Donnerstag, 23. Mai 2013
00011011 - Opium für das Volk
Endlich waren sie an den Mauern zum Tempelbezirk angekommen. Direkt vor ihnen erhob sich eine weiß getünchte Mauer von etwa drei Metern Höhe. Links und rechts flanierten die Pilger an der Mauer entlang. Und in der Ferne war ein Tor zu erkennen, das von einem hohen, kunstvoll gestalteten Turm markiert wurde. Vor dem Tor wiederum hatte sich eine lange Schlange gebildet.

“Das ist das Südtor”, erklärte Sathi. “Eines von vier Toren zum Tempelbezirk.”

“Wie groß ist denn der Tempelbezirk?” fragte Andreas.

“Sehr groß”, antwortete Sathi. “Es hat die Größe einer mittleren Stadt. Es gibt dort drinnen sieben Schreine, das sind Kleintempel. Außerdem fünf Tempel, drei Klöster und im Zentrum das große Feuerheiligtum, der Innere Bezirk, wo die Bruderschaft wohnt - also auch noch mal ein Kloster.”

“Schön”, sagte Andreas.

“Du wirkst nicht gerade begeistert.”

“Ich habe es nicht so mit der Religion.”

“Warum nicht?”

“Ich glaube, dass Religion ein Herrschaftsinstrument ist. Ich meine, die verkünden heute die Menschenrechte, die Gleichheit aller Menschen, die Menschenwürde und die Nächstenliebe. Im Mittelalter sah das noch ganz anders aus. Da predigte man die Hölle für all diejenigen, die sich gegen Gottes gewollte Ordnung auflehnten. Die Religion predigt immer das, was den gerade Herrschenden gefällt. Weil man mit dem Glauben die Menschen gefügig machen kann. Das wussten schon die Priester im Alten Ägypten. Es ist mittlerweile bekannt, dass sie etwas anderes predigten, als sie selbst glaubten. Warum? Weil sie ihre Macht nicht verlieren wollten. Religion ist Opium für das Volk. Sie gibt den Menschen eine Hoffnung, die sie niemals erfüllen kann.”

“Inwiefern niemals erfüllen?”

“Die Menschen suchen in ihrem Leben nach einem Sinn. Religion hat zu allen Zeiten den Menschen ein Bedürfnis erfüllt - nämlich das Bedürfnis danach, die grundsätzlichen Fragen des Lebens zu beantworten - wo sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Die moderne Naturwissenschaft hat den Glauben inzwischen verdrängt. Im modernen Weltbild ist kein Platz mehr für Götter. Das Universum könnte auch ohne einen Gott entstanden sein - ein gigantischer Zufall, nichts weiter. Der Sinn des Lebens, wenn es denn einen gibt, ist es, zu überleben und sich zu reproduzieren. Und wenn wir tot sind, gibt es kein ewiges Leben, das auf uns wartet. Wir verwesen einfach, und das war’s dann.”

“Eine sehr fatalistische Einstellung.”

“Eine weit verbreitete Einstellung. In meiner Welt wird der Atheismus zur am weitesten verbreiteten Weltanschauung.”

“Vielleicht gibt es in deiner Welt wirklich keine Götter”, meinte Sathi. “In unserer Welt gibt es sie. Sie existieren wirklich. Wir können mit ihnen reden.”

Sie hatten die Schlange vor dem Tor zum Tempelbezirk erreicht und reihten sich in die Wartenden ein. Das Tor wirkte auf Andreas wie ein Gebäude aus Disneyland - ein quietschbuntes Kaleidoskop von Göttern und dämonischen Fratzen. Da waren Menschen mit Elefantenkopf und mehreren Armen, da waren Dämonen mit Vampirzähnen, die um Feuer tanzten. Und immer wieder Wasser in allen Variationen, an Buddha erinnernde Figuren im Lotossitz, die Darstellungen von Tempeln, von Bauern bei der Reisernte, von Rindern und Vögeln, von Schlangen und Drachen und über allem an der Spitze ein Mann mit einem goldenen Hut und einem langen, weißen Bart.

“Das ganz oben ist Ithara”, sagte Sathi. “Der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Gott des unendlichen Äthers. Er ist der Gott der Juden, Christen und Muslime, der Gott aller Götter. Er hat die anderen vier Hauptgötter geschaffen, den Gott des Feuers Aga, den Gott des Wassers Pani, die Göttin der Erde Prittvi und den Gott der Luft Hava. Daneben gibt es Millionen anderer Götter. In jedem Baum, in jedem Tier, ja in jedem Menschen wohnt ein Gott. Und wenn ein Mensch stirbt, wird dieser Gott frei. Deshalb verehren wir unsere Ahnen.”

“Aha”, sagte Andreas geistesabwesend. Ihn interessierte die lemurische Mythologie nicht besonders. Es erinnerte ihn viel zu sehr an den Vortrag von Robert Jens, den er gerade verschlief.
Nur langsam kamen sie dem Tor näher. Dort standen Wächter mit Säbel im Anschlag, die die Reisenden kontrollierten. Von jedem verlangten sie die Papiere. Das waren meistens Empfehlungsschreiben von Priestern oder Pilgerurkunden, die sie als Wallfahrer zum Feuerheiligtum auswiesen.

“Ich weiß nicht, was in eurer Welt schief läuft”, sagte Sathi. “Ich kann nur sagen, dass das, was ich dir sage, sehr wichtig ist. Weil unsere Welt in Gefahr ist. Die Na’e Vykati. Deswegen sind wir hier.”

“Das sind die, die mich töten wollen”, sagte Andreas.
“Übrigens auch in meiner Welt.”

“In deiner Welt?”

“Ja”, sagte Andreas und erzählte die Geschichte vom Matrix-Terminator.

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Mittwoch, 22. Mai 2013
00011010 - Im Land der Feueranbeter
“Hey, Bahadura! Bahadura, wach auf!”

Bahadura, das war Andreas’ lemurianischer Name. Es war Sathi, der ihn ausstieß.

“Was ist denn?” Andreas war vom Schlaf noch benommen. Nur langsam kehrten seine Erinnerungen zurück. Robert Jens und sein Vortrag verblassten und erschienen plötzlich wie ein Traum aus einer unwirklichen Fantasiewelt. Lemuria, das war jetzt wieder seine Realität. Und langsam kamen Erinnerungen an Ereignisse in seinen Kopf, die niemals geschehen waren. Jedenfalls hatte er sie nicht wirklich erlebt - war er doch zu dieser Zeit in der anderen Welt gewesen.

Sie hatten Rajadhani im Morgengrauen verlassen. Andreas, Sathi, ein paar Lemuren und als einziger Mensch Hatana, ein Krieger, der als Andreas’ Leibwächter dienen sollte. Mehr hatte die Königin Andreas nicht zugestanden, denn sie wollten nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen - vor allem, wenn es ins Ausland ging.

Stundenlang waren sie auf ihren Pferden durch Reisfelder geritten, dann waren sie in einen nie enden wollenden Dschungel gekommen, wo sie ihr erstes Nachtlager aufgeschlagen hatten. Ein Tag war vergangen und ein weiterer, ohne dass sich das Blätterdach über ihren Köpfen gelichtet hätte. In den Nächten hatte er immer von der anderen Welt geträumt, von seiner Arbeit, von Robert Jens und von Lucía Sánchez, die Sundari zum Verwechseln ähnlich sah.

“Bahadura, wir müssen heute noch nach Aga, ins Land der Feueranbeter.”

“Langsam, langsam, langsam!” Andreas richtete sich auf. Er war erstaunt, wie muskulös ihm sein Oberkörper plötzlich erschien. “Alles schön der Reihe nach für einen Nicht-Lemurier. Wir verlassen Sundaris Königreich?”

“Nein”, sagte Sathi. “Das Land der Feueranbeter ist ein Fürstentum, das von der Bruderschaft des Heiligen Feuers in Aga regiert wird, und die Bruderschaft wiederum sind Lehensmänner von Königin Sundari. Wir sind immer noch in Madhya Lemuria.”

“Schön”, sagte Andreas und streckte sich. Die Luft war erfüllt von den kreischenden Lauten fremder Vögel - vermutlich Papageien, die in den Blätterdächern der immergrünen Bäume hausten. Es roch nach Moder und nach exotischen Blüten. Die Hitze und Luftfeuchtigkeit waberte durch das grüne Dickicht. Irgendwo in der Nähe plätscherte ein Wasserfall. Der Vortrag von Robert Jens, der Matrix-Terminator und Lucía Sánchez wirkten jetzt nur noch wie ein ferner, seltsamer Traum, der langsam verblasste. Was war nun Realität und was Fantasie?

Schon brachten die Lemuren Früchte ans Lager, die Andreas schon seit Jahrzehnten nicht mehr verspeist hatte. Hinzu kam Fladenbrot, das sie als Proviant mitgenommen hatten. Über einem Feuer erhitzten zwei andere Lemuren einen heißen Wasserkessel, in den sie Beutel mit getrockneten Teepflanzen hängten.
Andreas stand auf und ging in Richtung Wasserfall, um sich zu duschen. Ganz kurz musste er an den Tag denken, an dem Robert seine Kleidung unter die Dusche gelegt hatte. Doch das alles war Lichtjahre entfernt. Diese Dusche, wenn man es denn eine nennen wollte, war ganz anders. Die Felsen dorthin waren glitschig, und Andreas musste aufpassen, dass er nicht ausrutschte. In seiner Welt wäre das Malheur sicherlich passiert, doch hier erwies er sich als äußerst geschickt und kam ohne große Zwischenfälle an der Felswand an, die der Wasserfall tosend herunter sprang. Er stellte sich darunter, und warmes Wasser bedeckte seinen ganzen Körper, umhüllte ihn wie ein schützender Kokon.

“Hey, Bahadura!” rief jemand aus der Ferne. “Beeil dich! Wir müssen aufbrechen! Der Weg ist weit!”

“Einen Moment noch!” Das Gefühl, mitten im Wasserfall zu stehen, war einfach zu herrlich.

“Mach schon!”

“Ich komme!”

Zum Frühstücken blieb wenig Zeit. Sathi drängte zum Aufbruch, und so schlang Andreas die Früchte und das Fladenbrot nur so in sich hinein. Dann ging es kreuz und quer durch den Dschungel - mal bergauf, dann wieder bergab. Manchmal ging es über breite Straßen, die vor Jahrtausenden jemand angelegt hatte. Doch jetzt waren sie dabei zu zerfallen, und zwischen den Pflastersteinen machte sich erneut der Urwald breit. An anderen Stellen waren die Straßen schon komplett zerfallen, und Andreas musste sich mit einer Machete durch den Urwald kämpfen, während die Mücken ihn umschwärmten, als bestünde er aus reinem Licht. Dann brauchten sie eine Stunde für wenige Meter, bis sie endlich wieder einen Pfad oder eine alte Straße erreicht hatten.

Einmal kamen sie an einem Tempel vorbei, den der Dschungel bereits zurückerobert hatte. Die dunklen Mauern, aus denen Bäume und Lianen wuchsen, erinnerten Andreas ein wenig an Fotos, die er von Angkor gesehen hatte. Er sah Götterstatuen im Würgegriff von Lianen, Bäume, die jahrtausendealte Mauern sprengten, Moos, das an den zerbröselnden Säulen empor wuchs.

Dann endlich lichtete sich der Wald und machte einem Palmenhain Platz. Hoch oben wuchsen Kokosnüsse, Datteln und andere Früchte, die Andreas nicht kannte. Männer mit brauner Hautfarbe, die nur mit Lendenschürzen bekleidet waren, kletterten die Palmen empor, um die Früchte zu ernten. Sie warfen ihre Ausbeute in riesige Körbe, die ihre Kollegen am Fuße der Palmen aufgestellt hatten. Dann verließen sie den Palmenhain und streiften durch endlos erscheinende Teefelder. Langsam ging es bergauf, bis sie plötzlich hinter einer Kuppe die Stadt vor sich sahen.

Es war eine große Stadt, die komplett aus schwarzen Häusern bestand. Überall brannten Feuer, die sich weiter oben zu einer einzigen, gewaltigen, schwarzen Rauchsäule vereinigten. Etwas abseits standen zwei Türme, die von einem Schwarm großer Raubvögel umkreist wurden. In der Mitte der Stadt aber erhob sich ein Podest, das aussah wie eine Mischung aus Pagode und Pyramidenstumpf. Es war das höchste Gebäude der Stadt, und darauf brannte das größte Feuer von allen.

“Siehst du das Feuer in der Mitte der Stadt?” fragte Sathi. “Es ist das Ewige Feuer, das erste Feuer, das je ein Mensch entzündet hat. Du siehst: Es brennt immer noch. Es ist der Gott Aga. Die Stadt gehört zu den fünf heiligsten Orten in Lemuria. Die Menschen in Aga benutzen als Brennstoff ein zähflüssiges Öl, das sie in Teergruben und unter der Erde finden. Sie nennen es Steinöl. Als Brennmaterial taugt das Zeug was, auch zum Kalfatern von Schiffen oder zum Schmieren von Wagenrädern, aber ansonsten ist es völlig wertlos. Noch nicht mal zum Kochen kann man es verwenden. Aber du findest das Steinöl hier überall.”

“Wozu sind die beiden Türme da hinten?”

“Das sind die Türme des Schweigens. Die Feueranbeter verbrennen ihre Toten nicht, da sie glauben, das Feuer dadurch zu verunreinigen. Sie bestatten sie auch nicht. Sie werfen sie den Geiern zum Fraß vor.”

“Ist ja eklig.”

“Bitte etwas mehr Respekt vor fremden Kulturen. In Madhya Lemuria herrscht Religionsfreiheit - hier kann jeder glauben, was er will - und es kann auch jeder seine Toten so bestatten, wie er es für richtig hält.”

Sie gingen weiter, und je näher sie der Stadt kamen, desto größer wirkte sie. Eine Stadtmauer hatte Aga nicht. So wie die meisten Städte in Lemuria ging sie fließend ins Umland über. Allerdings gab es ein paar Wachtürme, um Feinde schon von weitem sehen zu können. Nicht, dass man in Aga einen Angriff erwartet hätte. Doch der Bruderschaft war ein friedliches Miteinander aller Menschen in Aga sehr gelegen.
Die Stadt schien aus allen Nähten zu platzen. Überall schoben sich Menschenmassen durch die engen Straßen. Größtenteils Männer, die mit den weißen Gewändern bekleidet waren, die Pilger zu tragen pflegten. Ab und zu drängelte sich ein Elefant durch die Menge. Für Pferde und Ochsenkarren war das Durchkommen schwer. Deshalb banden Andreas und Hatana ihre Pferde außerhalb der Stadt an extra dafür vorgesehenen Pfosten fest und ließen die Lemuren auf sie aufpassen - in unmittelbarer Nachbarschaft anderer Tiere, die auf ihre Besitzer warteten. Doch diese Enge hielt auch Kentauren nicht davon ab, durch die Straßen der Stadt zu flanieren. Ab und zu sah Andreas sogar einen Zwerg oder einen Wichtel durch die Menschenmenge wuseln. Allerdings trauten sich nur wenige der kleinen Wesen nach Aga, weil sie fürchteten, dort plattgetrampelt zu werden.
Doch - als wären die Straßen nicht eng genug - hatten an den Rändern fliegende Händler ihre Stände aufgeschlagen, um Devotionalien zu verkaufen - hauptsächlich Götterbilder für Hausaltäre, aber auch Brennstoffe zum Feuermachen - Feuersteine und Zunder, daneben trockenes Holz und Stroh. Einige hatten sogar Flaschen mit Steinöl auf ihren hölzernen Auslagen stehen. Wieder andere verkauften Fladenbrot, an einigen Imbissständen grillten Händler das Fleisch von Hühnern und Schweinen. Es gab Pferdehändler, Schuhverkäufer, Friseure, und die meisten Häuser - wenn sie nicht gerade den Händlern zum Wohnen dienten - waren Herbergen und Tavernen. In provisorischen Bretterbuden, die dort standen, wo die Architektur etwas mehr Platz gelassen hatte, waren Garküchen untergebracht, in denen allerlei Nudelgerichte angeboten wurden, die die Pilger beim Gehen aus einer einfachen Tonschale essen konnten.

Sathi hatte sich auf Andreas’ Schulter gesetzt, um den Überblick zu bewahren, und jetzt lotste ihn der Wichtel kreuz und quer durch das labyrinthartige Straßengewirr. Eigentlich war es ganz einfach, denn die Rauchsäule, die ihr Ziel bildete, war die ganze Zeit zu sehen, aber dieses Straßennetz war nicht geplant, sondern je nach Bedarf erweitert worden, so dass über die Jahrhunderte ein chaotisches Gewirr entstanden war. Es waren eigentlich keine Straßen, sondern lediglich Zwischenräume zwischen den Häusern - mal breiter, mal enger. Längere, gerade Abschnitte oder gar große Boulevards oder Ausfallstraßen gab es nicht. Die Menschen hatten gerade so gebaut, wie es ihnen in den Sinn gekommen war. Die wenigsten Straßen trugen Namen, und Andreas überkam der Wunsch nach einem gescheiten Navigationssystem.

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Dienstag, 21. Mai 2013
00011001 - Avatar
Andreas wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Vortrag zu. Auf der Leinwand kämpfte jetzt ein Held gegen Ritter, so wie er selbst es in Lemuria schon so oft getan hatte. Der Held hatte einen nackten, muskulösen Oberkörper, während die Ritter auf Pferden saßen und - bis zur Unkenntlichkeit vermummt - in Ritterrüstungen eingepackt waren. Es war ein Ausschnitt aus einem Online-Rollenspiel.

Robert fuhr fort: “Wenn der Mensch eine virtuelle Welt erschafft, dann ist er ihr Gott. Ganz gleich, ob es eine reine Gedankenwelt ist oder eine Welt, die im Computer existiert - World of Warcraft beispielsweise. Stellen Sie sich vor, Sie steuern selbst eine Spielfigur durch diese virtuelle Welt. Sie sind nicht diese Spielfigur. Aber Sie identifizieren sich mit ihr. Diese Spielfigur wird zu Ihrem Alter Ego. Sie ist Ihr Stellvertreter in der virtuellen Welt. Es gibt auch ein Wort dafür, und dieses Wort heißt Avatar.”

Irgendwo und irgendwann hatte er diese Argumentation in den vergangenen Tagen selber gebraucht. Nur wo?

Robert fuhr fort: “Das Wort kommt aus dem Sanskrit. Das ist quasi das Latein des alten Indien. Eine uralte Schriftsprache, die keiner mehr spricht, die aber in Indien nach wie vor eine große Rolle spielt. Die heiligen Texte sind allesamt in Sanskrit verfasst. Avatara jedenfalls heißt Abstieg. Und das bezeichnet den Abstieg eines Gottes auf die Erde in Form eines Menschen oder Tiers. Das heißt, der Gott ist nach wie vor im Jenseits und steuert seinen Avatar von dort aus, wie wir die Spielfigur eines Online-Rollenspiels steuern.”

Andreas überlegte sich, ob er nicht selber Lemuria erschaffen hatte, um sich selbst darin als Spielfigur wiederzufinden.

“Was aber, wenn ich Ihnen sage, dass wir alle Avatare sind?”, sagte Robert. “Nicht Avatare der Götter sondern Avatare unserer eigenen Seelen, die im Jenseits sitzen und uns steuern? Denn letzten Endes sind es nicht die Götter, sondern wir selber, die diese Welt erschaffen haben. Wir selber sind die Schöpfer der Matrix. Unsere eigenen Seelen sind... ja, ich würde sagen, die Götter. Und wenn wir tatsächlich die Götter sind, dann reicht unsere Macht viel weiter, als wir es uns träumen lassen. Nur wir können damit nicht umgehen. Weil wir es nicht gelernt haben. Wir glauben an Zufall oder Schicksal oder irgendeine Macht, die uns im Griff hat. Nein. Es gibt keine Zufälle, es gibt kein Schicksal. Es gibt nur uns selbst, und wir haben es in der Hand. Wir können die Welt beeinflussen, unser Leben bestimmen - wir können mehr erreichen, als wir glauben. Aber dafür müssen wir anfangen zu glauben.”

Wieder wechselte das Dia. Diesmal stand da nur ein ganz einfacher Satz: “Glauben Sie an sich.”

“Es klingt alles ein wenig abgedroschen, aber Regel Nummer eins für Erfolg im Leben ist: Glauben Sie an sich. Wenn Sie nicht an sich selbst glauben, wer soll es sonst tun? Und glauben Sie nicht halbherzig. Glauben Sie von ganzem Herzen, dass Sie es schaffen können. Wenn Sie Träume haben: Leben Sie sie. Glauben Sie, dass Ihre Träume in Erfüllung gehen. Und seien Sie dabei aber realistisch. Wer eine Niete in Sport ist, der wird niemals Olympiasieger werden. Aber wenn Sie ein guter, ein sehr guter Sportler sind, können Sie es schaffen. Was Sie allerdings brauchen, ist harte Arbeit. Von nichts kommt nichts. Also arbeiten Sie an sich selbst. Setzen Sie sich ein Ziel, und glauben Sie, dass Sie es erreichen können. Ihre Gedanken nehmen Einfluss auf die Welt.”

War Lemuria tatsächlich nur eine Ausgeburt seiner Phantasie? Aber wie waren all die anderen seltsamen Dinge zu erklären, die er erlebt hatte? Der Terminator in der U-Bahn? Die Chefin, die aussah wie Sundari und ihm etwas über ein Sundari-Projekt erzählt hatte?

“Das, was ich Ihnen eben gesagt habe,”, erklärte Robert, “das werden Sie in jedem Motivationsseminar hören. Aber es genügt mir nicht. Natürlich, es ist die halbe Miete, an sich selbst zu glauben. Aber das geht nicht so einfach von heute auf morgen. Sie müssen es trainieren. So wie der Sportler, der Olympiasieger werden will, hart an sich arbeiten muss, so müssen Sie trainieren, mit der Gabe, die Sie haben, die jeder einzelne von Ihnen hat, umzugehen.”

Natürlich! Deswegen hatten ihn alle auch immer ausgelacht und ihn als Außenseiter behandelt. Weil er nicht in der Lage war, die Welt sich so zu erträumen, wie sie eigentlich hätte sein sollen.

Robert sagte: “Als allererstes: Machen Sie sich klar, dass das alles nur eine Illusion ist. Alles, was Sie wissen und zu kennen glauben, die ganze sogenannte Realität ist eine Illusion. Erinnern wir uns: Atome bestehen zum großen Teil aus gar nichts. Und Elektronen können sich nicht genau entscheiden, ob sie Wellen oder Teilchen sein wollen, und sie wissen, wann sie beobachtet werden. Das ganze ist nichts anderes als eine gigantische Schöpfung. Eine Schöpfung, die wir erschaffen haben.”

Andreas spielte mit dem Gedanken, einen neuen Tweet abzusetzen. Jetzt fing es an, seltsam zu werden. Und seltsam war noch freundlich ausgedrückt. Das war kompletter Bullshit, fand Andreas.

“So, und jetzt, meine Damen und Herren, wird es ein wenig esoterisch. Wenn Sie jetzt nüchtern denkende Naturwissenschaftler sind oder zu einer Religionsgemeinschaft gehören, wird es Ihnen vielleicht schwer fallen, das zu glauben. Aber: Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte hat es Kontakte gegeben - zwischen dem, was wir Jenseits nennen, und dieser materiellen Welt. Die Wesen, mit denen wir Menschen in Kontakt treten können, sind Seelen wie wir - nur sind sie eben im Moment gerade nicht inkarniert. Sie sind also keine Götter und keine Engel und keine Dämonen, sie sind schlicht und einfach Seelen, mit denen man sich unterhalten kann.”

Andreas dachte an Sathi. Und an Sundari. Wer weiß, vielleicht war ganz Lemuria im Jenseits.

“Aber leider kann sich nicht jeder mit Seelen unterhalten”, fuhr Robert fort. “Dafür gibt es ausgebildete Medien, die den Kontakt zur Geisterwelt suchen. Im 20. und 21. Jahrhundert haben wir gesammelt, was diese Medien uns berichtet haben. Und wir haben ein in sich schlüssiges Weltbild daraus ableiten können - ein Modell zwar, aber ein Weltbild. Es ist sehr kompliziert, und ich will mich nicht länger damit aufhalten. Deshalb in aller Kürze: Alles ist eins. Alles hängt zusammen. Materielle und geistige Welt bilden eine Einheit. Eine gemeinsame Seele. Eine Weltenseele, wenn man so will. Religiöse Menschen nennen diese Seele Gott. Nicht religiöse haben vielleicht andere Namen. Wer lange genug meditiert, der kann in seiner Seele ein Stück der großen Verbindung, ein Stück Gottes finden. Das nennen wir dann mystische Erfahrung. Wir glauben, dass es nichts gibt, das außerhalb von Gott existiert. Gar nichts. Und das ist auch das, was uns die Seelen aus dem Jenseits erzählen.”

Andreas schnappte sich sein iPhone und twitterte: “Was wisst ihr über Robert Jens? Ist der in ner Sekte?”

“Jetzt müssen Sie sich das so vorstellen, dass dieser Gott Seelen von sich abspaltet, ohne seine Einheit zu verlieren. Das heißt, diese Seelen wissen nicht mehr, dass sie ein Teil Gottes sind, weil sie die Einheit nicht mehr erfahren. Aber Gott kann durch all diese Seelen erleben. Deshalb sagen viele Religionen: Gott sieht alles.”

Und wenn Andreas nun der Gott von Lemuria war? Alles sah er nun wirklich nicht. Auch nicht in der anderen Welt.

Robert fuhr fort: “Damit diese Seelen auch Gefühle, Emotionen undsoweiter erfahren können, die ihnen im Jenseits fremd sind, haben sie eine materielle Welt geschaffen, in der sie diese Gefühle erleben können. Ähnlich wie wir Computerspiele geschaffen haben, um darin Dinge zu erleben, die in unserer Welt nicht vorkommen. Beispielsweise Kämpfe gegen Drachen oder gegen Orks oder was auch immer. Sie haben diese Welt nicht nur erschaffen, sondern sie inkarnieren auch in sie. Und da es im Jenseits keine Zeit gibt, finden alle Inkarnationen nicht nacheinander, sondern quasi gleichzeitig statt.”

Hatte er Lemuria erschaffen, um dort Dinge erleben zu können, die ihm in dieser Welt fremd waren? Existierte Lemuria wirklich oder nur in seiner Phantasie? Andreas geriet immer mehr in den Sog des Vortrags. Woher wusste Robert von seinen Kämpfen gegen Orks?

“Um das gewährleisten zu können, kopiert sich die Seele selbst und senkt ihr Bewusstsein herab. Dadurch vergisst sie, dass sie eigentlich eine unsterbliche Seele ist. Sie blendet viele Aspekte ihrer Persönlichkeit aus und setzt diese Aspekte in jeder Inkarnation anders zusammen. Nur so ist es möglich, dass jeder Mensch einmalig ist, obwohl doch mehrere Menschen in unterschiedlichen Zeiten von ein und derselben Seele verkörpert werden. Wenn Sie Computer spielen, steuern Sie ja schließlich auch unterschiedliche Avatare, unterschiedliche Charaktere. Gute und Böse, Schöne und Hässliche, Erfolgreiche und weniger Erfolgreiche. Und so wie Sie Ihre Avatare sind und gleichzeitig auch nicht sind, so ist Ihre Seele auch mit Ihnen identisch und dann auch wieder nicht. Sie sind keine Marionetten Ihrer Seelen, Sie sind Ihre Avatare. Avatare aus Fleisch und Blut, die es Ihren Seelen überhaupt erst möglich machen, in dieser Welt zu leben und die Erfahrungen zu machen, die sie machen wollen.”

Andreas als Avatar in Lemuria? Hatte er Avatare in zwei Welten, gleichzeitig stattfindende Reinkarnationen? Hatte das vielleicht auch Sundari? Oder der Gründer der Firma Lemuria? Das würde einiges erklären.

“Das sind nicht nur gute Erfahrungen”, sagte Robert. “Es sind auch sehr, sehr viele Schicksalsschläge. Da führt auch kein Weg daran vorbei, denn das sind die Hürden, die Ihre Seelen in Ihren Plan eingebaut haben, damit sie zu bestimmten Zeiten bestimmte Emotionen erleben können.”

Nun komm endlich zum Punkt, dachte Andreas.
Und Robert fuhr fort: “Machen Sie sich klar, dass das eine Illusion ist. Dafür brauchen Sie Wissen. Das können Sie in meinen Büchern finden. Es würde zu weit führen, hier alles zu erklären. Sie brauchen naturwissenschaftliches Wissen, damit Sie erkennen, wie die materielle Welt funktioniert. Aber viel wichtiger als das ist: Wissen darüber, wie die immaterielle Welt funktioniert.”

Wie funktioniert sie denn? dachte Andreas.

“Und dann müssen Sie an sich glauben. Versuchen Sie es einfach. Fangen Sie mit etwas leichtem an. Glauben Sie, dass Sie einen Parkplatz finden. Glauben Sie fest daran, dass Sie genau dort, wo Sie einen suchen, auch auf Anhieb einen finden werden. Es wird nicht gleich beim ersten Mal funktionieren. Auch nicht beim zweiten Mal. Vielleicht beim dritten Mal. Aber dann könnte es Zufall sein. Nein, könnte es nicht. Denn Zufälle gibt es nicht. Vielleicht wird es mal klappen, dann wieder nicht. Aber der Trick ist, nicht aufzugeben. Glauben Sie jedes Mal aufs Neue. Sagen Sie sich nicht: Ich werde einen Parkplatz suchen. Sagen Sie: Ich werde einen Parkplatz finden. Und Sie werden sehen: Nach einiger Zeit werden Sie immer einen Parkplatz finden. Ich mache das schon seit Jahren. Und seitdem ich es richtig drauf habe, wie es geht, habe ich jedesmal einen Parkplatz gefunden. Ungelogen.”

Wenn man lange genug sucht, findet man immer einen, dachte Andreas. Und wenn er ganz weit weg ist.

Doch Robert fuhr fort: “Wenn Sie soweit sind, können Sie sich an den nächsten Schritt wagen. Meine Herren, speziell die Singles unter Ihnen: Sie gehen in eine Bar, Sie sehen eine Frau, Sie trauen sich nicht, sie anzusprechen? In diesem Moment haben Sie schon verloren. Glauben Sie an sich. Sprechen Sie die Frau an. Es wird beim ersten Mal vielleicht nicht klappen. Vielleicht auch nicht beim zweiten Mal. Dann wird es ab und zu klappen. Und irgendwann auf einmal immer. Genau das gleiche Spiel wie bei der Parkplatzsuche. Genauso meine Damen. Sie sehen einen verdammt gut aussehenden jungen Mann. Glauben Sie fest daran, dass er auf Sie zu kommt. Dass er Sie anspricht. Sobald irgendwelche Zweifel aufkommen, wird es nicht geschehen. Aber wenn Sie keinen Zweifel haben, wird er es auch tun. Weil Sie es in der Hand haben. Weil Sie diese Illusion steuern können. Es wird am Anfang nicht immer funktionieren. Aber wenn man lange genug trainiert, klappt es. Ich bin Single, und seit fünf Jahren habe ich keinen einzigen Korb mehr bekommen, obwohl ich regelmäßig Frauen anspreche. Und das liegt nicht daran, dass ich gut aussehe. Nein, es liegt daran, dass ich selbstbewusst bin. Meiner selbst bewusst. Dass ich an mich glaube. Dass ich keine Zweifel daran habe, dass es klappen wird. Und Sie können das auch.”

Das war das letzte, was Andreas vernahm, bevor seine Gedanken wieder abschweiften und er sich in die Welt von Lemuria verlor...

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Montag, 20. Mai 2013
00011000 - Mädchen
Frauen waren für Andreas ein Buch mit sieben Siegeln. Er, der immer logisch und rational dachte, konnte mit dem weiblichen Verhalten, das sich jeglicher Logik zu verschließen schien, nichts anfangen - und dementsprechend hatte er auch Probleme, eine Partnerin zu finden - sei es für eine Nacht oder auch für länger. Abgesehen von einigen kleineren Ausnahmen und abgesehen von Sundari, die er aber immer noch für ein Hirngespinst hielt, hatten Frauen in seinem Leben nie eine große Rolle gespielt. Seitdem seine Mutter vor einigen Jahren gestorben war, gab es keine Frau, mit der er mehr als nur ein paar Worte wechselte. Sie nahmen Abstand von ihm, und er nahm Abstand von ihnen - denn nach einigen schlechten Erfahrungen, die aber niemals über ein zartes Anfangsstadium hinausgegangen waren, hatte er sich zurückgezogen und sich dem weiblichen Geschlecht komplett verschlossen. Er war asexuell geworden - bis zu diesem Abend, da er den Worten von Robert Jens lauschte.

Da ihm Mädchen schon seit seiner frühesten Kindheit - bis auf wenige Ausnahmen - so fremd erschienen waren, hatte er viele Jahre, so gut er konnte, einen großen Bogen um sie gemacht. Doch eines Tages, kurz nachdem Robert Jens ihm den Krieg erklärt hatte, änderte sich alles.

Wie Robert ihm angedroht hatte, fuhr er jetzt eine härtere Gangart. Die Tracht Prügel, die er Andreas vor der Schule verpasst hatte, war nur der Anfang gewesen. Robert nutzte jetzt jede freie Minute, um Andreas mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das Leben zur Hölle zu machen. Das war zum einen körperliche Gewalt, zum anderen aber Demütigung und drittens schließlich auch Intrigen. In den Fünf-Minuten-Pausen, wenn sich gerade kein Lehrer im Klassenzimmer aufhielt, bewarf er ihn mit Kreide oder mit dem Schwamm. Auf die Mithilfe der Schulkameraden konnte sich Robert verlassen. Fast alle machten mit - bis auf einige wenige, die aber immerhin diese Aktionen zu billigen schienen. Sie blieben ruhig und waren froh, dass sie selber nicht zu Roberts Opfern wurden. An anderen Tagen nahm Robert oder einer seiner Komplizen Andreas einen Kugelschreiber, das Mäppchen, manchmal auch den Regenschirm ab. Wenn er versuchte, sich sein Eigentum wieder zurückzuholen, stellte ihm jemand ein Bein, und da Andreas nicht gerade über eine gute Koordination verfügte, stürzte er häufig zu Boden. Robert verteilte aber auch gerne Kopfnüsse, schnipste an Andreas’ Ohr, machte die “Brennessel” oder boxte ihn so hart, dass es fürchterlich wehtat. Doch nicht nur das: Robert verstand es auch, die Lehrer gegen Andreas aufzubringen. Einmal bauten er und seine Kameraden in der letzten Reihe, wo Andreas immer alleine zu sitzen pflegte, eine Pyramide aus Stühlen auf. Als dann der Lehrer rein kam, behaupteten alle Schüler unisono, Andreas sei es gewesen. Er konnte es abstreiten, wie er wollte: es hatte keinen Zweck. Wenn der Lehrer kam, war Robert meist dabei, durch die Klasse zu rennen oder sich in einem wilden Anfall unkontrollierter Wut gegen die anderen zu wenden, um sie zu verprügeln - obwohl er ganz genau wusste, dass derartige Versuche wegen seiner mangelhaften Motorik und seiner fehlenden Muskelkraft nie von Erfolg gekrönt sein würden. Im Gegenteil: Der Lehrer erwischte ihn jedesmal, wenn die anderen ihn so weit hatten, dass er aus der Haut gefahren war. Die Strafe folgte auf den Fuß: Zusätzliche Hausaufgaben, Hof kehren beim Hausmeister, Einträge ins Klassenbuch oder manchmal auch eine Benachrichtigung an die Eltern, die Andreas’ Entwicklung mit Sorge verfolgten. Roberts Kriegsführung schien aufzugehen.

Dann, eines Tages, geschah etwas, womit weder Andreas, noch Robert, noch sonst irgend jemand gerechnet hatte: Eine Minderheit, die sich bislang vornehm zurückgehalten hatte, griff in den Krieg ein. Eine Minderheit, die jetzt ihr Schweigen brach und völlig überraschend Partei ergriff: die Mädchen in Andreas’ Klasse. Es waren nur fünfeinhalb - der halbe war Fabian, der sich mehr wie ein Mädchen als wie ein Junge verhielt und der auch viel lieber mit den Mädchen abhing als mit den Jungs. Später sollte er schwul werden, aber zu diesem Zeitpunkt wusste das noch niemand. Es war eben dieser Fabian, der eines Tages Andreas packte und ihn in einen Raum zerrte, in dem er noch nie zuvor gewesen war.

Es war große Pause, und draußen regnete es. Normalerweise herrschte in großen Pausen Schulhofpflicht, das heißt, alle Schüler waren angewiesen, die Zeit auf dem Schulhof zu verbringen. Für Andreas ein Horror, denn hier war er den Attacken Roberts ausgeliefert - und das, obwohl der Schulhof regelmäßig von den Aufsicht führenden Lehrern überwacht wurde. Doch wenn es gegen Andreas ging, griffen sie nicht ein. Niemals. Robert war raffiniert genug zu merken, wann die Lehrer die Aufmerksamkeit auf ihn richteten. Dann ließ er Andreas in Ruhe - um später nur um so härter zuzuschlagen. Nur wenn Andreas sich wehrte und Robert die passive Rolle übernahm, war sofort ein Lehrer zur Stelle. Andreas fehlte jeglicher Instinkt, der für den Schulhof notwendig war.

Um so erfreuter war Andreas, wenn es regnete, denn dann durften die Schüler die Pause im Gebäude verbringen. Für ihn bedeutete das wesentlich mehr Möglichkeiten, sich zu verstecken. Das Schulgebäude war groß und unübersichtlich, und es gelang Andreas fast immer, Robert aus dem Weg zu gehen. Gerade ging Andreas einen der zahlreichen Gänge entlang, als ihn Fabian in einen Seitenraum zerrte. Es war nur ein kleiner Raum mit nicht mehr als zehn Sitzplätzen, einer Tafel und nur einem Fenster. Er wurde bevorzugt für kleine Oberstufenkurse verwendet, für Nachhilfeunterricht und manchmal auch, wenn ein Schüler eine Klassenarbeit oder Klausur nachschreiben musste. Manchmal, in ganz seltenen Fällen, auch zum Nachsitzen. Doch selbst Andreas, der unter Lehrern als schwieriger Fall galt, hatte ein solches Nachsitzen noch nie erlebt. Diese Bestrafungsmethode war etwas aus der Mode gekommen.

Andreas und Fabian waren nicht die einzigen, die sich in diesem Raum aufhielten. Sämtliche Mädchen aus ihrer Klasse hatten sich versammelt. Da war Maja, die Klassenschönheit, die sich immer geschmeidig wie eine Katze bewegte, mit ihren schulterlangen braunen Haaren und ihren grünen Augen. Neben ihr ihre beste Freundin Sonja. Sie war klein, hatte lange, schwarze Haare und trug fast immer schwarz. Christine war die Intellektuelle unter den Mädchen. Sie hatte kurze, straßenköterblonde Haare und eine Brille mit braunem Rand und großen Gläsern. Ramona und Caro waren unzertrennlich. Caro heiß eigentlich Caroline, doch sie bestand darauf, dass ihr Vorname französisch ausgesprochen wurde - also ohne e und mit Betonung auf der letzten Silbe. Doch die meisten Lehrer sahen das nicht ein - schließlich war man hier in Deutschland und nicht in Frankreich. Also hatte sich irgendwann der Kompromiss eingebürgert, sie einfach nur Caro zu nennen. Sie war die kleinste in der Klasse, doch was ihr an Körpergröße fehlte, machte sie mit ihrer Klappe wett. So war sie das krasse Gegenteil ihrer besten Freundin Ramona - ein unscheinbares, regelrecht schüchternes Mädchen, das von allen die besten Noten schrieb, ansonsten aber fast nie etwas sagte. Sie war einen Kopf größer als Andreas, und ihre langen, schlanken Beine wurden meistens durch weite Hosen verborgen.

Und dann war da noch Fabian. Kein richtiges Mädchen. Aber er sah so aus. In seinem geringelten Rollkragenpullover und seinen Jeans wirkte er so androgyn, dass sich jeder fragte, welchem Geschlecht er angehörte und ob er eigentlich auf Jungs oder auf Mädchen stand.

“Hallo, Andreas”, sagte Caro. Sie wirkte so, als würde sie etwas sagen, was die Mädchen vorher untereinander besprochen hatten. “Wir haben uns lange genug angesehen, wie Robert und die anderen Jungs dich behandeln. Du bist hier, damit wir dir sagen: Wir sind auf deiner Seite.”

“Bilde dir bloß nichts darauf ein”, sagte Maja. “Du brauchst Verbündete. Das sind wir. Nicht mehr und nicht weniger.”

“Was könnt ihr gegen die Jungs schon ausrichten?” fragte Andreas.

“Was kannst du gegen die Jungs ausrichten?” entgegnete Maja, und sie fügte hinzu: “Wir Mädchen müssen zusammen halten!”

“Ich bin kein Mädchen.”

“Bist du dir da sicher?” sagte Sonja. “Du interessierst dich nicht für Autos, du interessierst dich nicht für Fußball, du bist nicht besonders stark, du kriegst bei Prügeleien immer Haue, du hast keine Muskeln, keinen Bartwuchs - was, bitteschön, macht dich besonders männlich?”

Bumm! Das saß.

“Also, wie stellt ihr euch das vor?” fragte Andreas. “Habt ihr irgendeinen Plan, eine Idee?”

“Noch nicht”, sagte Caro. “Aber deswegen sind wir ja hier. Wir überlegen, was wir tun können.”

“Wir könnten uns an die Lehrer wenden”, schlug Maja vor.

“So einfach ist das nicht”, warf Caro ein. “Wenn wir petzen, macht das Robert nur noch wütender.”

“Wir sollten dafür sorgen, dass er von der Schule fliegt”, sagte Sonja.

“Das können wir aber nur, wenn er was ganz schlimmes macht”, sagte Caro.

“Dann bringen wir ihn dazu”, sagte Maja. “Wir müssen seine Wut auf Andreas steigern.”

“Das ist keine besonders gute Idee”, entgegnete Andreas.

“Ja, stimmt”, sagte Sonja. “Also, was sonst?”

“Wir könnten Drogen bei ihm verstecken”, sagte Fabian.

“Und wo sollen wir die Drogen her kriegen?” fragte Maja.

Fabian schwieg betreten. In diesem Moment ertönte der Pausengong. Die Pause war beendet.

“Also, Hausaufgabe für morgen: Denkt euch etwas aus”, sagte Caro. “Wie können wir Robert von der Schule schmeißen?”

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Sonntag, 19. Mai 2013
00010111 - Schrödingers Katze
Wieder ein neues Dia. Diesmal Roberts widerliche Visage - zusammengesetzt aus Nullen und Einsen.

“Kommen wir von unserer Welt aus Atomen wieder zurück in die Welt aus Nullen und Einsen”, sagte Robert. “Wenn jemand tatsächlich auf die Idee kommt, eine Matrix zu programmieren, wie geht er da vor? Natürlich muss er das ganze ökonomisch programmieren. Das heißt also, keine Datenverschwendung, sondern immer auf den Punkt. Nur das soll der Nutzer sehen, was er auch wahrnehmen kann.”

Wieder änderte sich das Bild. Diesmal waren die drei Grundfarben zu sehen: Rot, grün und blau - jede durch einen Kreis dargestellt. Dort, wo sich die Kreise überlagerten, entstanden andere Farben. Rot und blau beispielsweise bildeten die Farbe violett, rot und grün die Farbe gelb. In der Mitte, wo alle Farben aufeinander trafen, war die Farbe weiß, und der Hintergrund, auf dem die Farben abgebildet waren, war schwarz.

“Wie entstehen denn aus den Nullen und Einsen unsere virtuellen Welten? Durch Codierung. Bei Bildern sind es beispielsweise die Rot-, die Grün und die Blau-Werte. Rot, grün und blau sind die Grundfarben. Es gibt rotes, grünes und blaues Licht und alle anderen Farben entstehen aus Mischungen. Wenn zum Beispiel kein Licht da ist, ist es schwarz. Wenn alle Lichter gleich intensiv strahlen, ist es weiß. Die Farbwerte lassen sich also in rot, grün und blau codieren - und zwar im Hexadezimalsystem.”

Das nächste Bild zeigte verschiedene Farben und dazu jeweils ein sechsstelliger Code aus Zahlen und Buchstaben.

“Das Hexadezimalsystem funktioniert ähnlich wie unser Zehnersystem”, sagte Robert. “Wir zählen von 1 bis 9. Nur nach 9 geht es nicht mit 10 weiter, sondern mit A. Erst wenn wir F erreicht haben, kommt 10. Somit haben wir nicht zehn, sondern 16 verschieden Ziffern. Mit einem zweistelligen Code können wir also 16 x 16, insgesamt 256 verschiedene Werte kodieren. Wir haben aber einen sechsstelligen Code. Die ersten beiden Stellen stehen für die Rot-Werte, dann kommen die Grün-Werte und dann die Blau-Werte. FF0000 steht also für sattes Rot. Nur Nullen hieße Schwarz, nur F hieße weiß und so weiter. Somit stehen uns 256³ verschiedene Farben zur Verfügung. Macht insgesamt mehr als 16 Millionen. Und jede Hexadezimalzahl lässt sich natürlich auch in Nullen und Einsen ausdrücken. Ein Byte ist eine Zeichenkette von acht Bit, also acht Nullen und Einsen. Damit lassen sich 256 verschiedene Codes bilden. Genau wie bei zwei Hexadezimalstellen. Mit drei Bytes haben wir also einen Farbton definiert. Und somit haben wir einen Bildpunkt, ein Pixel. Ein Bild ist aus mehreren Pixeln aufgebaut. Je mehr Pixel, desto größer ist die Datengröße, aber desto schärfer ist auch das Bild. Haben wir 24 Bilder in der Sekunde, so haben wir ein Video. Hinzu kommt noch der Ton, der extra kodiert wird. Somit lässt sich aus Nullen und Einsen eine ganze virtuelle Welt generieren.”

Wieder ein neues Bild an der Leinwand. Diesmal etwas, das Andreas auf Anhieb erkannte, wovon er aber schätzte, dass viele damit Probleme hatten. Es war ein Ausschnitt aus einem Audio-Schnittprogramm am Computer, und es zeigte - grün auf schwarzem Grund - das aus Bergen und Tälern bestehende Muster, das ein Musikstück darstellte.

“So weit, so gut”, sagte Robert. “Nur: Unsere Datei wird viel zu groß. Wir sind im Internet. Wir sind in den neunziger Jahren. Die Datenübertragungsgeschwindigkeit ist alles andere als schnell. Wir sind darauf angewiesen, die Dateien kleiner zu machen, damit wir sie ohne Probleme im Internet verschicken können. Bislang gab es BMP-Dateien für Bilder, WAV-Dateien für Musik. Die Dateien sind viel zu groß, und es dauert ewig, sie zu verschicken. Was tun wir also? Wir komprimieren. Komprimieren heißt nicht nur verkleinern, Komprimieren heißt: Beschränken auf das Nötigste. Und das Nötigste heißt: Wir schmeißen einfach alles raus, was wir sowieso nicht brauchen. Nach diesem Prinzip funktioniert MP3. Wozu brauchen wir Töne, die sowieso kein Mensch hören kann, weil sie von anderen Tönen überlagert werden? Nichts anderes ist MP3. Wir konzentrieren uns auf das, was Menschen wahrnehmen können und schmeißen alles andere raus. So ähnlich funktioniert JPG. Alles, was kein Mensch wahrnehmen kann, verschwindet. Wenn also jemand eine künstliche Welt erschafft, warum sollte er nicht genauso vorgehen?”

Das nächste Dia: Ein hübsch eingerichtetes Wohnzimmer wie aus einem Ikea-Katalog. Andreas musste grinsen.

Robert fuhr fort: “Wenn Sie früh am Morgen Ihre Wohnung verlassen und abschließen, so dass kein Mensch rein kann, woher wissen Sie, dass in diesem Moment Ihre Wohnung noch existiert? Wäre es nicht viel ökonomischer, nur die Teile der Welt zu generieren, die auch wahrgenommen werden können? Wozu brauchen wir eine Galaxis von Milliarden von Welten, wenn die Illusion davon schon ausreicht?”

Ein weiteres Mal wechselte das Dia. Jetzt flimmerte ein Bild über die Leinwand, das Andreas schon mal gesehen hatte: Das Doppelspaltexperiment, an dem eine Kamera an einem der beiden Spalte angebracht war.

“Wissen Sie, worauf ich hinaus will? Es geht um Beobachtung. Ein Elektron verhält sich anders, wenn es beobachtet wird, als wenn es nicht beobachtet wird. Es ist eben nicht egal, ob etwas beobachtet wird oder nicht. Denn das, was nicht beobachtet wird, spielt in unserer Welt keine Rolle. Es existiert einfach nicht.”

Andreas blickte grinsend zu der jungen Frau neben ihm. Im gleichen Moment blickte sie ihn auch an und grinste ebenfalls. Andreas’ Herz schlug schneller, und er bekam feuchte Hände. Sie war wirklich süß. Vielleicht sollte er etwas zu ihr sagen, doch er wusste nicht, was. Plötzlich hatte er einen Einfall. Er beugte sich an ihr Ohr und flüsterte: “Wetten, als nächstes kommt Schrödingers Katze?”

Sie kicherte.

Auf der Leinwand war inzwischen das Bild eines offenen Kühlschranks zu sehen. Gut gefüllt mit Wurst und allerlei Käse. Auch die obligatorische Sardinenbüchse durfte nicht fehlen.

Robert fuhr fort: “Wenn der Kühlschrank zu ist, brennt darin Licht? Jetzt werden viele von Ihnen sagen: Natürlich brennt dann kein Licht. Aber woher wissen Sie das? Sie können ja in den Kühlschrank nicht reinschauen. Ich wollte das auch wissen und habe eine Kamera in den Kühlschrank gestellt, und tatsächlich: Wenn der Kühlschrank zu ist, brennt kein Licht. Aber ist das auch wirklich so? Oder ist es nur so, weil ich eine Kamera reingestellt habe?”

“Wette verloren”, flüsterte das blonde Mädchen.

“Warte es ab”, sagte Andreas. “Es kommt gleich.”

“Machen wir ein kleines Gedankenexperiment. Ich betone: GEDANKENexperiment. Nicht dass mir jetzt jemand die Tierschützer auf den Hals hetzt, denn es geht um Schrödingers Katze.”
“Bingo”, flüsterte Andreas, und Robert fuhr fort: “Erwin Schrödinger, Physiker der Quantenmechanik. Das sind genau die Leute, die zu erklären versuchen, warum sich die Elektronen in diesem Doppelspaltexperiment so merkwürdig verhalten.”

Schon war die Diashow auf der Leinwand weitergegangen. Jetzt zeigte sie den Versuchsaufbau des Gedankenexperiments: Eine Katze in einer Kiste, daneben so etwas, das wie ein Geigerzähler aussah und daneben ein Behältnis mit dem aufgemalten Radioaktiv-Zeichen.

“Das Experiment geht folgendermaßen: Wir packen eine Katze in eine Kiste. Zu dieser Katze stellen wir einen Atomkern, der irgendwann demnächst zerfallen wird. Wann das sein wird, wissen wir nicht. Das ist quasi wie ein Zufallsgenerator. Was wir aber wissen, ist: Sobald der Atomkern zerfällt, setzt er Radioaktivität frei. Diese Radioaktivität kann man messen mit einem Geigerzähler. Schlägt der Geigerzähler aus, lassen wir Gift freisetzen, das die Katze tötet. Also, sobald der Atomkern zerfallen ist, ist die Katze tot.”

Und wieder erschien das Bild vom Doppelspaltexperiment auf der Leinwand. Andreas gähnte, während Robert fortfuhr: “Jetzt haben in der Zwischenzeit die Physiker unser Doppelspaltexperiment interpretiert: Sie erinnern sich: Die Elektronen verursachen ein Wellenmuster, das vermutlich durch Überlagerung entsteht. Kommt ein Beobachter dazu, kollabiert diese Wellenfunktion, und die Elektronen verhalten sich ganz normal wie Teilchen. Genau das geschieht hier auch.”

Irgendwo nieste jemand. Das Dia mit dem Versuchsaufbau von Schrödingers Katze erschien wieder.

“Im Atomkern kommt es zu einer Überlagerung von ‘bereits zerfallen’ und ‘noch nicht zerfallen’. Diese Überlagerung überträgt sich auf die Katze. Sie ist tot und lebendig zur gleichen Zeit. Beide Zustände überlagern sich. Sobald wir die Kiste öffnen, beobachten wir, und die Wellenfunktion kollabiert. Das heißt, wir sehen, dass die Katze tot ist. So lange die Kiste aber geschlossen ist, wissen wir nicht: Ist die Katze tot, lebt sie noch oder ist sie vielleicht beides zugleich?”

“Hast du schon mal was von ihm gelesen?” flüsterte die blonde Frau.

“Nein. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen.”

“Ernsthaft?”

“Ja, ernsthaft.”

“Und, wie war er so?”

Andreas konnte nicht lügen. Jedenfalls hielt er nicht viel davon. Deshalb sagte er: “Er war ein Arschloch!”

“Oh!” sagte die Blonde und widmete sich wieder ganz dem Vortrag.

“Wir müssen am Ende daraus schließen: Alles, was wir nicht beobachten oder messen können, existiert nicht. Sobald wir etwas beobachten oder messen, existiert es. Das nennt man Komprimierung. Nur das existiert, was zu diesem Zeitpunkt auch gebraucht wird. Der Computer macht es doch auch so. In einem Rollenspiel-Adventure sehen Sie doch auch immer nur das Bild, in dem Sie gerade sind - und nicht alle Bilder auf einmal.”

Das Dia wechselte wieder. Jetzt war nichts anderes zu sehen als ein Haufen Bücher.

“Schauen Sie sich ein Buch an. Das ist pure Magie. Nur aus Buchstaben und Worten entstehen Texte und Sinnzusammenhänge - ganze Geschichten, ja, ganze Welten. Aber existieren sie auch, wenn sie niemand liest? Wenn die Bücher einfach nur im Regal stehen? Existieren dann überhaupt die Buchstaben? Oder sind sie wegkomprimiert? Allein durch unsere Beobachtung nehmen wir Einfluss auf die Welt, und wir nehmen das wahr, was wir sehen sollen.”

Jetzt war wieder das erste Bild zu sehen - Neo in der Matrix. Der Kreis schien sich zu schließen.

“Wir sind jetzt dem Matrix-Code schon ein schönes Stück näher gekommen. Wir wissen jetzt, die Welt besteht aus Protonen, Neutronen und Elektronen. Und wir wissen, dass Elektronen höchst merkwürdige Dinger sind. Und wir wissen, dass der Beobachter Einfluss nimmt auf die Welt. Das bisher ist Basiswissen, das Ihnen jeder Naturwissenschaftler bestätigen würde. Aber jetzt verlassen wir den Bereich der Naturwissenschaften. Jetzt gehen wir eine Stufe weiter. Und da wollen wir wieder die Welt der Computer bemühen.”

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Samstag, 18. Mai 2013
00010110 - Alles nur Kulisse
Da war sie wieder, die Theorie, auf die ihn gestern erst Alexander hingewiesen hatte. Das Trinäre System. Ein System, das die 2 in die Computer mit aufnehmen sollte, das zur positiven und zur negativen die neutrale Funktion hinzufügen sollte. Jetzt versprach es, interessant zu werden.

Aber es wurde nicht interessant. Robert fing nun an, sich in physikalischem Grundwissen zu ergehen und den - zumindest in der Mehrheit - nicht sonderlich intelligenten Zuschauern zu erklären, was ein Atom ist:

“Aber der Code der Elemente geht doch ein kleines bisschen anders. Zwar sind in jedem Atom positive, negative und neutrale Teilchen enthalten, aber die Atome sind allesamt im elektrischen Gleichgewicht. Das heißt, im Normalfall hat jedes Atom genau so viele Protonen wie Elektronen. Der Code liegt also nicht im Verhältnis von Protonen, Neutronen und Elektronen zueinander. Der Code ist viel simpler:”

Hatte das vorangegangene Dia noch ein Atom gezeigt, so war jetzt das Periodensystem der Elemente zu sehen - eine Tabelle, die Andreas sehr gut kannte - wenn auch in der Zwischenzeit einige Elemente dazu gekommen waren, seit er es das letzte Mal gesehen hatte.

“Derzeit gibt es 118 Elemente”, sagte Robert. “Das hier kennen einige von Ihnen sicherlich aus dem Chemieunterricht. Das ist das Periodensystem, in dem diese 118 Elemente einsortiert sind. Im Prinzip ist das alles ganz einfach. Jedes dieser Elemente hat eine Ordnungszahl. Zum Beispiel Wasserstoff, hier ganz oben links mit dem Buchstaben H, hat die Ordnungszahl 1. Helium, ganz oben rechts mit der Abkürzung He, hat die Ordnungszahl 2. Und das war auch schon die erste Zeile, also die erste Periode. In der zweiten Periode geht es weiter mit Lithium, Beryllium, Bor, Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Fluor und Neon. Die Ordnungszahlen 3 bis 10. Und jede dieser Ordnungszahlen ist nichts anderes als die Anzahl sowohl der Protonen, als auch der Elektronen im Atom. So simpel ist das. Ob ich ein Proton und Elektron mehr habe oder nicht, entscheidet, ob ich Gold habe oder Platin oder vielleicht Quecksilber. So einfach ist das. Die ganze Chemie ist aufgebaut auf 118 Elementen, und davon spielen gerade mal 80 eine Rolle. Und nur die Anzahl der Elektronen und Protonen unterscheidet sie, bestimmt, ob ein Element fest, flüssig oder gasförmig ist, giftig, ätzend oder radioaktiv, ob es leicht reagiert, vielleicht leicht entflammbar ist oder ob es ein Edelgas ist und überhaupt nicht reagiert.”

Andreas schaute das blonde Mädchen an, aber sie starrte nun gebannt nach vorne und hatte sich ganz und gar auf den Vortrag konzentriert.

“Dieses Periodensystem”, fuhr Robert fort, “ist eigentlich eine hübsche, saubere Ordnung, wie sie sich nur ein intelligentes Wesen ausdenken kann. Und doch ist es unsere Natur. Jede Zeile ist eine neue Periode. Im Atom wäre das eine neue Elektronenschale. Jede äußerste Elektronenschale hat acht Elektronen. Ist die äußerste Schale voll, kann das Element nicht reagieren und ist somit ein Edelgas. Und jetzt kommen wir zu den Spalten: In jeder Spalte finden sich Elemente, die einander in ihren Eigenschaften ähnlich sind. Spalte 1 sind die Alkalimetalle: Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium, Caesium und Francium. Spalte 17 sind die Halogene und Spalte 18 die Edelgase. Dazwischen gerät es manchmal ein bisschen durcheinander. Aber selbst im ordentlichsten System herrscht mal Unordnung.”

Andreas fragte sich, ob das alle begriffen hatten. Jedenfalls traute sich niemand, eine Frage zu stellen. Aber vielleicht waren die Zuschauer auch ein bisschen überfordert. Vielleicht unterschätzte er sie aber auch, und sie waren intelligenter, als er dachte. Er hatte damals zumindest im Chemieunterricht keine Probleme, das Periodensystem zu verstehen. Aber vielleicht war das für Roberts Vortrag auch nicht nötig.

Das Periodensystem verschwand jetzt und machte wieder einer Abbildung eines Atoms Platz: Elektronen umkreisten einen Atomkern, der aus Protonen und Neutronen bestand.

“Schauen wir uns jetzt ein Atom genauer an”, sagte Robert. “Jedes Atom besteht aus einem Atomkern und einer Atomhülle. Im Atomkern, da sitzen die Protonen und Neutronen, und die Elektronen bewegen sich in der Atomhülle. Was aber, wenn ich Ihnen sage, dass die Atomhülle 10.000 Mal größer ist als der Atomkern? 10.000 Mal. Stellen Sie sich vor, dieser Raum wäre ein Atom. Wie viele Meter sind das? Rechnen wir mal mit fünfzig Metern Länge. Könnte etwa hinkommen. Fünfzig Meter lang, zwanzig Meter breit, zehn Meter hoch. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber das würde doch einen ganz passablen Raum ergeben. 50 mal 20 mal 10: 10.000 Kubikmeter. Nehmen wir an, dieser Raum hätte 10.000 Kubikmeter. So, das würde bedeuten, der Atomkern wäre kleiner als ein Würfel, der einen Meter lang, einen Meter breit und einen Meter hoch wäre. Ich bin sicher, niemand von Ihnen ist einen Meter hoch. Je nach Körpergröße würde dieser Würfel Ihnen bis an die Taille oder bis an den Bauchnabel oder bis zur Brust reichen. Dieser Würfel ist jetzt der Atomkern. Und der Rest der Halle besteht aus... nichts. Rein gar nichts. Absolute Leere. Mit Ausnahme von den paar Elektronen, die hier herumschwirren. Und wenn Sie überlegen, dass mehr als 99,9 Prozent der gesamten Masse eines Atoms im Atomkern ist, dann können Sie sich schon ausrechnen, wie groß diese Elektronen sind. 0,02 Prozent der Masse eines Atoms besteht aus Elektronen. In dieser Halle wären das gerade mal 200 Kubikzentimeter. Das hört sich viel an. Aber ziehen Sie mal die Kubikwurzel aus 200. Das wären 5,848 - also knapp sechs Zentimeter. Wir haben in dieser Halle Elektronen, die in einen Würfel von sechs Zentimetern Kantenlänge passen. Das ist gerade mal eine Fingerspanne. Alle zusammen - nicht nur eines. Und bedenken Sie: Es gibt Elemente mit 118 Elektronen. Wir haben einen Würfel von einem Meter Kantenlänge. Der ganze Rest ist luftleerer Raum. Ein Atom besteht zum großen Teil aus gar nichts. Gar nichts, meine Damen und Herren. Das ist das Geheimnis von allem, was wir sehen. Nur ein Zehntausendstel aller Materie ist wirklich Masse. Der Rest ist nichts.”

Robert hatte sich zu dem Tisch bewegt, der auf der Bühne stand. Ein einfacher Holztisch. Nichts besonderes.

“Wenn wir also diesen Tisch da nehmen, und wir entfernen den gesamten leeren Raum der Atomhülle, und wir nehmen mal an, der Tisch ist einen Meter hoch, einen Meter lang und einen Meter breit, also ein Kubikmeter groß. In dieser Halle wäre er so groß wie der Atomkern. Aber wir entfernen jetzt den ganzen leeren Raum aus dem Tisch. Was bleibt übrig?”

Er nahm ein kleines Tischchen, das auf dem großen Tisch stand und hielt es in die Höhe. “Das, meine Damen und Herren. Ein Tisch mit noch nicht einmal fünf Zentimetern Kantenlänge. Das ist unser Tisch ohne den ganzen überflüssigen leeren Raum. Und als mir das wirklich bewusst wurde, wurde mir klar: Wer immer sich das ganze hier ausgedacht hat, verscheißert mich gewaltig. Die ganze Welt ist mehr Schein als Sein. Alles, was wir sehen, ist im Grunde nur Kulisse. Und nur ein Zehntausendstel davon ist wirklich echt.”

Andreas nahm sein iPhone in die Hand und schielte nach dem blonden Mädchen neben ihm. Sie schien an Roberts Lippen zu hängen. Uninteressant war das ja wirklich nicht, was er gerade erzählte. Aber für Andreas ein alter Hut. Die Grundlagen der Atomphysik waren nichts wirklich Neues.

“So weit, so gut. Aber es wird noch besser: Was zum Geier ist überhaupt ein Elektron? Das wollten die Wissenschaftler auch wissen und kamen zum Doppelspaltexperiment.”

Nicht schon wieder dieses Doppelspaltexperiment! Das war für Andreas schon im Film What the BLEEP Do We Know? kaum erträglich. Inzwischen war das Dia wieder gewechselt und zeigte die Versuchsanordnung: Zwei Wände, und in der vorderen von beiden befanden sich zwei lange Schlitze, die die Wand von oben nach unten durchzogen.

“Der Versuchsaufbau ist denkbar einfach”, sagte Robert. “Wir haben eine Wand oder einen Schirm. Und wir haben eine zweite Wand, eine Barriere. In dieser zweiten Wand ist ein Doppelspalt eingelassen - also eigentlich zwei Spalten. Wir schießen jetzt mit Teilchen durch den Doppelspalt auf die Wand. Unsere Teilchen könnten zum Beispiel Tischtennisbälle sein, und die hintere Wand wäre mit Klebstoff beschichtet, so dass die Tischtennisbälle dort hängen bleiben, wo sie aufkommen.”

Das nächste Bild zeigte, dass sich an der hinteren Wand zwei senkrechte Reihen aus Kugeln gebildet hatten.

“So, und wenn wir jetzt lange genug einen Tischtennisball nach dem anderen durch den Doppelspalt schießen, dann bildet sich irgendwann ein Muster. Und dieses Muster besteht aus zwei Linien, die genau diesen Doppelspalt abbilden. Ist klar.”
Das nächste Dia zeigte, dass jemand den Versuchsaufbau zumindest zur Hälfte unter Wasser gesetzt hatte. Doch es war nur die Wand mit dem Doppelspalt zu sehen, nicht die hintere Wand.
“Statt der Teilchen schicken wir jetzt Wellen durch den Doppelspalt, beispielsweise Wasser.”

Das nächste Dia zeigte den Versuchsaufbau von oben. Die Wellen breiteten sich vom Doppelspalt aus. Dabei überlagerten sie sich, wurden teilweise stärker und hoben sich teilweise auf.

Robert fuhr fort: “Durch den Doppelspalt kreuzen sich die Wellen und überlagern sich dadurch. Auf der hinteren Wand gibt das ein völlig anderes Muster. Wir haben nicht zwei Streifen, sondern wir haben viele Streifen die Wand entlang. Auf die Art und Weise hat ein gewisser Thomas Young 1802 nachgewiesen, dass sich Licht wellenartig fortbewegt. So weit, so gut. Aber was sind jetzt Elektronen? Teilchen oder Wellen?”

Das nächste Bild lieferte eigentlich schon die Antwort. Doch Robert fasste es noch mal in Worte: “Ein gewisser Claus Jönsson wollte es 1961 genauer wissen und schickte Elektronen durch den Doppelspalt. Das Ergebnis: Es ergibt sich auf der hinteren Wand das Wellenmuster. Elektronen sind also Wellen. Ganz klar. Das leuchtet noch ein, wenn man einen Elektronenstrahl abschickt, denn dann könnten sich die Elektronen gegenseitig überlagern und so das Wellenmuster an der hinteren Wand bilden.”

Andreas twitterte: “Sitze gerade im Vortrag. Kompletter Bullshit. #RobertJens”

Robert sagte: “Nach diesen Erkenntnissen müsste es eigentlich logisch erscheinen, dass, wenn man jetzt einzelne Elektronen durch den Doppelspalt schickt, dass dann auf der hinteren Wand zwei Streifen entstehen mit der Zeit. Das gleiche würde ja schließlich auch mit einzelnen Wassertropfen passieren, da sie sich ja schlichtweg nicht überlagern können. Aber Pustekuchen! Das Experiment zeigte: Jetzt gibt es auch wieder ein Wellenmuster. Und die Frage, die natürlich auftauchte, war: Wie war das möglich? Es ging immer nur ein einziges Elektron durch den Doppelspalt. Da gab es nichts, wovon es sich abstoßen und womit es sich überlagern konnte. Es sei denn, und jetzt halten Sie sich fest: Das Elektron existierte mehrmals. Nicht irgendein Klon oder so, sondern ein und das selbe Elektron ging an mehreren Stellen gleichzeitig durch den Doppelspalt, beispielsweise durch beide Spalten auf einmal und überlagerte sich mit sich selbst. Ganz ehrlich: Der Eindruck, dass uns hier jemand gewaltig verscheißert, wird dadurch nicht unbedingt kleiner. Aber es kommt noch besser.”

Nächstes Dia, nächstes Bild: Hier war eine Kamera an einem der beiden Spalte angebracht.

“Hier war also etwas Ungeheuerliches, etwas ganz und gar Unglaubliches am Werk”, fuhr Robert fort. “Und das wollten die Wissenschaftler natürlich sehen - und da man Elektronen nicht sehen kann, wollten sie es zumindest messen. Also wurde an einem der beiden Spalten ein Messgerät installiert. Und das Ergebnis war verblüffend: Die Elektronen verhielten sich völlig normal. Und am Ende bildeten sich auf der hinteren Wand nur zwei Linien.”

Andreas konnte die Verblüffung im Saal spüren. Robert hatte sie jetzt - und das mit einem Experiment, das schon zigmal wiederholt worden war - immer mit dem gleichen Ergebnis: Es kam nicht mehr darauf an, was beobachtet wurde, sondern, wer beobachtete.
Robert sagte: “Wie man es dreht und wendet: Es kommt das selbe raus: Nur weil ich das Experiment beobachte, beeinflusse ich es. Das heißt, die Elektronen WISSEN, dass sie beobachtet werden und verhalten sich dementsprechend. Das ganze lässt doch nur drei Schlüsse zu: Entweder die Elektronen sind intelligent, oder sie werden von einer intelligenten Macht gesteuert, die uns überlegen ist und sich nicht in die Karten schauen lässt - zum Beispiel von Gott - oder wir steuern sie unbewusst selbst. Aber auf jeden Fall ist hier eine Intelligenz am Werk. Und hier, meine Damen und Herren, kommen wir dem Matrix-Code schon näher. Hier haben wir etwas entdeckt, was man als Fehler in der Matrix bezeichnen könnte.”

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Freitag, 17. Mai 2013
00010101 - Gottes Code
Und dieses Gesicht - um einige Jahre älter - blickte jetzt auf ihn herab von einer Leinwand in der Konrad-Adenauer-Halle. Laute Techno-Musik ertönte jetzt. Safri Duo. Played A Live. Wie bei einem Wahlkampfauftritt von Angela Merkel. Die Scheinwerfer in der Halle schwirrten durcheinander, als hätten sie zu viel Aufputschmittel genommen. Und dann betrat er die Bühne: Schlanker und hagerer als früher und - wie Andreas fand, vollkommen übertrieben - der einzige Anzugträger im Saal. Der Anzug war beige, die Krawatte ebenfalls, die schwarzen Schuhe glänzten, und am Kopf trug er - so deutlich, dass man es noch in der letzten Reihe sehen konnte - ein Headset mit Mikrofon.

Und er ließ sich feiern. Er nahm den Applaus auf wie eine berauschende Droge. Er grinste so wie damals, als Andreas’ Klamotten unter der Dusche lagen. Er winkte den Leuten zu wie ein Star auf dem roten Teppich. Alles schien perfekt inszeniert - mit wenigen, aber effektvoll eingesetzten Mitteln. Als ob er sagen wollte: Ich habe den Stein der Weisen entdeckt. Und das schlimme war: Er schien es selbst zu glauben.
“Danke!” sagte er. “Vielen Dank! Dankeschön!” Wie Thomas Gottschalk.

Und dann begann er seinen Vortrag - nicht gerade bescheiden: “Meine Damen und Herren, dieser Abend wird Ihr Leben verändern. Und das ist nicht nur so daher gesagt. Schauen Sie mich an. Ich bin ein erfolgreicher Buchautor. Ich habe eine Weltanschauungsgemeinschaft gegründet - ich vermeide bewusst das Wort Religion. Ich kriege jede Frau, die ich haben will. Ich kriege immer einen Parkplatz. Was ich will, bekomme ich auch. Ich bin in allem, was ich tue erfolgreich. Und Sie können das auch.”

Andreas wagte das zu bezweifeln. Ihm wurde jetzt schon schlecht.

“Positives Denken”, fuhr Robert fort. “Das ist der ganze Trick. Das allein reicht aber nicht aus. Sie müssen daran glauben. Sie müssen glauben, dass es funktioniert. Es darf nicht der geringste Zweifel aufkommen. Wir Menschen haben mehr Einfluss auf unsere Umgebung, als Ihnen bewusst ist. Wir leben in einer Welt, die wir kaum verstehen, die wir aber beeinflussen können mit unseren Gefühlen und Gedanken. Wir sind von unserer Umwelt nicht abgekoppelt, sondern mit ihr verbunden, und diese Verbindung müssen wir verstehen.”

Zum ersten Mal änderte sich das Dia auf der Leinwand. Es zeigte jetzt eine Szene aus dem Film Matrix. Neo, wie er sich nach hinten bog, um einer Kugel auszuweichen. Und Robert sagte: “Sie kennen alle den Film Matrix. Die Menschen leben alle in einer virtuellen Welt, die von Maschinen generiert ist. Eine Welt, die nur aus Code besteht. Und mitten in dieser Welt lebt Neo. Er ist der einzige, der diesen Code begreift und ihn für sich nutzen kann. Das macht ihn zum Auserwählten. Weil er den Code für seine Zwecke beeinflussen kann, bekommt er die Fähigkeiten eines Superhelden. Was aber ist, wenn ich Ihnen sage, dass der Film Matrix nichts anderes ist als eine kodierte Botschaft über die Welt, in der wir leben? Was ist, wenn unsere Welt tatsächlich aus Code besteht? Und was, wenn ich Ihnen sage, dass jeder von uns zum Neo werden kann?”

“Dann würde ich dir sagen: Du bist verrückt”, flüsterte Andreas dem blonden Mädchen neben ihm zu. Sie schien es lustig zu finden, denn sie kicherte und grinste ihn an, reagierte aber nicht weiter, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne.

“Neo ist griechisch und heißt neu”, fuhr Robert fort. “Neo ist nichts weiter als der Prototyp des Neuen Menschen. Der Neue Mensch, der nicht Sklave der Welt ist, die ihn umgibt, sondern der sich seines Standpunktes in der Welt bewusst ist. Der sich seine Welt so erschafft, wie er sie haben will. Der die Grenzen dessen, was wir Realität nennen, bewusst durchbricht. Der Neue Mensch ist ein Mensch, dessen Bewusstsein erweitert ist.”

Andreas war das alles etwas zu esoterisch. Aber gut, er war ja nicht hergekommen, um den Vortrag gut zu finden. Er wollte ihn sich kritisch anschauen, seine eigene Meinung dazu bilden. Und bisher war diese Meinung schlicht und einfach: Bullshit.

Wieder änderte sich das Dia. Jetzt zeigte es einen Binärcode - lauter Nullen und Einsen - grün auf schwarz, so wie die Matrix-Schrift. Aber es war jetzt eine echte Matrix, und Andreas hatte den Verdacht, dass der Code irgendeinen Sinn ergab, aber er konnte diesen Binärcode nicht interpretieren.

“Neo bewegt sich in einer virtuellen Welt”, sagte Robert. “Also betrachten wir zunächst einmal die virtuelle Welt. Da gibt es das Internet, da gibt es soziale Netzwerke, da gibt es Online-Rollenspiele. Wir lesen und schreiben Texte, wir hören Musik, wir schauen uns Fotos und ganze Filme an - und doch wissen wir genau, dass das alles nur Code ist. Unsere ganze virtuelle Welt ist ein Code, der nur aus zwei Bausteinen besteht: Nullen und Einsen. Eins heißt, es fließt Strom. Null heißt, es fließt kein Strom. So simpel. Und doch haben wir Menschen aus diesen beiden Bausteinen eine ganze Welt geschaffen.”

Niemand wusste das besser als Andreas, der immerhin bei Lemuria arbeitete, und er musste sich eingestehen, dass Robert nun langsam anfing, die Welt des Bullshits zu verlassen.

“Jetzt sind Code und Kodierung nichts spezifisch Menschliches”, sagte Robert. “Und das ist das Verblüffende, meine Damen und Herren. Es weiß jeder, aber kaum jemand hat sich je darüber Gedanken gemacht, was es wirklich bedeutet. Denn die Natur selbst - oder Gott, wenn Sie so wollen - tut nichts anderes als wir Menschen. Unsere ganze Welt ist - wie die virtuelle Welt auch - aus Code aufgebaut. Unsere Welt ist Code.”

Das Dia wechselte ein weiteres Mal und zeigte ein Sammelsurium von verschiedenen Lebewesen. Da war ein Fliegenpilz, da war aber auch ein Pantoffeltierchen, ein Gorilla, eine Antilope, ein Löwe, eine Heuschrecke, ein Tausendfüßer, eine Kuh, ein Mammutbaum, eine Orchidee, Algen und nicht zuletzt ein Mensch.

“Zum Beispiel das Leben”, setzte Robert seinen Vortrag fort. “Es gibt kaum etwas vielfältigeres: Menschen, Tiere, Pflanzen, Pilze, Einzeller, Bakterien - sogar nicht lebende Gebilde wie Viren. So vielfältig und komplex diese Welt des Lebens auch ist: Es ist zurückzuführen auf einen Code, der nur aus wenigen Bausteinen besteht.”

Andreas kannte den Genetischen Code noch aus dem Biologie-Unterricht, und so ahnte er, was jetzt kommen würde:

“Jedes Lebenwesen hat einen Bauplan, und dieser Bauplan ist in jeder einzelnen Zelle aller Lebewesen gespeichert. Dieser Bauplan entscheidet, ob ich Mensch bin oder Insekt. Dieser Bauplan entscheidet, ob ich groß bin oder klein. Ob ich eine Erbkrankheit habe. Ob ich klug bin oder dumm. Ob ich schön bin oder hässlich. Und dieser Bauplan ist im Zellkern. Sie kennen ihn alle.”

Wieder wechselte das Dia. Jetzt war die Doppelspirale der DNA zu sehen, die Andreas schon unzählige Male auf Grafiken in Büchern oder im Fernsehen gesehen hatte. Wie immer in rot und blau dargestellt.

“Die Desoxyribonukleinsäure - oder kurz DNS - international DNA”, sagte Robert. “Hier ist sie abgebildet. Die Doppelhelix - eine große Spirale. Der Clou an der ganzen Geschichte: Ähnlich wie die virtuelle Welt - Nullen und Einsen - ist auch die Welt des Lebens kodiert. Allerdings nicht in einem Zweiersystem, einem Binärsystem, sondern in einem Vierersystem, also einem Tetranärsystem. Wir haben vier verschiedene Bausteine. Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Alle Lebewesen, die wir kennen, sind nach diesem Code konstruiert. Nicht 0 und 1, sondern A, C, G und T. So einfach ist das. Als hätte eine Intelligenz sich das ausgedacht.”

Jetzt erschien ein Bauarbeiter auf der Leinwand. Er trug einen gelben Helm und war dabei, ein Holzbrett mit einer Kettensäge zu zersägen.

“Aber damit nicht genug”, sagte Robert. “Gehen wir jetzt zur Materie selbst - zu dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Schon die alten Griechen kannten den Gedanken, dass Materie nicht unendlich teilbar ist. Wenn ich ein Holz zersäge - so wie der Mann hier auf dem Bild - und zersäge das nochmal und wieder und wieder und immer wieder, dann komme ich irgendwann an einen Punkt, an dem ich es - selbst wenn es technisch möglich wäre - nicht mehr weiter zersägen kann, weil ich das kleinste Teil, das sogenannte Atom erreicht habe. Erst sehr viel später hat die Menschheit herausgefunden, dass es Atome wirklich gibt. Wir haben herausgefunden, was sie sind, aus was sie bestehen und sogar, wie man ihren Kern spalten kann.”

Die Leinwand zeigte jetzt ein Atom - oder vielmehr: die vereinfachte Darstellung eines Atoms. In der Mitte ein Punkt, und um diesen Punkt herum waren elliptische Bahnen eingezeichnet, auf jeder elliptischen Bahn befand sich ein Punkt.

“So stellen sich die meisten ein Atom vor”, erklärte Robert das Bild. “Ein paar Elektronen, die um einen Atomkern kreisen wie Planeten um eine Sonne. Das ist nicht ganz falsch. Aber es ist nur ein Modell. Modelle sind dazu da, uns Dinge zu erklären, die wir sonst nicht verstehen können. Dieses Modell, das Planetenmodell, stammt von Niels Bohr. Es ist ein wenig veraltet, aber nach wie vor gut, Einsteigern in die Atomphysik - und ich erlaube mir mal, Sie meine Damen und Herren, dazu zu zählen, klar zu machen, was ein Atom überhaupt ist.”

Wieder wechselte das Dia. Diesmal zeigte es die Zeichnung eines Planeten - oder eines kleinen Punktes, der um die Sonne - oder um einen großen Punkt - kreiste. Auf der Sonne war ein kleines Plus abgebildet, auf dem Planeten ein kleines Minus.
“Hier sehen Sie ein Wasserstoffatom”, sagte Robert, “das einfachste aller Atome. In der Mitte ein Proton, umkreist von einem Elektron. Und hier sind wir wieder bei unserem Code: Jede Materie, jedes Element, alles, was wir kennen, besteht im Grunde nur aus drei Bauteilen: Protonen, Neutronen und Elektronen. Die Protonen und Neutronen im Atomkern werden von den Elektronen - nach diesem Planetenmodell - umkreist. Wir haben also positiv geladene Teilchen, negativ geladene Teilchen und neutral geladene Teilchen. Positiv, negativ, neutral. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor?”

Natürlich kam das Andreas bekannt vor. Die ganze Welt bestand aus positiv, negativ und neutral Aber natürlich musste Robert auch darauf herumreiten: Das nächste Bild zeigte die runde und etwas unbedarfte Schrift eines Teenagers auf Karopapier: “Willst du mit mir gehen?” Und dazu drei Antwortmöglichkeiten: Ja, nein und vielleicht.

“Wie viele von Ihnen haben diesen Zettel schon gelesen oder vielleicht selbst geschrieben?”, sagte Robert. “Willst du mit mir gehen? Ja, nein, vielleicht.”
Als nächstes zeigte die Leinwand das Halbrund des Bundestags - gefüllt mit Parlamentariern, die gerade über einen Antrag abstimmten: Mindestens die Hälfte hielt die Hand nach oben. Robert sagte: “Wenn im Bundestag eine Abstimmung ansteht, haben die Abgeordneten drei Möglichkeiten, sich zu entscheiden: Ja, nein und Enthaltung.”

Wieder wechselte das Bild. Das tat es jetzt recht häufig. Jetzt war die Tagesschau zu sehen. Judith Rakers saß in ihrem Studio, im Hintergrund das Tagesschau-Logo. Robert fuhr fort: “Wie oft schauen Sie die Tagesschau? Sie werden sicherlich auch Zeitung lesen. Teilen Sie da die Nachrichten nicht auch in drei Kategorien ein? Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten und Nachrichten, die Sie einfach so hinnehmen? Bei allem, was Ihnen am Tag passiert: Sie können alles in drei Kategorien fassen: Alles, was gut ist, alles, was schlecht ist, alles, was neutral ist.”

Jetzt war eine Sportszene zu sehen: Zwei Fußballer, die um einen Ball kämpften. Einer von beiden hatte das weiße Deutschland-Trikot, ein anderer trug das orange Trikot der Niederlande.

“Gehen wir zum Sport. Fußball zum Beispiel. Tennis und Volleyball sind weniger gute Beispiele. Aber im Fußball, im Schach, seltener auch im Handball gibt es neben Sieg und Niederlage auch eine dritte Möglichkeit: Unentschieden, remis, neutral.”

Wieder wechselte das Dia. Diesmal ein Mann und eine Frau, die sich küssten. Ein sehr romantisches Bild, fand Andreas. Er sah zu dem blonden Mädchen neben sich und ertappte sie dabei, wie sie ebenfalls ihn anschaute. Sie war eigentlich kein Mädchen, sondern eine Frau Anfang 30. Aber irgendwie wirkte sie trotzdem wie ein junges Mädchen. Etwas unbedarft, etwas naiv.

Robert fuhr fort: “Sie sagen, es gibt zwei Geschlechter. Schauen Sie nur in Ihre Grammatik. Das stimmt gar nicht. Neben Maskulinum und Femininum gibt es noch ein drittes grammatikalisches Geschlecht - das Neutrum. Und im Deutschen werden damit Menschen belegt, die noch nicht geschlechtsreif sind: das Kind, das Mädchen - mittlerweile hat sich da die Bedeutung ausgedehnt. Auch geschlechtsreife Frauen bezeichnen wir als Mädchen, wenn sie einigermaßen jung sind. Aber egal. Ursprünglich war das nicht so. Kinder sind geschlechtsneutral. Aber schauen wir doch mal generell in die Natur. Beim Menschen kommen sie seltener vor, aber bei Pflanzen umso häufiger:”
Das Dia sprang um und zeigte eine Blume. Robert sprach ohne Pause weiter: “Zwitter, die männliche UND weibliche Geschlechtsorgane haben. Nehmen wir die Blüte. Sie wird ja von Insekten befruchtet. Die holen sich die Pollen ab und leiten sie weiter zum Stempel einer anderen Blüte. Die Pollen sind männlich der Stempel ist weiblich. Männlich, weiblich, Zwitter. Drei Geschlechter. Gut, schlecht, neutral. Drei Eigenschaften, Nachrichten aufzufassen. Positiv, negativ, neutral. Drei Arten von Teilchen, aus denen Atome bestehen. Das ganze menschliche Grunddenken lässt sich zurückführen auf die elementarsten Eigenschaften der Natur. Positiv, negativ, neutral. Glauben Sie wirklich, wir können eine glaubhafte künstliche Welt schaffen, die nur aus Nullen und Einsen besteht?”

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00010100 - Kriegserklärung
Die Bäume hatten ihre Blätter schon verloren, und ein Hauch von Winter lag in der Luft. Die Zugvögel hatten es nicht mehr ausgehalten, und sie waren nach Afrika aufgebrochen. Andreas vermisste ihren Gesang, der sonst die Luft erfüllte. Dafür hatten jetzt die Krähen ihr Winterkonzert begonnen, und unter einem bedeckten Himmel zogen vereinzelt Nebenschwaden über das Land. Es roch ein wenig rauchig, als Andreas sich auf den Heimweg machte. Längst hatten die meisten Schüler das Gelände verlassen. Er hatte wieder länger als die anderen gebraucht, seine Schultasche zu packen. Jetzt trödelte er durch den hinteren Pausenhof - damals noch als Raucherhof bekannt, denn 1987 durften die Schüler noch in der Schule rauchen - wenn auch nur an einem einzigen Ort in der Schule, nur in den Pausen und nur ab der 11. Klasse.

Andreas spazierte an den Sportanlagen vorbei, passierte das Hausmeister-Kabuff, aus dem der Klang einer Elektrosäge tönte, und warf einen kurzen Blick auf das Denkmal des Abiturjahrgangs 1986 - eine simple weiße Pyramide - ungefähr so hoch wie Andreas’ Knie.

Er hatte gerade den Schulhof verlassen, als ihn plötzlich jemand am Arm packte, herumschleuderte und an die Wand des Schulgebäudes drückte, das hier bis zur Grundstücksgrenze heranreichte. Es waren zwei Jungs aus seiner Klasse. Zwei gegen einen. Wie unfair! Aber vielleicht wollte Robert auf Nummer Sicher gehen. Denn er war einer von beiden. Der andere war Roberts Vize. Vize war Verenas Ausdruck für Florian Neumann - eigentlich Roberts bester Freund. Aber in dieser Freundschaft spielte er nur eine untergeordnete Rolle. So wie Harry bei Derrick, oder - wie der Andreas von 2012 sagen würde - Smithers bei Mr Burns. Flo, wie er sich gerne selber nannte, war Roberts Assistent, und niemals hatte er ein böses Wort über ihn verloren - während Robert ihn gerne als Trottel bezeichnete, wenn er nicht dabei war.

“So, du Sackratte!” sagte Robert. “Jetzt möchte ich mal was klarstellen: Bisher warst du für mich nur ein Trottel, ein Loser, ein Vollidiot. Aber das hat sich jetzt geändert. Ab jetzt bist du ein Arschloch! Eine Petze! Ein Kameradenschwein! Was hast du mich bei Herrn Hartmann verpetzt, du Schwanzlutscher?”

Zack! Schon saß Florians Faust in seinem Gesicht. Robert wollte sich anscheinend nicht die Finger schmutzig machen und ließ das seinen Schergen besorgen.

“Es ging nicht anders”, jammerte Andreas, dessen Nerven empfindlicher waren als die anderer Leute, was er damals aber noch nicht wusste.

“Wie, es ging nicht anders? Hättest du verdammt noch mal die Fresse gehalten!”

Wieder ein Faustschlag in Andreas’ Gesicht, der sich nicht wehren konnte, da beide ihn festhielten.

“Jetzt will ich dir mal was erzählen, kleiner Drecksack: Meine Alten haben tierisch Stress geschoben wegen der ganzen Nummer. So, und jetzt hab ich Hausarrest. Aber das ist noch nicht alles: Ich wurde zum Direx geschickt und abgemahnt. Und damit du kleiner Wichser das auch verstehst, übersetze ich das in deine Sprache: Noch so ein Ding, und ich fliege von der Schule. Und wenn ich von der Schule fliege, das schwöre ich dir, landest du im Krankenhaus. Ab jetzt herrscht Krieg. Und ich sag dir eins: Gegen das, was kommt, war das, wie wir dich bisher behandelt haben, Kindergarten. Und gleich heute fangen wir damit an.”

Robert hatte wohl genug von Worten und ließ jetzt seine Fäuste sprechen. Es schien ihm also doch egal zu sein, ob er sich seine Finger schmutzig machte oder nicht. Schon landete wieder ein Faustschlag in seinem Gesicht, ein anderer in der Magengrube. Andreas ging zu Boden, doch die anderen machten weiter. Sie traten auf ihn ein, kickten ihm in den Bauch, gegen die Beine, ins Gesicht, in die Eier. Es dauerte nicht lange, aber es war die Hölle, und als sie endlich von ihm abließen und im Fahrradhof verschwanden, blieb Andreas noch eine Weile liegen. Er hatte jetzt zu große Schmerzen, um aufstehen zu können. Doch er sah die ganze Zeit nur eines. Roberts grinsendes Gesicht.

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Mittwoch, 15. Mai 2013
00010011 - Robert Jens kommt!
Robert grinsend unter Dusche, während Andreas’ Kleider nass wurden. Dieses Bild hatte er im Kopf, als er an diesem Abend die Konrad-Adenauer-Halle betrat. Im Foyer tummelten sich seltsame Leute. Eine alte Frau, deren lange, weiße Haare bis zum Po reichten. Trotzdem trug sie eine Jeansjacke und einen Sticker mit der Aufschrift “Oben bleiben!”. Ein Mann mit Bart und John-Lennon-Brille. Seine Haare reichten ihm den Rücken hinab auf die beige-graue Strickweste. Aber auch ganz normale Leute - sofern man bei einer solchen Veranstaltung von normal sprechen konnte. Eine Krawatte oder gar einen Anzug trug keiner der Menschen, die jetzt langsam auf den Saaleingang zuströmten. Andreas lächelte einer jungen Frau zu, die lange blonde Haare hatte und keinerlei Gesichts-Make Up trug. Doch sie schien ihn nicht zu bemerken.

Robert grinsend unter der Dusche. So wie er von den Plakaten grinste, die überall im Foyer aufgehängt waren. Robert Jens kommt! Wege zum Erfolg. Der Matrix-Code. Die Macht des Positiven Denkens. Jenseits der Realität. Das war genau die Sorte Mensch, die auch an Wünschelrutengänger glaubte, die sich mit ihren Friseurbesuchen nach dem Mondkalender richtete. Die bei Astro TV anrief, um sich die Karten legen zu lassen.

In Richtung Saaleingang wurde das Gedränge größer, die Wartezeiten länger. Schon spürte er wieder den unangenehmen Körperkontakt von Fremden. Irgendwo in der Nähe hatte jemand Mundgeruch. Ein anderer hatte sich nicht gewaschen. Andreas hoffte, dass er nicht neben ihm sitzen musste.
Eigentlich hatte Andreas jemanden mitnehmen wollen. Für Ralf wäre das sicherlich eine sehr interessante Veranstaltung gewesen. Aber Ralf hatte nicht gekonnt. Warum, hatte er nicht sagen wollen. Vielleicht hasste er Veranstaltungen dieser Art, die daher kamen wie eine zu groß geratene Autorenlesung.

Irgendwo in einer Ecke lagen die Bücher von Robert Jens in mehreren Stapeln. Von jedem Buchdeckel grinste sein Gesicht - grinste so, als hätte er gerade seinen Lesern das Gehirn weggenommen und unter die Dusche geschmissen - so wie er es einst mit seiner Kleidung getan hatte. Er warf die Leser in seinen geistigen Müll, so wie er einst ihn in den richtigen Müll geworfen hatte. Dort stank es dann nach Esoterik, weit hergeholten Theorien und dem ganzen Abfall, mit dem man Leichtgläubige köderte, um Geld zu machen.
Früher hatte Andreas für solche Leute, die eine Veranstaltung wie diese besuchten, nur Verachtung übrig gehabt. Jetzt taten sie ihm Leid. Was er ihnen auch erzählte, würde dazu dienen, sie dazu zu bringen, seine Bücher zu kaufen - und vielleicht sogar noch mehr. Seine Seminare zu besuchen. Was auch immer. Andreas verstand nicht, warum er so einen Erfolg hatte.

Der Saaleingang war erreicht. Der Mann am Eingang riss gedankenverloren die Eintrittskarte in zwei Teile, und Andreas war in die Weite des Saals entlassen, in dem zahlreiche Menschen hin und her wuselten und sich unterhielten. Andreas nahm sich vor, einen Platz in einem der hinteren Ränge einzunehmen. Er legte keinen Wert darauf, die ganze Zeit Roberts grinsendes Gesicht direkt vor sich zu sehen. Zum Glück gab es da noch einige freie Plätze. Er suchte sich einen Platz, bei dem er nicht fragen musste, ob der noch frei sei. Dann setzte er sich.

Die Bühne war karg. Ein Tisch und ein Rednerpult waren das einzige, was dort stand. Aber dies alles wurde von einer überdimensionalen Leinwand überragt, die Roberts neuestes Buch zeigen: Jenseits der Realität. Was meinte er nur damit?

Andreas versuchte, es sich auf dem engen Sitz so bequem zu machen, wie es nur irgend ging. Das war nicht sonderlich bequem, aber dies war ja für ihn auch keine besonders bequeme Veranstaltung. Es war vielmehr so etwas wie Vergangenheitsbewältigung. Eigentlich wusste er überhaupt nicht, warum er hier war.

Das Geräusch Hunderter durcheinander redender Menschen erfüllte die Luft. Es roch ein wenig nach Schweiß und nach Fürzen, aber nicht besonders penetrant. Aus Scherz versuchte Andreas, irgendwo in der Menge jemanden zu sehen, den er kannte - oder den er einmal irgendwo gesehen hatte, zum Beispiel den Terminator aus der U-Bahn heute morgen. Aber in diesem Raum waren nur fremde Gesichter - bis auf das, was ihn von der Leinwand herab angrinste.
Natürlich blieb er nicht allein in seiner Reihe sitzen. Er bemerkte aber vor Freude, dass diejenige, die neben ihm Platz nahm, das Mädchen war, das ihm schon im Foyer aufgefallen war. Sie war hübsch, aber auch irgendwie seltsam. Ihre Finger spielten die ganze Zeit an ihrer Kette herum, die ein überdimensionales Ankh-Zeichen darstellte. Sie war schlank und schmalbrüstig, doch nachdem sie mal Platz genommen hatte, würdigte sie ihn keines Blickes mehr. Statt dessen schien sie in das versunken zu sein, was dort auf der Bühne geschah. Obwohl dort noch nichts geschah.
Auch der Platz links von ihm war jetzt belegt. Von einer Frau, die etwa sechzig Jahre alt zu sein schien. Überhaupt war jetzt jeder Platz im Saal belegt, als das Licht langsam ausging und das Gemurmel verstummte.

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Dienstag, 14. Mai 2013
00010010 - Unter der Dusche
Es war wieder Sportunterricht - die neunzig Minuten in der Woche, bei denen Andreas froh war, wenn er sie hinter sich hatte. Wenn er dann nach dem Sportunterricht den Heimweg antrat, freute er sich, weil es wieder eine ganze Woche war - inklusive Wochenende - bis zur nächsten Sportstunde.
Es gab kein Schulfach, in dem seine Leistungen so katastrophal waren wie in Sport. Nicht nur dass Andreas ungeschickt war, seine Kraft war der seiner Klassenkameraden um Längen unterlegen, seine Beweglichkeit ebenso, und seine Ausdauer reichte nicht einmal für fünf Minuten - geschweige denn für zwölf. So lange sollten sie aber laufen. Immer rund um den Sportplatz. Cooper-Test nannte sich das. Und immer, wenn das auf dem Lehrplan stand, war Andreas hinterher nicht nur kaputt. Er hatte auch höllische Kopfschmerzen. Japsend rannte er den anderen hinterher, jeder Schritt eine Qual - begleitet von der Frage: Wann hört das endlich auf? Andreas konnte nicht verstehen, dass andere Leute am Sport Vergnügen fanden. Machte es ihnen Spaß, sich zu quälen? Offenbar ja, aber es waren diese Leute, die nicht verstehen konnten, dass sich Andreas zu Hause den ganzen Tag mit seinen Büchern beschäftigte. So hatte halt jeder das, was ihm Spaß machte.

Doch schlimmer als der Sportunterricht selber war das anschließende Duschen und Umziehen. Denn dann waren sie alle unbeaufsichtigt und konnten ihn herum schubsen - oft im wahrsten Sinne des Wortes.
So war es auch wieder an diesem Donnerstag im Spätherbst, als Andreas - wie immer als letztes - vom Sport in die Kabine kam. Die anderen standen schon unter den Duschen. Er hörte das Wasser rauschen, und die Kabine selbst war leer. Selbst seine Sachen waren da nicht mehr. Statt dessen hatte sich auf seinem Platz - direkt am Eingang, am Rand, möglichst weit von den anderen weg - Robert breit gemacht. Dort hing seine Jeans, dort hing sein Muscle Shirt, dort hing seine Jeansjacke. Andreas’ Sachen dagegen waren weg.

Andreas ging in die Duschen, wollte die anderen fragen, ob sie sie gesehen hätten. Zum Glück waren nicht alle wie Robert. Manche waren - zumindest ab und zu mal - hilfsbereit. Doch er brauchte nicht zu fragen, denn er entdeckte sie: Sie lagen auf den weißen Kacheln unter einer leeren Dusche, und die Wasserstrahlen durchnässten sie unaufhörlich. Seine Jeans, sein frisches T-Shirt, sein Pullover - sogar seine Schuhe. Alles war nass wie ein voller Schwamm.

Schon waren die Kleidungsstücke mit Wasser vollgesaugt, so dass sie keine Flüssigkeit mehr aufnehmen konnten.

“Hallo, Andi”, sagte Robert übertrieben freundlich und grinste. “Wir haben schon mal eine Dusche für dich reserviert. Du warst ja nicht da, da haben wir deine Kleider benutzt.”

Die anderen lachten. Andreas schwieg. Was hätte er auch sagen können? Wenn er sagte, was er dachte, würden die anderen es sicherlich als Provokation auffassen und es noch schlimmer mit ihm treiben. Er beschloss, keine Gefühle zu zeigen. Das war kontraproduktiv. Am besten ignorierte er die Situation. Das würde die anderen langweilen. Aber er irrte sich. Die anderen wollten offenbar sehen, was passiert, wenn sie seine kompletten Kleider unbrauchbar machten. Denn bevor Andreas überhaupt wusste, was los war, war Robert schon zu ihm gegangen, hatte seinen Arm gegriffen, ihn in den Polizeigriff genommen und ihn unter die Dusche gestellt. Andreas hatte sich noch nicht einmal ausgezogen, bevor er die Dusche betreten hatte. Ein großer Fehler. Aber selbst wenn er es getan hätte: Es hätte ihn nur jemand festhalten müssen, ein anderer hätte in die Umkleidekabine gehen müssen, um seine Sachen zu holen, und schon wären sie in der Dusche gelandet. So aber spürte er, wie nicht nur seine Haare nass wurden, sondern wie auch seine Kleidung anfing, am Körper zu kleben. Nass und schwer hing sein T-Shirt herab - ebenso nass und schwer seine lange Trainingshose.

Robert ließ ihn los. Er hatte jetzt sein Ziel erreicht. Andreas hatte überhaupt nichts trockenes mehr zum Anziehen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich seiner Sachen zu entledigen und nackt in der Kabine zu bleiben. Wäre es Hochsommer gewesen, er hätte die nassen Sachen angezogen und wäre nach draußen gegangen. Es war aber kein Hochsommer. Es war Spätherbst. Draußen waren die Blätter schon gefallen, und in der Nacht hatte es Frost gegeben. Bei diesem Wetter konnte er unmöglich mit nasser Kleidung nach draußen.

Hätte er damals schon ein Handy gehabt, er hätte zu Hause angerufen und seine Mutter gebeten, ihm trockene Sachen vorbei zu bringen. Aber es war 1987, und Handys gab es zwar schon, aber Schüler konnten sie sich noch nicht leisten. Andreas hatte sein erstes Handy erst, als er an der Uni war.

Also was machen? Ihm blieb nur eine einzige Möglichkeit: Warten. Nur worauf? Dass die Kleidung trocknete? So lange konnte er die Kabine nicht verlassen. Wie lange dauerte es, bis Kleidung trocknete? Zwei Stunden? Drei? Seine Mutter hatte die Wäsche wesentlich länger auf der Leine. Es würde also lange dauern. Und was das schlimmste war: In die Umkleidekabine wollten nachher auch andere Klassen. Die Sporthalle war den ganzen Nachmittag belegt. Es gab zig Klassen, die hier Sport trieben, und nach den Klassen kamen die ganzen Sport-AGs und die Schulmannschaften. Handball, Basketball, Volleyball - und am Abend die Vereine. Und er würde die ganze Zeit hier in der Umkleidekabine sitzen - nackt, wie er geboren war - und darauf warten, dass seine Kleider trockneten.

Die anderen waren mittlerweile angezogen, und die ersten hatten die Umkleidekabine verlassen - natürlich nicht, ohne sich vorher höhnisch von ihm zu verabschieden. Am Ende blieben noch fünf übrig. Christian war einer von ihnen. Andreas wusste nie, wie er Christian einzuschätzen hatte. Wenn es darum geht, ihn zu ärgern, war Christian gerne mit dabei, doch wenn die anderen zu weit gingen, fing er an, sie zu bremsen und Andreas in Schutz zu nehmen. Oft hatte sich Christian als hilfsbereit erwiesen, hatte ihm Schreibzeug ausgeliehen, wenn er seines - was oft vorkam - zu Hause vergessen hatte. Oder wenn die anderen zu weit gegangen waren und Andreas mit den Folgen ihres Tuns allein ließen - wie zum Beispiel jetzt.

“Und was machst du jetzt?” fragte Christian.

“Was wird er jetzt machen?” fragte Robert. “Es gibt nur drei Möglichkeiten: Entweder er bleibt hier, oder er geht mit nassen Klamotten raus, oder er geht nackt raus.”

“Wir sollten zu Herrn Hartmann gehen”, sagte Christian. Herr Hartmann, Peter Hartmann, war der Sportlehrer.

“Nee, lass den das mal alleine lösen. Bin mal gespannt, wie er das macht”, entgegnete Robert.

“Er kann ja gar nichts machen ohne unsere Hilfe”, sagte Christian.

“Kann er nicht? Schauen wir doch einfach mal.”

“Was soll er denn tun?”

“Ich will, dass er nackt nach draußen geht, während die Mädchen draußen sind.”

“Da kannst du lang warten”, sagte Andreas.

“Was willst du machen? Dein nasses Zeug anziehen? Es kommt gleich die andere Klasse.”

“Ja, und die wird zu Herrn Hartmann gehen”, sagte Christian. “Lange kann das hier nicht so bleiben. Also, ich gehe jetzt.”

Robert ging auf Andreas zu und schlug ihm unangekündigt in den Magen. “Könntest mal abnehmen”, sagte er.

Andreas sank zu Boden und krümmte sich vor Schmerz. Doch zum Glück hielt er nicht lang an, und so konnte er wieder aufstehen und sich auf die Bank setzen.

Inzwischen hatte sich die Umkleidekabine weiter geleert. Die anderen hatte das alles nicht gejuckt. Sie freuten sich jetzt auf das warme Mittagessen zu Hause bei ihren Müttern. Die Lust an der Show war ihnen vergangen, und unterstützen wollten sie Andreas auch nicht so richtig. Jetzt waren nur noch Robert und Andreas alleine da.

“Warum bist du immer so gemein?” fragte Andreas,

“Warum bist du immer so behindert?” äffte ihn Robert nach. Und er fügte hinzu: “Du bist anders als die anderen. Du hältst dich für was besseres. Keiner mag dich. Also dann: Bis morgen.”

Er verließ die Umkleidekabine und ließ Andreas alleine zurück. Nackt saß er auf der Bank, als plötzlich Sathi vor ihm erschien.

“Ach, du Schande”, sagte er. “Was ist denn hier passiert?”

“Die anderen ärgern mich immer. Jetzt haben sie alle meine Kleider nass gemacht, und ich kann sie nicht anziehen, und raus kann ich auch nicht.”

“Dumme Sache. Warum wehrst du dich nicht gegen sie? Mit Orks wirst du doch auch fertig.”

“Das ist was anderes.”

“Aber du kannst doch nicht einfach aufgeben. In Lemuria tust du es doch auch nicht.”

“Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Nackt nach draußen? Kannst du nicht was für mich tun? Du bist doch ein Wichtel. Du hast doch magische Kräfte. Kannst du nicht meine Kleidung trocknen.”

“Tut mir Leid”, sagte Sathi. “Das kann ich nicht. Magie funktioniert in deiner Welt nicht.”

“Scheiß Welt”, sagte Andreas. “Bitte, hilf mir, Sathi.”

“Was soll ich tun?”

“Warum bist du hier überhaupt aufgetaucht?”

“Damit du jemand zum Reden hast.”

“Also, worüber wollen wir reden?”

“Tu was. Mach Kampftraining. Kung Fu. Irgend so was in der Richtung. Lerne, wie du den anderen die Fresse polieren kannst. Wenn du es in unserer Welt geschafft hast, kriegst du es in deiner auch hin. Vielleicht härteres Training.”

“Quatsch. Du siehst doch, wie ich in Sport abkacke. Meinst du, es wird besser, bloß weil ich plötzlich einen Trainer habe? Der macht doch auch nichts anderes als Herr Hartmann.”

“Herr Hartmann unterrichtet dich einmal die Woche neunzig Minuten lang. Wer wirklich was erreichen will, der braucht härteres Training. Unsere Krieger trainieren täglich. Die machen den ganzen Tag nichts anderes.”

“Genau das will ich nicht”, sagte Andreas. “Das ist nicht mein Ding.”

“So wird sich aber nie etwas ändern”, bemerkte Sathi. “Du musst dich zur Wehr setzen.”

Plötzlich betraten Herr Hartmann und Christian den Umkleideraum, und Sathi löste sich in Luft auf. Herr Hartmann schaute sich Andreas an, und dann fing er an zu lachen.

“Warum lachen Sie?” fragte Andreas.

Herr Hartmann zog es vor, auf die Frage nicht zu antworten. Er sagte nur: “Wer hat das getan?”
“Robert”, sagte Andreas wie aus der Pistole geschossen.

“Stimmt das?” fragte Herr Hartmann Christian.

Christian nickte zaghaft.

“Also gut. Das hat natürlich ein Nachspiel für Robert. Und was machen wir mit dir? Warte mal, ich habe noch überschüssige Kleidung von unserem Basketball-Team. Die ziehst du an. Aber vergiss nicht, die mir nächste Woche wieder zu bringen. Und deine Kleidung nimmst du am besten mit nach Hause und hängst sie dort zum Trocknen auf. Bleib hier. Ich komme gleich wieder.”

Als ob Andreas in diesem Zustand hätte weg rennen wollen!

“Ich gehe jetzt auch”, sagte Christian schließlich. “Wir sehen uns morgen.”

Auf dem Heimweg achtete Andreas darauf, dass er sein Fahrrad nur durch verlassene, kaum befahrene Straßen lenkte. Das war gar nicht so einfach. Denn er musste sogar stark befahrene Straßen überqueren. Doch er hoffte, dass ihn niemand sah. Natürlich waren die Basketball-Klamotten viel zu groß für ihn und schlackerten überall an seinem Körper, während er fuhr. Außerdem war es viel zu kalt, und er hoffte, dass er sich von der ganzen Aktion keine Erkältung zuzog. Unangenehm machte sich die Kälte an seiner Haut bemerkbar und zog durch seinen ganzen Körper. Beißend wehte der Wind auf seine nackten Beine. Natürlich gab es auch zu Hause Ärger. Aber das war eine andere Geschichte, die wir später erzählen wollen.

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Montag, 13. Mai 2013
00010001 - Das Sundari-Projekt
Andreas wusste nicht, ob er sich mit Ralfs Antwort zufrieden geben konnte. Ralf hielt den Mann in der U-Bahn offenbar für einen Spinner. Aber er kannte nicht die ganze Hintergrundgeschichte. Er wusste nichts davon, dass es auch noch eine Welt mit Namen Lemuria gab. Er wusste nichts von der Sekte, die ihren Gott töten wollte und die vermutlich schon ihren Weg in diese Welt gefunden hatte. Wenn Lemuria überhaupt existierte. Aber wie war sonst zu erklären, dass plötzlich Königin Sundari in dieser Welt auftauchte? Oder zumindest eine Frau, die ihr perfektes Abbild war? Die ihre Zwillingsschwester hätte sein können? Die Suche nach Antworten musste ihn unweigerlich in Lucía Sánchez’ Büro führen - wenn sie überhaupt schon eins hatte. Andreas vermutete aber, dass Folkherrs Büro genau der richtige Ort war, um nach Frau Sánchez zu suchen.

Das Büro des Niederlassungsleiters lag am Ende des Ganges. Die Tür war geschlossen, und gerade machte sich Praktikantin Steffi daran zu schaffen, das Namensschild zu ändern.

“Ist die neue schon da drin?” fragte Andreas.

Die Praktikantin nickte schüchtern und kämpfte weiter mit dem Büroschild.

Andreas klopfte an, und von innen erscholl Sundaris Stimme: “Herein!”

Sundari oder vielmehr: Lucía Sánchez war dabei, sich einzurichten. Sie hatte gerade eine kleine Zimmerpflanze in der Hand, die sie irgendwo abstellen wollte.

“Kann ich Ihnen helfen?” fragte sie. Offenbar erkannte sie ihn nicht.

Andreas schloss die Tür hinter sich. “Ich wollte mich Ihnen nur vorstellen.”

“Ich bin die Lucía, und von diesem unpersönlichen Sie halte ich nichts”, sagte Lucía.

“Ich bin Andreas. Freunde nennen mich Andi.”

“Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe ich vorerst bei Andreas.”
Ganz schön distanziert, die Kleine. Die Sorte Mensch, die dir einen Freundschaftsantrag bei Facebook verweigert, obwohl du eng mit ihr zusammen arbeitest.

“Nun, erzähl mal, Andreas. Woran arbeitest du gerade?”

“Künstliche Intelligenz.”

“Das ist ein weites Feld. Woran arbeitest du genau?”

Sie sah ihm in die Augen. Es waren Sundaris Augen. Das irritierte ihn. Vor wenigen Stunden hatte er noch mit ihr Sex gehabt, und jetzt stand er vor ihr wie ein Schuljunge, der seiner Lehrerin seine Hausaufgabe erklärt.

“Ich gehöre zur Projektgruppe der Psychohistoriker. Vielleicht hast du davon schon gehört.”

“Natürlich.” Die Psychohistoriker waren so etwas wie der geheime Kern von Lemuria. Jeder, der auf den Führungsebenen arbeitete, musste schon etwas von ihnen gehört haben, wenn auch nicht jeder im Detail darüber Bescheid wusste. Alles, was Lemuria anpackte, lief auf ein wichtiges Ziel hinaus: den Traum der Menschheit, die Zukunft vorhersagen zu können, zu erfüllen.

“Dann weißt du sicherlich auch, dass der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov ursprünglich den Begriff Psychohistoriker erfunden hat. Lange Zeit hielt man das für reine Science-Fiction, bis die Lemuria Group das Konzept wieder aufgegriffen hat.”

“Ist mir bekannt. Das grundsätzliche Konzept ist es doch, Wissen zu sammeln und dieses Wissen von einer künstlichen Intelligenz auswerten zu lassen - künstliche Intelligenz deshalb, weil Menschen die Datenflut, die wir täglich generieren, nicht mehr auswerten können.”

“Du sagst es. Demnach besteht das Projekt aus zwei Teilen: Dem Sammeln von Daten und dem Programmieren einer künstlichen Intelligenz, die das verarbeiten kann. Ich beschäftige mich mit zweitem. Ich glaube, wenn die künstliche Intelligenz fertig ist und ich füttere sie mit den Daten von Versailler Vertrag, Weltwirtschaftskrise und der Sozialstruktur und der Politischen Kultur in der Weimarer Republik, wird das Programm errechnen, dass ein zweiter Weltkrieg unweigerlich folgen wird.”

“Aber so weit bist du noch nicht.”

“Nein, aber dafür kann ich schon die Modetrends für Sommer nächstes Jahr errechnen. Das ist auch für die Werbeindustrie viel lukrativer.”

“Und was trägt man so nächstes Jahr?”

“Es wird bunter, luftiger. Die Bikinis werden wieder kürzer. Und für das Freizeit-Outfit sind es dann doch eher weiter geschnittene Hosen und Blusen bei der Dame. Vor allem Blau- und Grün-Töne werden dann stark im Kommen sein.”

“Und das hat dir der Computer gesagt?”

“Ja.”

Lucía pfiff durch die Zähne. Dann lächelte sie ihr schönstes Sundari-Lächeln. “Alle Achtung, ich habe zwar schon viel von den Psychohistorikern gehört, aber ich wusste gar nicht, dass wir schon so weit sind.”

Andreas schwieg. Dafür, dass er diese Frau vor nicht einmal zwölf Stunden gewaltig durchgenudelt hatte, war er jetzt ganz schön schüchtern.

“Gibt es sonst noch was?” fragte Lucía.

“Du erinnerst mich an jemanden. Haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen?”

Lucía lachte. “Das ist die plumpste Anmache, die es gibt.”

“Nein, ich meine es ernst.”

“Kommst du aus Berlin?”

“Nein.”

“Warst du schon mal dort?”

“Selten.”

“Wenn wir uns irgendwo schon mal gesehen haben, erinnere ich mich nicht daran. Muss dann wohl kurz gewesen sein. Beim Bäcker oder so.”

Obwohl Andreas nicht besonders gut darin war, eine Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden, und obwohl er es oft nicht merkte, wenn jemand ihn belog, nahm er ihr es ab. Sie schien tatsächlich keine Ahnung zu haben. Er versuchte es noch mit einer letzten Flucht nach vorne.

“Sagt dir der Name Sundari etwas?”

Lucía sah ihn erschrocken an. “Woher weißt du davon? Wer hat dir vom Sundari-Projekt erzählt?”
Sundari-Projekt? Das wurde ja immer mysteriöser.

“Was ist das Sundari-Projekt?”

“Das darf ich dir nicht sagen. Streng vertraulich. Nur die Führungsebene und die Leute, die daran arbeiten, wissen Bescheid. Du weißt jetzt schon zu viel.”

War sie tatsächlich Sundari, und wollte sie ihre Überraschung dadurch kaschieren? Unwahrscheinlich. Lemuria Inc. heckte wieder irgendetwas aus - nur warum hieß es ausgerechnet Sundari-Projekt? Konnte das alles überhaupt ein Zufall sein?

Andreas hatte keine Antworten gefunden. Statt dessen waren nur noch mehr Fragen aufgetaucht. Fragen, die sich in seinen Schädel bohrten, die ihn kaum noch arbeiten ließen. Warum das alles gerade jetzt? Warum war die Vergangenheit in so vielen Bereichen dabei, ihn einzuholen? Andreas konnte sich keinen Reim darauf machen.

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