nur Daten sammeln, und er schlug vor, man sollte doch ein nichtkommerzielles Open-Source-Netzwerk aufbauen - am besten mit Hilfe und Unterstützung der Piratenpartei. Andreas schrieb zurück, das mit dem Datensammeln stimme zwar, allerdings böte dies die Chance, Soziale Netzwerke umsonst anzubieten. Andernfalls würde im Web eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstehen. Außerdem geschehe dieses Datensammeln nur zum Wohle der Menschheit. Es sei ja niemand in seiner Privatsphäre gestört, da Lemuria nur die Daten sammle, die der Nutzer freiwillig preisgebe. Im übrigen räume er einem Open-Source-Netzwerk keine allzu großen Chancen ein, da ein derartiger Dienst ein Heer von hauptamtlichen Betreuern benötige, um eventuellen Missbrauch zu verhindern.

Dann war plötzlich sein guter Freund Adam aus Australien online. Dort war es ja bereits schon später Nachmittag, wenn nicht sogar schon Abend. Schnell noch einen längeren Trost-Chat, da Adams Freundin ihn verlassen hatte. Ein Blick auf die Uhr, und Andreas erschrak: Mittlerweile war es 12 Uhr, und er hatte überhaupt noch nichts Produktives getan. Höchste Zeit, offline zu gehen und den Computer auszuschalten.

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