Sonntag, 23. Juni 2013
00100100 - Carpe Noctem
Sie erreichten das Carpe Noctem, und der Taxifahrer ließ sie aussteigen. Robert zahlte die Fahrt und fügte noch ein ansehnliches Trinkgeld bei. Dann betraten sie den Club. Der Türsteher schien sie noch nicht einmal zu beachten, als sie die Tür öffneten. Laute, hämmernde Industrial-Musik schallte ihnen entgegen.

“Und du bist sicher, dass du hier mit mir reden willst?” fragte Andreas.

Robert nickte, während er für beide den Eintritt in den Club bezahlte.

“Du solltest wissen, dass ich bei dieser lauten Musik niemandem zuhören kann. Ich kann schlecht filtern und dich nur schwer verstehen.”

“Keine Angst!” schrie Robert, und schon wurden sie von der wabernden Menschenmenge verschluckt, die zu den lauten Beats tanzte. Lichter und Laser, die in Andreas’ Augen schmerzten, blitzten und zuckten durch den dunklen Raum. Es roch nach Trockeneis und nach dem Schweiß der Menschen. Auf einem etwas erhöhten Podest über der Masse schwebte ein DJ und machte sich an seinem Laptop zu schaffen, der seine einzige Ausrüstung zu sein schien. Auf einem weiteren Podest tanzten zwei Gogo-Girls, deren einzige Kleidungsstücke schwarze Tanga-Bikinis waren. Robert und Andreas machten einen großen Bogen um die Tanzfläche, auf der sich Männer und Frauen tummelten, die allesamt jünger als Robert und Andreas sein mochten. Obwohl kein bestimmter Kleidungsstil vorzuherrschen schien, vermutete Andreas die Partygänger mit schwarzer Kleidung in der Überzahl. Da waren Frauen in hautengen Lack- und Lederkostümen - aber auch solche, die einen Minirock und ein enges Top trugen. Einige waren geschminkt, viele davon weiß im Gesicht. Andere sahen ganz normal aus - wie die Frauen, denen Andreas täglich auf der Straße begegnete. Die Bässe der Musik fuhren Andreas durch den gesamten Körper, so dass es beinahe schmerzte. Während die beiden einen großen Bogen um die Tanzfläche machten, achtete Andreas darauf, dass es nicht zu einem Körperkontakt mit einem der schwitzenden Leiber kam.

Sie passierten die Bar und fanden sich dahinter in einem geräumigen Bereich wieder, der mehr an ein Restaurant als an einen Club erinnerte. Frauen in engen Lederkostümen flitzten zwischen der Bar und den Tischen hin und her und brachten Bier und Cocktails zu den feiernden Gesellschaften.

Die beiden setzten sich an den einzigen freien Tisch - irgendwie hatte Robert geahnt, dass hier noch ein Tisch frei sein würde. Hier war auch die Musik nicht mehr ganz so laut. Nur noch ein dumpfes Wummern im Hintergrund. Dafür tönten die Unterhaltungen der Nachbartische umso lauter durch den Raum. Andreas musste sich nach vorne beugen, um Robert zu verstehen. “Warum in Gottes Namen sind wir ausgerechnet hier und nicht woanders?”

“Ich wusste nicht, dass es diesen Club überhaupt gibt”, sagte Robert. “In jeder Stadt dieser Größe gibt es einen Laden mit diesem Namen. Ich habe ihn deswegen auf gut Glück einfach genannt.”

“Und wenn es ein Schwulenclub gewesen wäre?”

“Dann wäre es eben ein Schwulenclub gewesen. Wir haben wirklich besseres zu tun, als uns um die Klientel in diesem Laden zu kümmern. Ob Homo oder Hetero, wen kümmert es, wenn es hier um viel bedeutendere Dinge geht?”

“Du bist doch hoffentlich nicht Homo, oder?”

“Was, wenn ich es wäre? Du solltest langsam mal deine Vorurteile abbauen. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass du anfängst, eigenständig zu denken. Stell alles in Frage, nimm nichts als selbstverständlich. Frag dich bei allem, was du weißt, woher du es weißt und ob es auch wirklich stimmt. Vieles, was du bislang für selbstverständlich gehalten hast, beruht auf Lügen und Irrtümern. Lass dir von niemandem vorschreiben, was du glauben sollst und was nicht. Nicht von der Kirche, nicht vom Staat, nicht von der Wissenschaft. Lerne, auf deinen Bauch zu hören. Er hat meistens recht.”

“Du bist gut. Auf den Bauch hören. Ich. Der verkopfteste Mensch weit und breit.”

“Ich werde dir jetzt meine Geschichte erzählen”, sagte Robert. “Wie ich der geworden bin, der ich bin. Ich denke, allein dadurch wirst du schon viel von dem erfahren, was du wissen musst. Also hör gut zu.”

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Sonntag, 23. Juni 2013
00100011 - Reich und berühmt
Instinktiv griff Andreas nach seinem Schlüssel. Er war noch da. Inzwischen unter den ganzen Schlüsseln an seinem Schlüsselbund für alle sichtbar und doch versteckt. Das Taxi fuhr gerade in den Norden der Stadt, wo es die besten Clubs gab. Sagten zumindest viele, denn Andreas selber mochte eigentlich keine Clubs. Die Musik war zu laut, das Licht zu grell, und es waren viel zu viele Menschen unterwegs. Wenn er in einem Club war, fühlte er sich schon nach wenigen Minuten, als müsste sein Hirn zerspringen.

“Wenn wirklich das funktionieren würde, was du sagst, dass jeder die Realität manipulieren kann, wenn er nur will und wenn er es gelernt hat, dann müsste ja jeder reich und berühmt werden”, sagte Andreas zu Robert.

“Was spricht dagegen?”

“Naja, es kann nicht jeder reich und berühmt werden.”

“Warum denn nicht?”

“Das würde dem Konzept von reich und berühmt widersprechen. Stell dir mal vor, es wäre jeder reich. Es hätte jeder Geld im Überfluss. Was wäre das Resultat? Es würde alles teurer werden. Die Händler könnten mehr verlangen, weil die Kunden ja mehr bezahlen könnten. Somit würde das Geld an Wert verlieren. Es gäbe eine Inflation, und alle wären wieder arm. Und außerdem: Reichtum kann es nur geben, wenn es Armut auch gibt. Wenn es Armut nicht gibt, dann sind alle gleich. Das Vermögen und das Geld sind gleich verteilt, und das heißt auch, dass es keinen Reichtum mehr gibt. Und: Reichtum und Armut sind relativ. Für die meisten Menschen in Afrika sind wir reich - und zwar wir alle. Auch die Hartz IV-Empfänger. Denn sie müssen nicht verhungern, und sie haben in der Regel ein Dach überm Kopf. In Afrika ist das nicht so selbstverständlich. Umgekehrt sind wir für die Leute in Monaco oder in Dubai alle arm - naja, du vielleicht nicht - aber zumindest ich und unser Kollege Taxifahrer.”

“Aber es kann doch jeder berühmt werden.”

“Auch berühmt ist relativ. International berühmt, bundesweit berühmt, landesweit berühmt - stell dir vor, die Minister in unserem Bundesland kennt in Mecklenburg-Vorpommern niemand. Der Landrat eines Kreises ist schon im Nachbarkreis vollkommen unbekannt. Und dann gibt es Musiker, die nur in ihrer Szene berühmt sind, Wissenschaftler, die sich auf ihrem Gebiet einen Namen gemacht haben, aber wer nicht zumindest das Fach studiert hat, kennt sie nicht. Und dann gibt es die Kassiererin an der Kasse im Supermarkt. Die halbe Stadt kauft dort ein, jeder kennt ihr Gesicht und ihren Namen, da er auf einem Anstecker steht. Ja, die Kassiererin ist auch berühmt, weil viele sie kennen. Aber ist sie auch erfolgreich?”

“Du sagst es selbst. Es kann jeder berühmt werden.”

“Werden vielleicht, aber sein? Wie viele versuchen es? Wie viele Autoren, wie viele Bands, wie viele Schauspieler, wie viele Sportler, wie viele Basispolitiker gibt es? Und wie viele davon sind berühmt? Es kann nicht jeder erfolgreich sein. Denn auch der Misserfolg gehört zum Leben genauso dazu. Wenn jeder Erfolg hat, dann ist das doch nichts besonderes mehr.”

“Und doch bietet das Internet neue Möglichkeiten”, entgegnete Robert. “Es kann nicht nur jeder berühmt werden oder berühmt sein - es ist jeder berühmt.
Jedermann kann das Opfer von Papparazzi werden. Du brauchst noch nicht mal berühmt zu sein. Du musst höllisch aufpassen. Dir jeden Schritt genau überlegen. Wenn sich ein Star daneben benimmt, landet er mit seinem Tritt ins Fettnäpfchen wenig später in den Boulevard-Medien. Wenn sich ein ganz gewöhnlicher Mensch daneben benimmt, kann es sein, dass jemand ein Video von ihm macht und es auf Facebook, YouTube oder Lemuria veröffentlicht. Viele Menschen schauen sich das Video an, und ehe man sich versieht, hat es Millionen Klicks, und du wirst auf der Straße erkannt. Du schnappst dir einen Anwalt und lässt es löschen. Doch das Video ist längst viral geworden. Tausende haben es schon runter geladen. Ist es weg, stehen Tausende bereit, es wieder hochzuladen. Und du kannst nichts dagegen tun. Wenn YouTube das Video sperrt, landet es eben bei Lemuria. Wenn es Lemuria sperrt, wird es bei Vimeo veröffentlicht. Jeder Mensch kann jederzeit zur Berühmtheit werden - ob er will oder nicht. Das ist die neue Zeit. Früher haben Papparazzi Jagd auf Prominente gemacht. Heutzutage jagt jeder jeden.”

“Ist das die schöne neue Welt, die du anpreist?” fragte Andreas.

“Ja und nein”, sagte Robert. “Natürlich wollen viele berühmt sein - viele aber auch nicht. Eben deshalb. Wenn jeder bekommt, was er will, werden längst nicht alle reich und berühmt. Aber jeder wird erfolgreich sein. In dem, was er tut und was er tun will. Das muss kein Bestseller und kein Top 10-Album sein. Es kann auch der ganz alltägliche Erfolg sein. Dass jemand seinen Job gut macht und Anerkennung dafür erhält, dass er aufsteigt auf der Karriereleiter - oder dass er Erfolg hat bei dem einen Menschen, bei dem er Erfolg haben will. Oder dass er immer einen Parkplatz findet.”

“Was hast du denn ständig mit deinen Parkplätzen?” sagte Andreas. “Natürlich findet jeder einen Parkplatz. Die Frage ist nur, wie weit er vom Ziel entfernt ist. Dass jemand wirklich überhaupt keinen Parkplatz im weiten Umkreis findet, ist eher selten. Wenn du deshalb den Leuten sagst, dass sie einen Parkplatz finden werden, und sie finden tatsächlich einen, werden sie denken, dass du oder sie selbst dafür gesorgt haben.”

Robert entgegnete: “Ganz so einfach ist es nicht. Ich sehe, du bist ein Skeptiker. Selbst der Taxifahrer und der Eisbär haben dich nicht überzeugen können. Du glaubst nur das, was du siehst - und selbst das nicht.”

“Glaube mir, ich habe schon seltsame Dinge gesehen”, sagte Andreas und dachte dabei an die Welt Lemuria, aber auch an seinen mysteriösen Schlüssel, der bisher nirgends gepasst hatte. “Aber geglaubt habe ich nichts von alledem.”

“Manchmal fällt es eben schwer, Realität und Nicht-Realität, also Phantasie, Visionen, Träume Wahn, Lügen, Irrtümer und was auch immer auseinanderzuhalten”, sagte Robert. “Und glaube mir: Es ist so beabsichtigt. Es gibt Milliarden von Menschen. Und jeder sieht die Welt komplett anders als die anderen. Jeder interpretiert, erklärt, versucht zu verstehen, indem er seine Erfahrungen nutzt, um das, was er erlebt, zu interpretieren. Aber hat jeder Mensch die gleichen Erfahrungen? Nein, natürlich nicht. Aber da die Erfahrungen das sind, was uns prägt, was uns hilft, das, was wir sehen und hören zu interpretieren, wird jeder von uns die selben Ereignisse anders wahrnehmen.”

“Das ist purer Konstruktivismus”, sagte Andreas.

“Das ist es”, stimmte Robert zu. “Denn ich glaube, dass nicht nur unsere Interpretationen dafür sorgen, dass jeder eine andere Realität erlebt. Wir schaffen uns - jeder für sich - unsere Realität selbst. Und wer das begriffen hat - also nicht nur weiß, sondern es von ganzem Herzen versteht und damit umgehen kann - dem stehen alle Türen offen.”

Andreas musste unwillkürlich an den Schlüssel denken.
“Also es genügt nicht, es zu wissen.”

“Nein, du musst es fühlen, du musst es spüren. Und das kannst du nur, wenn du dein Bewusstsein erweiterst. Und das wiederum kannst du nur durch Meditation und den Erwerb von Wissen, das den meisten Menschen nicht zur Verfügung steht. Es ist kein Geheimwissen. Es ist frei verfügbar. Aber die meisten Menschen ignorieren es - weil sie vielleicht Angst haben oder weil sie nicht wissen, wie weit wir schon vorgedrungen sind auf unserer Suche nach der Wahrheit. Oder weil sie sich nicht öffnen für neues, weil das neue vielleicht ihrem Weltbild widerspricht, weil sie das, was sie zu wissen glauben, nicht kritisch hinterfragen. Der Mensch glaubt, was er glauben will. Daran wird sich nie etwas ändern. Der Mensch ist sogar bereit, eine offensichtliche Lüge zu glauben, die bereits widerlegt wird, sofern diese Lüge gut in sein Weltbild passt.”

“Wenn es wirklich stimmt, was du sagst”, sagte Andreas, “dann lehre mich dein Wissen und zeige mir, wie ich noch mehr Eisbären heraufbeschwören kann, wenn ich will.”

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Mittwoch, 19. Juni 2013
00110001 - Karbon-Faser
Das Lemuria-Gebäude war Andreas bestens vertraut. Hier verbrachte er bald mehr Zeit als zu Hause. Doch in der Nacht hatte er es noch nie gesehen. Wie es verträumt im Mondschein da lag - die Halle in der Mitte des Gebäudes hell erleuchtet mit Strom, der am Tage durch die Photovoltaik-Module auf dem Dach gesammelt wurde. Der Rest des Firmensitzes war in tiefes Dunkel getaucht - nur in einem Büro brannte noch Licht. Andreas stellte fest, dass es das Büro der Niederlassungsleiterin war. Lucía Sánchez, die aussah wie Sundari, war also noch wach - und noch bei der Arbeit. Und das mitten in der Nacht am frühen Samstagmorgen.

“Wir sind da.”

“Bei meinem Arbeitgeber. Lemuria.”

“Ach, du arbeitest hier?” Robert grinste. “Dann bin ich ja so was wie dein Chef.”

“Ja, so wie jeder Aktionär der Deutschen Bank Chef von den Bankangestellten ist.”

Robert lachte. “Der war gut.”

“Mal ehrlich, Robert, hast du in diesem Laden wirklich was zu sagen?”

“Und ob. Ich habe das Sundari-Projekt erfunden. Und ich bestimme auch, wer davon erfahren darf und wer nicht. Deshalb kann ich es dir zeigen, ohne dass ich dich am Nachtwächter vorbei schmuggeln muss.”

“Oder an Frau Sánchez.”

“Wer ist Frau Sánchez?”

“Die Niederlassungsleiterin. Sie arbeitet noch. Und ja, sie weiß auch Bescheid über das Sundari-Projekt.”

“Ist ja ‘n Ding.”

“Und du kennst sie nicht?”

“Naja, also ich...”

Seltsam, dachte Andreas, aber er sagte es nicht. Wie Verbrecher schlichen sie auf das Gebäude zu. Abgesehen von einem leichten Wind hörten sie kein Geräusch. An der Drehtür schob Robert eine Scheckkarte ein. Sofort öffneten sich ein Computermonitor, eine Kamera und ein Tastenfeld. Es sah etwa so ähnlich aus wie bei einem Geldautomaten. Andreas kannte das System. Er hatte daran mitprogrammiert.

Auf dem Monitor erschien eine computergenerierte Figur mit der schwarzen Uniform eines Nachtwächters. “Guten Abend, Herr Jonas”, sagte die computergenerierte Stimme so freundlich, wie es irgendwie ging. Leider wirkte die Figur noch ein wenig störrisch. Unglücklicherweise war das Programmierteam bei der Gestaltung mitten im Uncanny Valley gelandet. Der virtuelle Nachtwächter sah schon zu menschenähnlich aus - allerdings nicht menschenähnlich genug, so dass er auf die Benutzer nicht mehr wie eine Maschine und noch nicht wie ein Mensch wirkte und daher für sie unheimlich war.

“Für den Netzhaut-Scan blicken Sie bitte in die Kamera”, sagte der Computer.

Robert tat, wie ihm geheißen, und der Computer sagte: “Vielen Dank. Geben Sie bitte jetzt Ihren persönlichen Türcode ein.”

Roberts Finger huschten nur so über die Tasten. Ein achtstelliger Dezimalcode.

Ein paar bange Augenblicke geschah gar nichts. Dann sagte der Computer: “Vielen Dank, Herr Jonas. Ihnen noch einen angenehmen Abend.”

Der Computer verschwand in der Wand, die wenig später so aussah, als wäre dort nie etwas gewesen. Robert öffnete die Tür, und beide gingen hinein.
Sie hatten den virtuellen Nachtwächter kaum passiert, als ihnen der aus Fleisch und Blut begegnete. “Guten Abend, Herr Held”, sagte er. Robert würdigte er keines Blickes. Dieser strebte ohne Umschweife auf den Aufzug zu, und Andreas folgte ihm.

Wieder allein mit Robert im Aufzug - diesmal in einem, der ihm vertraut war. Und er war auch angenehm groß im Vergleich zu dem Verschlag in der Schwarzwaldstraße 23. Bei Lemuria arbeiteten nicht wenige, die klaustrophobisch veranlagt waren. Also hatte das Unternehmen lieber einen größeren Fahrstuhl gebaut.

Doch jetzt ging es dorthin, wo Andreas noch nie war: Nach unten, in den Keller. Genauer gesagt, in das unterste von fünf Untergeschossen.

Andreas hatte sich nie für die Untergeschosse interessiert. Normalerweise hielten sich dort nur Techniker und Hardware-Spezialisten auf. Wenn überhaupt. Dort waren die ganzen Server gelagert. Auch einige von denen, auf denen die Nutzerdaten gehostet waren. Wer Zugang zu den Festplatten hatte, für den war es auch ein Leichtes, an die Daten heranzukommen. Das gesamte Wissen der Welt. Es lagerte bei Lemuria im Keller hinter dichten Panzerstahl-Türen. Nur war bisher niemand in der Lage, dieses Wissen in seiner Komplexität zu verwerten. Sollte es jemals gelingen, standen der Wissenschaft ungeahnte Möglichkeiten zur Verfügung. Vielleicht konnte man sogar herausfinden, ob es einen Gott gab oder ein Leben nach dem Tod oder was in nächster Zukunft geschehen würde.

Sie gelangten im Keller an eine weitere Sicherheitsschleuse. Wieder musste Robert seine Scheckkarte in einne Schlitz stecken, seine Netzhaut scannen lassen und eine Zahlenkombination eingeben. Diesmal öffnete sich eine Tür von allein - ähnlich wie bei Raumschiff Enterprise - und sie zischte auch genauso wie in der Fernsehserie. Dann gelangten sie in einen langen Gang - etwa zweihundert Meter lang mit glatten Stahlwänden links und rechts, die über drei Stockwerke in die Höhe ragten. Am Ende des Ganges aber befand sich eine weitere Tür. Laut hallten ihre Schritte an den Wänden des Korridors wider, als sie sich darauf zubewegten.

Auch die Tür öffnete sich zischend und gab den Weg frei in einen großen, dunklen Raum. Auf der anderen Seite aber erhob sich eine gewaltige Wand aus Monitoren. Andreas wusste nicht genau, wie viele es waren, aber es mussten Tausende sein, und aus irgendeinem dummen Zufall ergaben die Bilder, die auf ihnen zu sehen waren, zusammengesetzt das Bildnis von Big Brother aus dem 1984 erschienen Film "1984".

“Willkommen im Allerheiligsten des Sundari-Projekts”, sagte Robert. Und während sie sich der riesigen Monitorwand näherten, fuhr er fort: “In jeder der sieben größten Städte Deutschlands gibt es eine Niederlassung von Lemuria. Und in allen sieben Städten gibt es einen Ableger des Sundari-Projekts. Wir wollen später einmal die ganze Welt erreichen, aber das ist momentan noch zu aufwendig.”

Je näher sie der Videoleinwand kamen, desto mehr stellte Andreas fest, dass die Monitore in ständiger Bewegung waren. Manche waren still und starr auf ein Objekt gerichtet - das Schloss, den Fernsehturm, den Hauptbahnhof, das Planetarium - andere wiederum waren in stetiger Bewegung, so als wären die Kameras in Handys eingebaut, und der Besitzer würde sie ständig vor sich her tragen. Vor dieser gewaltigen Videowand aber standen Kästen wie Särge in mehreren Reihen im Raum. Andreas stellte fest, dass es kniehohe Serverschränke waren.

“Es gibt in unserer Stadt Tausende von Kameras”, sagte Robert. “Öffentliche, private und Kameras, die wir selber aufgestellt haben. Dazu kommen Handy-Kameras und diese Kamerabrillen, die wir seit neuestem verkaufen, die Lemunettes. Wir zapfen all diese Kameras an. Dazu kommen Satelliten-Kameras, die auf diese Stadt gerichtet sind. Die Daten aus den Kameras verknüpft mit den Computern, die sich in diesem Raum befinden, ergeben ein ziemlich genaues Bild dieser Stadt. Wir wissen genau, wer sich wo aufhält, wer wo einkauft, wer in welchem Club feiert - ja, sogar ob ein neues Tierbaby im Zoo geboren wird. Wir haben die ganze Stadt im Blick - im Norden bis zum Militärflughafen, im Süden bis zur Autobahn, im Osten bis ins Gebirge und im Westen bis zum Wildpark. Wir sehen alles, die Computer werten es aus und stellen aus diesen Daten eine VR-Umgebung her.”

“Eine VR-Umgebung?”

“Virtuelle Realität.”

Sie hatten die Monitore erreicht. Darunter befand sich ein Areal mit seltsamen Geräten. Ein wenig sahen sie aus wie kreisrunde Laufbänder. An einer Stange hingen zahlreiche Datenanzüge unterschiedlicher Größe, und darüber waren Datenhelme mit Datenbrillen angebracht. All diese Anzüge und Assessoires glänzten schwarz im Schein mehrerer weißer LED-Lampen, die über dem Areal angebracht waren. Andreas kam sich vor wie in einem Science-Fiction-Film.

“Ich wusste gar nicht, dass wir schon so weit sind”, sagte Andreas.

“Streng geheime Forschung”, bemerkte Robert. “Nicht einmal die Mitarbeiter sind darüber informiert, woran sie eigentlich arbeiten. Was hier generiert wird, ist keine künstliche Welt, sondern die echte Welt, wie sie dort draußen existiert. Mit all ihren Bewohnern. Die totale Überwachung zum Wohl der Menschheit.”

“Du willst damit sagen, dass hier eine künstliche Welt erschaffen wird, die die reale Welt abbildet?”

“Eine hundertprozentige Kopie - mit dem Unterschied, dass dich die Leute, die du siehst, nicht bemerken. Du bewegst dich wie ein Geist unter ihnen. Sie können dich nicht sehen. Sie werden vielleicht durch dich hindurch laufen. Es ist ein unheimliches Gefühl. Aber ein ganz besonderes Erlebnis. Komm her.”

Schon hatte er sich einen Datenanzug geschnappt. Er schien Andreas’ Größe zu haben.

“Hier, probier den an.”

“Du spinnst ja.”

“Hey, mir gehört der Laden.”

Andreas griff danach und hielt ihn an seinen Körper. Er hatte leichtes Übergewicht, aber der Anzug schien genau richtig für ihn zu sein.

“Und jetzt zieh dich aus.”

“Bitte?”

“Zieh dich nackt aus. Nur so ist die totale Immersion möglich. Je nackter du bist, desto intensiver die Emotionen.”

“Ich brauche keine intensiven Emotionen. Damit habe ich schon genug Probleme.”

“Bitte wie du willst”, sagte Robert und entledigte sich seinerseits seiner Kleidung. Wenig später stand er, wie Gott ihn schuf, vor Andreas. Dieser bemühte sich, nicht auf die baumelnde Männlichkeit seines alten Schulkameraden zu blicken.

“Zieh bitte den Anzug an”, sagte Andreas.

“Und du deinen. Zieh wenigstens Hose und Pullover aus. Deine Unterwäsche kannst du meinetwegen anbehalten. Der Computer wertet Wetterdaten aus und errechnet anhand dessen Temperatur und Wind. Du wirst es gleich auf der Haut spüren. Aber keine Angst: Wenn es zu kalt ist, simuliert der Anzug Kleidung auf deiner Haut. Dann spürst du die Kälte nur im Gesicht und an den Händen. Du kannst in diesem Anzug nicht erfrieren. Nun zieh ihn schon an.”

Andreas strich mit seiner Hand über den Anzug, begutachtete die Struktur. Es fühlte sich gut an - irgendwie wie ein Fahrradreifen, nur etwas anders. Schwer zu beschreiben. Hart und trotzdem weich. Er nahm ihn in die Hand. Der Anzug hatte kaum Gewicht.

“Toll, nicht wahr?” sagte Robert. “Der Anzug besteht aus Karbon-Faser. Jeder einzelne Millimeter davon kann deine Haut stimulieren. Wenn du den Anzug trägst, fühlst du dich nackt. Außer bei kalten Temperaturen. Dann simuliert der Anzug warme Kleidung, aber das sagte ich bereits.”

Andreas zog seine Jeans und seinen Pullover aus. Auch sein T-Shirt ließ er fallen, bis er mit nacktem Oberkörper vor Robert stand. Jetzt trug er nur noch Unterhose und Socken. Er schlüpfte in den Anzug. Es fühlte sich seltsam an. Tatsächlich: Als wäre er nackt. Und trotzdem war ihm warm.

“Jetzt fehlen nur noch Handschuhe und Datenhelm”, sagte Robert. “Und dann geht es auf das Laufband. Das Laufband steuert jeden deiner Schritte - egal in welcher Richtung - mit einer Bewegung gegen. Du läufst mehrere Kilometer, aber du bewegst dich nicht voran.”

Er zog sich die Handschuhe an, und Andreas machte es ihm nach. Das Gefühl war ähnlich wie beim Anzug. Ihm war, als hätte er gar keine Handschuhe an. Er ballte seine Hände zu Fäusten und lockerte sie wieder, so dass sie flach waren.

“Auch die Handschuhe bestehen aus Karbon-Faser. Der Helm auch - aber die Konsistenz ist eine andere. Der Helm ist gehärtet. Die Datenbrille darin ist hochauflösend. Es gibt im Ohrteil auch Kopfhörer. Aber die brauchen wir nur für die interne Kommunikation. Wir können das, was wir sehen, nicht hören. Abhören ist illegal. Deshalb werden wir uns wie Gehörlose durch die virtuelle Welt bewegen. Pass auf, dass dich kein Auto und keine Straßenbahn überfährt. Das ist alles andere als angenehm. Glaube es mir.”

“Ist das gefährlich?”

“Gefährlich nicht, aber äußerst schmerzhaft. Die Computer setzen die Informationen, die sie bekommen, in taktile Informationen um. Dafür ist der Datenanzug da.”

“Muss das sein?”

“Der Datenanzug wurde nicht für das Sundari-Projekt entwickelt. Der Erfinder ist ein Mann, der mit seiner Fernbeziehung in Peru echten Sex haben wollte. Der Anzug macht das Leben erstaunlich echt. Leider fehlen im Sundari-Projekt noch Geräusche und Gerüche. Aber keine Angst, die werden auch noch kommen.”

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Montag, 17. Juni 2013
00100010 - Der Schlüssel
Andreas mochte Weihnachten. All die Gerüche. Nach Braten, nach Plätzchen, nach frischem Tannengrün, das seine Mutter schon mit dem Adventskranz kurz vor dem ersten Advent ins Haus zu holen pflegte. Er liebte es, an Kerzen zu riechen, die gerade erst gelöscht wurden. Er genoss es, die Tannenzweige anzufassen, mit den Fingern daran entlangzufahren, die Zweige des Weihnachtsbaums durch seine Hände gleiten zu lassen. All die festliche Musik im Radio und auch auf Schallplatte und Kassette. Der Kleine Lord und Drei Haselnüsse für Aschenbrödel im Fernsehen. Die hell erleuchteten, festlich geschmückten Straßen seiner Heimatstadt, wo sich leuchtende Tannengirlanden mit grünen Sternen von Haus zu Haus schwangen, wo es zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts nach Bratwurst, Glühwein und frischen Wachskerzen roch. Er liebte es, Dominosteine im Mund zu zerquetschen, die köstliche Mischung aus Schokolade, Marzipan, Gelatine und Teig aufzusaugen. Er war außer sich, wenn er zum ersten Mal wieder eine Marzipankartoffel in seinem Mund spüren und zwischen Zunge und Gaumen zerdrücken konnte. Doch diesmal war alles anders.

Zwar erlebte er auch dieses Jahr wieder alles, was ihm die vergangenen Jahre so viel Freude bereitet hatte. Aber irgendwie konnte er sich diesmal nicht freuen. Etwas dunkles breitete sich in seiner Seele aus und betrübte ihn. Der Krieg gegen Robert, aber mit den Schulferien begann auch etwas anderes. Sehnsucht.
Auch die geballte Frauenpower hatte bis zum Beginn der Weihnachtsferien nichts gegen Robert ausrichten können. So ziemlich jede Gegenaktion versagte und machte den Peiniger nur noch wütender. Mit dem Ergebnis, dass sich Andreas immer mehr zurückzog, sich aus seiner Welt immer mehr verabschiedete. Er verbrachte viel Zeit in Lemuria und kehrte in seine eigene Welt nur noch zurück, um in die Schule zu gehen, um Hausaufgaben zu machen, um Essen zu gehen und um mit seinen Eltern nach Mannheim auf den Weihnachtsmarkt zu fahren. Doch war der Markt früher stets ein Höhepunkt des Jahres gewesen, so kamen ihm diesmal die Stände viel dunkler und düsterer vor. Die Zuckerwatte und die gebrannten Erdnüsse wollten ihm diesmal nicht schmecken.

Am schlimmsten aber war, dass seine Eltern und auch sein Bruder nicht merkten, was mit ihm los war. Immer wieder dachte er an Robert - aber auch an Maja. Er hatte Gefallen an ihr gefunden. Sie war für ihn da - sorgte stets dafür, dass ihm Robert während der Pausen nicht über den Weg lief, war sogar bereit dafür, ihn zu verstecken - wenn nötig, auch in der Mädchentoilette.

Ja, Maja. Er musste oft an sie denken. Selbst hier, auf dem Weihnachtsmarkt, sah er ihr Gesicht überall. Nur wenn er genauer hinsah, entdeckte er, dass es nicht sie war, die er gesehen hatte, sondern ein anderes Mädchen. Er hatte schon über vieles mit ihr geredet, und sie hatte immer ein offenes Ohr für ihn. Ihr konnte er alles anvertrauen - nur eines nicht: Er erzählte ihr nie über Lemuria aus Angst, sie könnte sich über ihn lustig machen.

Allerdings sah er sie nur in der Schule. Bisher hatte sie sich standhaft geweigert, ihn außerhalb des Geländes der Lehranstalt zu treffen - immer unter einem fadenscheinigen Vorwand. Ins Hallenbad konnte sie nicht gehen, da sie eine Wasserallergie hatte. Er schaffte es auch nicht, sie ins Kino auszuführen, weil sie immer etwas anderes vorhatte. Und auch einen Kaffee trinken wollte sie nicht mit ihm - außer in der Schulcafeteria.

An Maja denkend merkte er nicht, dass er von seinen Eltern getrennt wurde. Die Menschenmassen schoben sich derart zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts entlang, dass sie höllisch aufpassten mussten, wenn sie zusammenbleiben wollten.

Als Andreas bemerkte, dass er allein war, geriet er in Panik. All die Fremden, die so dicht an dicht über den Markt schlenderten, dass sie ihn berührten, dass er ihren Schweiß riechen konnte, ihren Mundgeruch, dass er ihr ständiges, unaufhörliches Geplapper hören konnte. Überall spielte Musik, überall andere Gerüche. An jeder Bude gab es viel zu sehen. Räuchermännchen. Weihnachtspyramiden. Holzschnitzereien aus dem Erzgebirge, das damals zur DDR gehörte. Wollsocken. Kinderspielzeug. Kräuterbonbons. Menschen. Gesichter. Immer mehr. Immer mehr.

Tausende Sinneseindrücke prasselten auf ihn ein. Schon hatte er genug, wollte sich zurückziehen, wollte das Ventil öffnen, um Dampf abzulassen. Allein sein. Die Akkus wieder aufladen. Aber all diese Eindrücke. Ein Stand mit stark riechender Seife. Und schon rieb der Gyrosduft vom Stand nebenan seine Nase. Nein, er hatte genug. Er war jetzt nicht mehr aufnahmefähig. Er fürchtete sein Kopf könnte platzen. Gleich tickte er aus, oder er brach zusammen. Eins von beidem. Gleich war es so weit.

Dann war plötzlich, als hätte jemand die Welt angehalten. Was der Mann, der in der Bude stand, verkaufte, war unwichtig, und Andreas konnte sich selber nicht mehr daran erinnern. Er wusste nur, dass er den Stand nie zuvor gesehen hatte. Aber der Mann, der dahinter stand, wirkte magisch auf ihn. Wie aus einer anderen Welt. Er hatte glattes, schwarzes Haar und schwarze Augen. Aber nicht von der Art, wie er sie später in der U-Bahn bei diesem Matrix-Terminator wieder sehen würde. Nein, irgendwie anders. So wie ein Süditaliener schwarze Augen hat. Oder ein Inder. Und diese schwarzen Augen blickten ihn so durchdringend an, dass er die Menschenmassen, die Geräusche und Gerüche um ihn herum vergaß und wie gebannt auf den Mann starrte. Er lächelte.

“Na, Kleiner”, sagte er. “Soll ich dir mal was zeigen?”

Der Weg zum Wasserturm, der sich in der Mitte des Weihnachtsmarktes erhob, war nicht weit. Wortlos führte ihn der Mann dorthin, und Andreas konnte gar nicht anders, als ihm zu folgen. Schon als kleines Kind hatte er sich oft gefragt, was denn wohl im Wasserturm drin wäre. Sein Vater hatte geantwortet: “Wasser, was sonst?”

“Aber warum tun die Wasser in den Turm?”

“Damit jede Wohnung frisches Wasser in der Leitung hat. Wenn keine Wohnung in Mannheim höher liegt als der Wasserturm, dann kann das Wasser in die Leitungen fließen, ohne dass man dazu eine Pumpe braucht. Je höher der Wasserstand im Turm, desto höher steigt das Wasser in der Leitung. Das ist wie beim Gartenschlauch, das du zu einem U formst. Je mehr Wasser du links einfüllst, desto mehr steigt es rechts. Und deswegen haben die einen Turm gebaut, den sie mit Wasser gefüllt haben.”

Der Mann führte ihn zu einer Tür, die Andreas noch nie zuvor gesehen hatte. Er öffnete die Tür knarrend. Die Menschenmassen, die sich am Turm vorbei schoben, schienen keine Notiz von ihm zu nehmen. Vor ihnen führte eine Treppe hinab in die Dunkelheit. Ein bisschen fühlte sich Andreas an “Aladin und die Wunderlampe” erinnert, das er zu Hause als Hörspielkassette besaß.

Langsamen Schrittes ging der seltsame Mann nach unten, ohne auch nur ein Wort zu sagen, und Andreas folgte ihm. Mit einem lauten Knall fiel hinter ihnen die Tür ins Schloss. Ihre Schritte hallten an den feuchten, schimmeligen Wänden, und es roch ein wenig nach Pilzen.

Unten angekommen öffnete sich vor Andreas’ Augen ein kleines Gewölbe. Der Mann entzündete eine Kerze. Ein wenig rutschte Andreas das Herz in die Hose.
Hatten seine Eltern ihn doch immer wieder gewarnt, er solle nicht mit Fremden gehen, und dieser Fremde war ganz und gar unheimlich. Erst jetzt fiel Andreas auf, dass dieser Mann eine Mönchskutte trug - oder trug er sie erst jetzt, und er hatte vorher etwas anderes getragen? Es war wie in einem Traum.

“Wer bist du?” fragte Andreas.

“Ein Freund”, antwortete der Fremde.

“Und wo bin ich hier?”

“Im Heiligtum des Pani, des Gottes des Wassers.”

“Bin ich in Lemuria?”

“Nein, das ist deine Welt.”

Er ging zu einem Tisch, der in der Mitte des Gewölbes aufgestellt war. Die Kerze beleuchtete den Raum nur spärlich, und so konnte Andreas nicht erkennen, ob sich noch weitere Möbelstücke in diesem Keller befanden. Aber eines erkannte er: Auf dem Tisch lag ein Schlüssel.

“Es gibt fünf Elemente”, sagte der Fremde.

“Falsch”, entgegnete Andreas. “Ich habe gelesen, es sind mehr als 100.”

Der Mann ignorierte ihn. “Fünf Elemente”, sagte er beharrlich. “Feuer, Wasser, Erde, Luft und der unendliche Äther.”

“Wasser ist kein Element. Es besteht aus den Elementen Sauerstoff und Wasserstoff. Luft besteht aus Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff, Feuer ist kein Element, sondern ein chemischer Prozess, die Erde besteht aus allem möglichem, und was Äther ist, weiß ich nicht.”

“Ich warne dich!” donnerte der Mann. “Die Welt ist nicht das, was sie zu sein scheint. Ich will dir helfen. Nimm den Schlüssel, der dort liegt!”

“Wozu brauche ich ihn?”

“Das wirst du früh genug erfahren. Trag ihn immer bei dir, aber zeige ihn niemandem und verrate auch niemandem davon. Noch nicht einmal deinen besten Freunden.”

“Ich habe keine Freunde”, sagte Andreas und steckte sich den Schlüssel in die Jackentasche.

“Wenn du eine Tür findest, in die dieser Schlüssel passt, dann gib Acht. Denn dann ist das, was dahinter liegt, für dich bestimmt. Es ist dein Schicksal, deine Bestimmung, die Tür zu öffnen.”

“Was werde ich dort finden?”

“Du wirst es erfahren, sobald die Zeit gekommen ist.”

Aber bisher war die Zeit nie gekommen. Immer wieder hatte Andreas den Schlüssel in verschiedenen Türen ausprobiert - ohne Erfolg. Ihm war auch aufgefallen, dass er den Schlüssel auch immer nur in seiner Welt bei sich tragen konnte. In Lemuria war er bislang immer ohne Schlüssel aufgewacht.

Wie Andreas, nachdem er den Schlüssel genommen hatte, nach draußen gekommen war, wusste er nicht. Er stand plötzlich von einem Moment auf den anderen wieder vor seinen Eltern.

“Mensch, wo warst du?” fragte sein Vater. “Wir haben dich schon überall gesucht.”

Schon hatte Andreas geglaubt, dies alles sei nur ein Tagtraum gewesen. Doch dann fand er in seiner Jackentasche den Schlüssel, den er seitdem immer bei sich trug.

Nach diesem seltsamen Erlebnis auf dem Weihnachtsmarkt war er noch oft zum Wasserturm gegangen, um sich dort umzuschauen. Doch die Tür hatte er nie wieder gefunden.

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Montag, 17. Juni 2013
Kurze Anmerkung
Da dies ein Work in Progress ist, können sich Veränderungen ergeben, die in zuvor veröffentlichten Teilen nicht verbessert werden. Ich habe den Antagonisten von Andreas Held jetzt in Robert Jonas umgetauft, da ich den Namen viel passender finde. In den neuen Teilen heißt er noch Robert Jonas, in den alten wird er weiterhin unter seinem alten Namen erwähnt, da ich ihn sonst in jedem Blog-Eintrag austauschen müsste.

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00100001 - Eisbär
“Oh, mein Gott!” sagte der Taxifahrer, ein übergewichtiger, glatzköpfiger Asiate, der mit einem weißen Hemd und mit Blue Jeans bekleidet war. “Sie sind es. Sie sind es wirklich. Robert Jonas. Dass ich das noch erleben darf. Ich habe alle Ihre Bücher gelesen, und wissen Sie was? Sie sind ein Genie. Ich finde tatsächlich immer einen Parkplatz, wenn ich unterwegs bin. Ich kriege jede Frau, und soll ich Ihnen mal ein Geheimnis verraten? Ich werde bald meinen ersten Roman veröffentlichen. Toll, nicht wahr?”

“Positives Denken”, sagte Robert. “Das ist die halbe Miete. Der Rest ist Wissen. Nur wer den Matrix-Code kennt, wird zum neuen Menschen.”

“Ich bin ein neuer Mensch”, sagte der Taxifahrer. “Ich wollte schon immer Buchautor werden. Schreibend den Lebensunterhalt verdienen. Mein großer Traum. Statt dessen fahre ich Taxi. Aber das lässt mir viel Zeit. Hauptsächlich tagsüber. Ich schreibe und schreibe und schreibe, aber glauben Sie, irgendein Verlag hätte sich für mein Manuskript interessiert? Ich sage Ihnen was: Es gibt einen Unterschied zwischen Job und Beruf. Beruf kommt von Berufung. Es ist das, was wir im Leben wirklich machen wollen, wozu wir uns berufen fühlen. Das kann das gleiche sein, mit dem wir auch unser Geld verdienen. Aber das muss nicht sein. Ich habe mich damit abgefunden. Mein Job ist Taxifahrer, aber mein Beruf ist Autor - auch wenn ich bisher nichts veröffentlicht habe.”

“Gar nichts? Nicht mal in Literaturzeitschriften und so?” fragte Andreas.

“Gar nichts”, antwortete der Taxifahrer. “Nur im Internet. In der Lemuria-Schreibstube. Und jetzt kommt das merkwürdige: Jahrelang hat sich niemand für mich interessiert. Kein Verlag, kein Literaturagent, niemand. Dann habe ich Ihre Bücher gelesen, Herr Jonas. Verschlungen habe ich sie. Und, was soll ich sagen? Plötzlich war alles ganz anders. An einen Verlag habe ich geschrieben, und der hat das Manuskript sofort genommen.”

“War das vielleicht ein Druckkostenzuschussverlag?” fragte Andreas.

“Sehr witzig.”

“Ich meine es ernst. Die sind nicht unbedingt sofort als solche zu erkennen.”

“Nein.”

“Sind Sie sich da sicher?”

“Ja. Ich habe schon oft Bücher aus diesem Verlag gelesen. Die gibt es in jeder Buchhandlung.”

“Dann darf ich gratulieren”, sagte Robert Jonas. “Dann ist es ein seriöser Verlag.”

“Das will ich hoffen”, sagte der Taxifahrer. “Beim selben Verlag sind nämlich auch Ihre Bücher erschienen.”

“Dann kann er gar nicht so seriös sein”, entgegnete Andreas und erhielt von Robert einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.

“Hey!” beschwerte er sich. “Ich dachte, die Zeiten
wären vorbei.”

“Dann benimm dich anständig”, zischte Robert.

“Die Herren kennen sich schon länger?” fragte der Taxifahrer.

“Alte Schulkameraden”, sagte Robert.

“Ah ja.” Der Taxifahrer nickte.

“Darf ich fragen, wo Sie herkommen?” fragte Andreas.

“Aus Heidelberg.”

Mit allem hatte er gerechnet. China, Japan, Philippinen, Vietnam. Nur damit nicht. Heidelberg.

“Sie sind überrascht, nicht wahr? Ich mag zwar nicht so aussehen, aber ich bin Deutscher. Durch und durch. Meine Eltern haben mich adoptiert. Aus irgendeinem südostasiatischen Land. Ich weiß nicht mehr genau, woher. Die Leute gucken immer so schön bescheuert, wenn ich meinen roten Pass mit dem goldenen Adler zeige.” Er lachte. “Ich sage dann immer, willkommen im 21. Jahrhundert. Die Zeiten, dass alle Deutschen Germanen waren, sind vorbei - wenn es sie überhaupt jemals gegeben hat.”

“Und was hat Sie von Heidelberg in diese Stadt verschlagen?” fragte Robert. Nur, um das Gespräch aufrechtzuerhalten.

“Die Liebe”, sagte der Taxifahrer. “Eine echte Chinesin. Naja, die Liebe zu der Frau hielt leider nicht lang. Aber die Liebe zur Stadt blieb bestehen. Jetzt will ich nicht mehr weg.”

Andreas war einen Blick auf die Hände, die der Fahrer auf das Steuer gelegt hatte. Tatsächlich: Es fehlte ein Finger. Robert hatte Recht gehabt. Aller Skepsis zum Trotz. War er wirklich so etwas wie ein Uri Geller? Andreas wurde unheimlich.

“Sie fragen sich sicher, warum ich an der rechten Hand nur vier Finger habe", sagte der Taxifahrer. "Kleiner Unfall mit der Kreissäge. Das kommt davon, wenn man alles selber machen will und keine Handwerker ins Haus lässt.”

Andreas starrte Robert verdutzt an. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Konnte Robert wirklich das, was er vorgab zu können? Oder war es nur ein kleiner Trick gewesen? Aber wenn es ein Trick war: Wie hatte er es nur gemacht? Er hätte sich praktisch alles mögliche ausdenken können, aber der Taxifahrer hatte genau die Eigenschaften, die er selber ihm angedichtet hatte. Nein, es war unmöglich, dass Robert ihn betrogen hatte. Andererseits war es aber auch unmöglich, dass sich Menschen in dieser Welt bewegen konnte wie in einem luziden Traum. Das widersprach allem, woran Andreas glaubte - jedem logischen, vernünftigen Denken. Nein, dafür musste es eine logische Erklärung geben. Aber welche?

“Quod erat demonstrandum”, sagte Robert triumphierend. “Ich habe es dir ja gesagt. Wir können diese Welt beeinflussen. Das kannst du auch. Probier es aus.”

“Meinst du?”

“Ja. Jetzt gleich. Probier es aus.”
Sie fuhren gerade eine Hauptverkehrsstraße entlang. Vor ihnen erhob sich das Schloss, das im Dunkeln angeleuchtet wurde. Gleich würde das Taxi in den Stadttunnel hinein fahren, um dann in der Nähe des Hauptbahnhofs wieder herauszukommen.

“Wenn wir aus dem Tunnel draußen sind”, sagte Andreas.

“Wie du willst. Wenn wir aus dem Tunnel draußen sind, denkst du an etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Etwas, das du hier in dieser Stadt niemals antreffen würdest.”

“Und dann?”

Er holte aus seiner Manteltasche einen Notizblock und einen Bleistift heraus. “Schreib es hier auf. Verrate mir nicht, was es ist. Und erwarte nicht zu viel. Es ist ein Experiment. Wenn es nicht funktioniert, gut. Das ist beim ersten Mal vielleicht die Regel. Wenn es aber funktioniert, wirst du verblüfft sein. Und dann wirst du ganz allein derjenige sein, der das verursacht hat.”

Andreas überlegte kurz, und dann fiel ihm das Abwegigste ein, was seiner Meinung nach überhaupt möglich war. Zumindest wäre er sehr überrascht, in dieser Stadt ein Exemplar zu sehen. Er schrieb auf den Notizblock nur ein einziges Wort: Eisbär. Dann riss er den Zettel ab und faltete ihn zusammen.

“So”, sagte Robert. “Jetzt schließ die Augen, halte den Zettel zusammengefaltet in der Hand und denke an nichts anderes als an das, was du auf den Zettel geschrieben hast.”

Andreas tat wie ihm geheißen, und schon sah er vor seinem geistigen Auge einen Eisbären durch die nächtliche Stadt stapfen. Sein weißes Fell glänzte im Licht der Straßenlaternen wie ein vergletscherter Alpenberg bei Vollmond. Die Passanten blieben stehen und starrten das Tier verdutzt an, doch der Bär schien sich daran nicht zu stören. Satt und zufrieden tappte er weiter, immer die Hauptstraße entlang.

“Du kannst deine Augen öffnen”, sagte Robert.
Andreas schlug die Augen auf. Genau im richtigen Moment, denn auf der Überholspur fuhren jetzt zwei schwarze Lieferwagen am Taxi vorbei. Sie trugen die Aufschrift “POLARBÄR - KÜHLELEMENTE” - und über dem Firmenlogo war ein riesiger Eisbär abgebildet, der die Hälfte des Lieferwagens bedeckte. In der Dunkelheit wirkte es fast, als würden zwei Eisbären durch die Stadt marschieren. Es waren zwar keine echten Eisbären, aber die hatte Andreas auch nicht wirklich erwartet. So war seine Verblüffung umso größer.

“Siehst du die Wagen?” fragte er Robert. “Die mit den Eisbären.” Und er reichte seinem alten Schulkameraden den Zettel.

Robert faltete ihn auf, betrachtete ihn und murmelte:
“Donnerwetter. Du scheinst ja richtig Talent zu haben.
Beim ersten Mal funktioniert es selten.”

“Vielleicht war es nur Zufall”, sagte Andreas.

“Unsinn”, entgegnete Robert. “So etwas wie Zufall gibt es nicht. Das ist die Grundregel, die Regel Nummer eins, die Konstante in meinem Weltbild - quasi das, was die Lichtgeschwindigkeit in der Relativitätstheorie ist. Es gibt keine Zufälle. Merk dir das. Wenn du das erst einmal verinnerlicht hast, wirst du merken, wie extrem seltsam diese Welt ist, weil du für jeden scheinbaren Zufall auf einmal eine Erklärung brauchst - und sei sie auch noch so abwegig. Es gibt keine Zufälle. Keinen einzigen.”

“Du glaubst also, ich habe dafür gesorgt, dass diese Eisbär-Wagen genau in diesem Moment vorbei gefahren sind?”

“So ist es.”

“Aber wie ist es möglich?”

“Du musst aufhören, die Welt so zu sehen, wie sie dir erscheint. Fang statt dessen an, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Erinnere dich an das merkwürdige Verhalten der Elektronen, an die Atome, die zum überwiegenden Teil aus nichts bestehen. Das alles hier ist eine Illusion, Andi. Sieh das endlich ein. Und in einer Illusion ist alles möglich. Wir müssen es nur zulassen.”

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Freitag, 14. Juni 2013
00100000 - Topp, die Wette gilt!
Er zündete sich eine Zigarette an. Rot glimmte das andere Ende, als Robert den Stängel in die Hand nahm und den Rauch in die kalte Abendluft hinaus blies.
Andreas beobachtete ihn skeptisch. Dann stellte er fest: “Du bist doch kein Superheld. Dir gelingt nicht alles.”

“Wie kommst du darauf?”

“Ich nehme nicht an, dass du freiwillig und aus Überzeugung rauchst. Die meisten, die rauchen, tun es, weil sie süchtig sind. Und wenn du süchtig bist, dann hast du es trotz deines positiven Denkens und all deiner Fähigkeiten nicht geschafft, dir das Rauchen abzugewöhnen.”

“Punkt für dich”, sagte Robert.

“Wie lang verkaufst du schon ein Erfolgsrezept, das nicht funktioniert?”

“Es funktioniert”, entgegnete Robert. “Ich bin wie Neo. Ich bin ein Herr dieser Welt. Ich kann wie in einem luziden Traum bestimmen, was als nächstes passiert.”

Andreas blickte ihn skeptisch an. Das war äußerst ungewöhnlich, denn er hasste es, seine Gesprächspartner anzuschauen. Das verminderte seine Aufmerksamkeit.

“Du glaubst mir nicht”, stellte Robert fest. “Also gut, also gut. Wie wäre es mit einer Wette?”

“Ich wette nicht.”

“Es geht nicht um Geld.”

“Um was dann?”

“Ich habe dir gesagt, dass ich dein Leben verändern kann - als Entschädigung dafür, dass ich es damals so zur Hölle gemacht habe.”

“Was willst du von mir?”

“Dass du mir verzeihst. Pass auf. Heute Nacht werde ich dich in ein Geheimnis einweihen, das nur wenige kennen. Hast du jemals vom Sundari-Projekt gehört?”

Andreas horchte auf. Wie konnte das nur sein? Erst heute hatte es Lucía ihm gegenüber erwähnt - mehr unbeabsichtigt, aber sie hatte es erwähnt. Lucía, die aussah wie Sundari und auch genauso redete wie sie.

“Du scheinst überrascht. Du hast schon davon gehört. Seltsam, dabei ist das streng geheim.”

“Mir sagt der Name Sundari was, aber ich kann ihn momentan nicht einordnen. Weißt du, woher der Begriff kommt?”

“Von Peter Mason. Genau wie der Name Lemuria auch.”

“Du arbeitest bei Lemuria?”

“Nicht direkt arbeiten. Ich bin Teilhaber. Mir gehören ein Drittel der Lemuria-Aktien. Genau wie Peter Mason. Das restliche Drittel befindet sich im Streubesitz. Also, das Sundari-Projekt ist wie gesagt streng geheim. Aber ich zeige es dir. Und warum? Weil du mich an Mason erinnerst - oder Mason erinnert mich an dich - je nachdem. Ist ja auch egal. Ich wollte mit dir eine Wette abschließen. Wenn du gewinnst, kannst du tun, was du willst. Du kannst abhauen, aber du kannst mir auch ein wenig Gesellschaft leisten und mit mir trinken gehen, aber ich werde dich nie wieder mit meinem Weltbild belästigen, wenn du es nicht willst. Wenn du gewinnst, und wenn es dein Wille ist, dann trennen sich hier unsere Wege. Für immer. Wenn du aber verlierst, bleibst du den ganzen Abend bei mir und hörst, was ich dir zu sagen habe, und ich verspreche dir: Es wird dich für das, was ich dir in der Schule angetan habe, mehr als entschädigen. Du kannst also nur gewinnen.”

Wieder blies er Rauch in die kalte Abendluft. “Und, was sagst du? Gehst du auf die Wette ein?”

“Wir haben bisher nur über den Wetteinsatz gesprochen, aber worauf willst du wetten?”

“Ich wette mit dir folgendes: Ich werde die Realität nur mit meiner Gedankenkraft beeinflussen, und du wirst Zeuge.”

“Klingt nach The Next Uri Geller.”

“Vergiss Uri Geller. Ich werde gleich von zehn rückwärts bis null zählen. Bei null kommt ein Taxi vorgefahren. Ich habe den Taxifahrer nie zuvor in meinem Leben gesehen. Aber er hat meine Bücher gelesen. Er ist ein Schriftsteller, der sich mit dem Taxifahren seinen Lebensunterhalt verdient. Er hat schon diverse Manuskripte an Verlage geschickt. Das alles wird er mir erzählen, ohne dass ich ihn danach frage. Er wird auch erzählen, dass die Verlage die Manuskripte allesamt abgelehnt haben - bis er meine Bücher gelesen hat. Plötzlich konnte er die Realität manipulieren, und schon nachdem er das erste Exposé weggeschickt hatte, wurde es angenommen. Er ist dabei, ein großer Schriftsteller zu werden, und das ist eine seiner letzten Taxifahrten.”

“Ich werde die Wette verlieren”, sagte Andreas. “Denn du hast vor, mich zu täuschen.”

“Nein, wirklich nicht. Kein Trick.”

“Beweis es mir.”

“Nenn mir eine Eigenschaft, die der Taxifahrer haben soll. Irgendeine.”

Andreas überlegte. Es sollte eine Eigenschaft sein, die ungewöhnlich, aber nicht zu abgefahren war, dass es unrealistisch würde. Vor allem aber eine Eigenschaft, auf die Robert nicht so leicht kommen würde, so dass eine Täuschung ausgeschlossen war.

“Ich kann mir eine x-beliebige Eigenschaft ausdenken, und du zauberst mir diesen Taxifahrer herbei - einfach nur durch die Macht der Gedanken?”

“Genauso ist es.”

“Also gut.”

Er ließ seine Blicke über die regennasse Fahrbahn schweifen, bis sie auf der gegenüberliegenden Straße an einem Werbeplakat hängen blieben. Es zeigte Homer Simpson, wie er gerade seine gelbe Pranke in die Höhe hob. Vier Finger. Vier Finger. Ja, das war nicht ganz alltäglich. Ein vierfingriger Taxifahrer - das war ungewöhnlich. Das würde ihn überzeugen. Er grinste.

“Der Taxifahrer hat an einer Hand nur vier Finger. Und er erklärt uns, ohne dass wir fragen, dass er den fünften Finger an einer Kreissäge verloren hat.”

“Gut”, sagte Robert. “Und, wetten wir?”

“Top, die Wette gilt.”

Robert ließ die Zigarette fallen und drückte sie mit seinem Schuh auf dem Straßenpflaster platt. Er zählte von zehn an rückwärts. Als er bei null angekommen war, kam ein schwarzer Mercedes um die Ecke gefahren - auf seinem Dach ein gelbes Taxi-Schild. Es hielt direkt neben Andreas und Robert. Robert stieg hinten ein und sagte: “Fahren Sie uns zum Carpe Noctem. Andreas folgte ihm auf die Rückbank. Dann begann die Fahrt durch die Nacht, und die Wette nahm ihren Lauf.

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Donnerstag, 13. Juni 2013
00011111 - Der Matrix-Code
Es wurde spät. Sehr, sehr spät. Schon waren beinahe die letzten Zuhörer gegangen, als sich Robert immer noch angeregt mit jemandem unterhielt, der einfach nicht verschwinden wollte. Andreas hatte bislang am Ausgang gewartet und beobachtet, wie sich Roberts Publikum nach und nach in alle Winde zerstreute. Irgendwie hatte er sich nicht getraut, sich Robert und dem anderen Mann, der wohl um die 60 Jahre alt sein mochte, zu nähern. Dieser Mann hatte weißes Haar, doch er wirkte noch sehr jung und agil, so dass ihn Andreas auf sechzig schätzte - aber oft lag er daneben. Also hatte das nicht viel zu sagen.

Langsam schlich er sich an die beiden heran - möglichst ohne aufzufallen und ohne Robert zu drängen. Dann überkam ihn plötzlich eine Niedergeschlagenheit, die ihn immer wieder überfiel, ihm fast den Atem raubte. Wie so häufig in derartigen Fällen fühlte er sich einsam und wertlos - und auch ein wenig überfordert von der Situation, die ihn erwartete. Dort stand ausgerechnet der Mann, dem er noch vor wenigen Tagen von allen Menschen am allerwenigsten hatte begegnen wollen. Und was das seltsame war: Er hatte seine Meinung geändert. Hauptsächlich aus Neugier. Aber da war noch etwas anders. Er fühlte sich magisch zu seinem alten Peiniger hingezogen. Nicht sexuell. Das nun wirklich nicht. Aber vielleicht hatte er Antworten auf seine Fragen, und davon hatte Andreas viele.

Plötzlich sah ihn Robert. “Andi!” rief er. “Ich hatte dich ganz vergessen. Es hat mich gefreut, Herr Dr. Krause, wir können über Ihren Ansatz gerne mal in Ruhe diskutieren. Ein alter Schulfreund wartet auf mich. Warten Sie, ich gebe Ihnen meine Karte. Dann können Sie mir mailen. Ich bin auch auf Lemuria. So, Herr Dr. Krause, ich darf Ihnen noch einen schönen Abend wünschen. Entschuldigen Sie, aber ich muss mich jetzt verabschieden. Auf wiedersehen und schönen Gruß an die werte Gattin.” Und zu Andreas gewandt: “Freut mich, dass du so lange auf mich gewartet hast. Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es ist bestimmt eine Menge seitdem passiert, und wir haben uns sicher viel zu erzählen. Komm mit, ich hol mal ganz schnell meinen Mantel, dann können wir los.”

“Robert, das ist nicht der Grund, warum ich hier bin”, sagte Andreas. “Ich will mit dir nicht über alte Zeiten reden und auch nicht, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen ist. Wir waren während der Schulzeit nie gute Freunde, falls du dich erinnerst.”

Robert hielt in der Bewegung inne und sah Andreas mit einem Blick an, den dieser nicht interpretieren konnte. “Ich weiß. Deswegen wollte ich mit dir reden. Es ist mir in den letzten Jahren klar geworden, was für ein Riesenarschloch ich damals war. Nicht nur dir gegenüber. Aber vor allem dir gegenüber. Ich meine, mich hat damals deine Art gestört, das, wie du warst. Dabei konntest du gar nichts dafür. Ich habe viele Leute kennen gelernt, die sind wie du. Und ich kann mich nur aufrichtig entschuldigen. Es tut mir leid, wie ich dich damals behandelt habe. Das ganze Mobbing und so. Und ich hoffe, du verzeihst mir.”

Andreas schwieg.

“Andi, bitte verzeih mir. Komm, wir gehen heute Abend aus und machen einen drauf.”

“So läuft das nicht. Du kannst nicht nach so vielen Jahren kommen und sagen: Es tut mir leid! Weißt du, was Mobbing mit einem Menschen anstellen kann? Weißt du das? Wie das ist, wenn man einsam ist, weil man sich nicht mehr traut, auf andere Menschen zuzugehen? Weil man sich für einen Versager hält?”

“Was hältst du davon, wenn ich dir sage, dass ich das heute Nacht wieder gutmachen werde?”

“Zehn Jahre in einer einzigen Nacht?”

“Eine Nacht, die dein Leben verändern wird.”

“Komm schon, du hast vielleicht ein paar Bestseller geschrieben, aber du bist nicht Gott.”

“Ich bin ein Teil von Gott. Und du auch. Wir alle. Alles, was du hier siehst. Gott ist allgegenwärtig. Er umgibt uns. Selbst hier ist er, in diesem Zimmer. Du siehst ihn, wenn du fernsiehst oder aus dem Fenster guckst. Du kannst ihn spüren, wenn du zur Arbeit gehst oder in die Kirche und wenn du deine Steuern zahlst.”

“Es wird auch nicht besser, wenn du Morpheus aus Matrix zitierst”, sagte Andreas.

“Ich bin Morpheus”, sagte Robert. “Und ich war einst Neo. Der Film wurde hergestellt, um die Menschheit auf etwas vorzubereiten, das wir die allgemeine Bewusstseinserweiterung nennen.”

“Bullshit”, entgegnete Andreas.

“Bullshit? Hast du noch nie das Gefühl gehabt, mit der Welt stimmt etwas nicht?”

“Manchmal denke ich, mit der Welt stimmt etwas nicht. Manchmal denke ich, mit mir stimmt etwas nicht.”

“Mag ja sein. Aber als ich das erste Mal von diesem Doppelspaltexperiment gehört habe, von diesen Elektronen, die sich nicht dabei beobachten lassen, wie sie sich seltsam verhalten, wurde mir klar, dass wir nach Strich und Faden verarscht werden.”

“Das hast du schon im Vortrag gesagt.”

“Ja, und ich habe angefangen zu lesen. Ich habe sehr viel gelesen. Ich habe mich mit Leuten getroffen, die so ähnlich tickten wie ich - einige von ihnen waren sehr wie du. Wir haben geforscht - mit Methoden, bei denen sich jedem Naturwissenschaftler die Zehnnägel nach oben stellen würden. Magie. Geisterbeschwörung. Automatisches Schreiben. Alles mögliche. Wir wollten wissen, was die Welt im Innersten zusammen hält - wir haben unsere Seelen an den Teufel verkauft - an den Teufel der Geheimwissenschaften. Wir sind nahe vor dem Durchbruch. Wir sind dabei, einen neuen Menschen zu schaffen. Wie Neo.”

“Klingt nach Scientology.”

“Vergiss Scientology. Die machen den Menschen unfrei. Wir machen ihn frei. Wer den Matrix-Code kennt, der kann sein Leben beeinflussen wie einen luziden Traum.”

Robert bewegte sich in Richtung Garderobe, um seinen Mantel zu holen, und Andreas folgte ihm.

“Ich glaube schon, dass jemand sein Leben beeinflussen kann - je nachdem, welche Einstellung er hat. Wer positiv denkt, wird viel positives erleben und vielleicht auch mehr Erfolg haben. Das ist eine Art Self Fulfilling Prophecy.”

“Ich habe seit Jahren keinen Korb mehr von einer Frau gekriegt”, sagte Robert.

“Ich auch nicht, aber das liegt daran, dass ich keine angebaggert habe.”

“Das habe ich durchaus”, entgegnete Robert. “In jeder Stadt. Es stimmt, was ich im Vortrag über die Parkplatzsuche gesagt habe. Ich finde überall einen Parkplatz. Ich habe mehrere Unternehmen gegründet. Alle erfolgreich. Ich habe an der Börse spekuliert. Immer habe ich gewonnen, nie verloren. Das geht weit über das hinaus, was man alleine mit positivem Denken erreichen kann.”

“Ich glaube dir nicht.”

Sie traten nach draußen auf die Straße. Es hatte zu regnen angefangen. Die Lichter der Autos und die Neonlichter an den Häusern spiegelten sich auf der nassen, schwarzen Fahrbahn. Wann immer ein Fahrzeug durch eine Pfütze fuhr, erzeugte es ein rauschendes Geräusch, das für Andreas zum Regen dazu gehörte.

“Wann hast du zum ersten Mal gemerkt, dass mit der Welt etwas nicht stimmt?” fragte Robert.

Andreas überlegte, ob er ihm von Lemuria erzählen sollte. Schon oft hatte er sich gefragt, welche der beiden Welten die richtige war, doch dann hatte er sich für diese entschieden. Lemuria war eine Scheinwelt, die er immer für etwas gehalten hatte, das er sich eingebildet hatte, aber momentan war er sich nicht mehr sicher.

“Mit mir stimmt etwas nicht”, sagte Andreas. “Ob es an der Welt liegt, weiß ich nicht.”

“Klar liegt es an der Welt. Es gibt ganz wenige Menschen wie du, die können das spüren. Das Problem ist nur, dass euch das so belastet, dass ihr ganz andere Probleme habt, die für euch vordergründig wichtiger sind.”

“Was meinst du?”

“Ich rede von Autisten.”

“Ich bin doch kein Autist.”

Robert schwieg. Dann zückte er sein Handy, um ein Taxi zu bestellen. Wenig später sagte er: “Komm, wir warten hier.”

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Mittwoch, 12. Juni 2013
00011110 - Wiedersehen
Endlich stand er ihm gegenüber. Endlich sah er in sein beschissenes Gesicht. Er schien ihn noch nicht einmal zu bemerken. Nahm automatisch Andreas’ Buch, zückte seinen Kugelschreiber, schlug die erste Seite auf. Dann sah er Andreas an. Doch er erkannte ihn immer noch nicht. Ein wenig zögerte er, bevor er fragte: “Auf welchen Namen?” Doch Andreas konnte Roberts Gesichtsausdruck nicht interpretieren. Was mochte ihm gerade durch den Kopf gehen? Andreas hatte keinen blassen Schimmer.

“Andreas Held”, sagte er.

Blitzschnell blickte Robert auf. Andreas schloss daraus, dass er sich erschrocken hatte. Robert schien sich unwohl zu fühlen. Er schien nervös zu sein, denn er spielte mit seinen Fingern, was er bisher nicht getan hatte. Und bildete sich nicht gerade Schweiß auf seiner Stirn? War er blasser als sonst? Andreas versuchte, auf alle Einzelheiten zu achten, um dann Rückschlüsse daraus ziehen zu können.

“Du bist es. Ich habe es gleich gedacht, als ich dich gesehen habe. Ich war mir nur nicht sicher. Hör mal, ich muss mit dir reden. Aber nicht hier. Nicht jetzt. Wenn das alles hier vorbei ist, lade ich dich in die Hotelbar in meinem Hotel ein. In Ordnung? Aber jetzt muss ich weiter signieren. Warte auf mich am Ausgang.”

Er signierte Andreas’ Buch nicht. Entweder hatte er es vor lauter Schreck vergessen, oder es war reine Boshaftigkeit - quasi als Fortsetzung von damals, als er ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte. Aber warum wollte er jetzt mit ihm reden? War es die längst überfällige Entschuldigung? Oder war es nur der Anfang eines neuen Streiches? Nein, er war erwachsen geworden. Sie alle waren erwachsen geworden. Das war eine andere Zeit. Nicht mehr 1984. Keine Schulhof-Spielchen mehr.

“Das war seltsam”, sagte Nova, nachdem Robert ihr Buch signiert hatte.

“Kommst du mit?” fragte Andreas.

Nova lächelte. “Sehr gern. Ich würde ihn auch gerne persönlich kennen lernen. Aber ich glaube, ihr beide habt viel zu bereden.”

“Ja, das stimmt. Aber morgen, hast du morgen Zeit?”
Sie nickte - immer noch lächelnd.

“Es ist schon spät. Ich muss nach Hause.”

“Wartet denn zu Hause jemand auf dich?”

“Nur meine Facebook-Freunde im Internet. Aber ich bin müde. Ruf mich an. Wir können uns morgen treffen.”

“Ich hoffe, nicht nur im Internet.”

Sie lachte. “Nein. Es gibt noch ein richtiges Leben.”
Andreas nickte traurig. Das war seit langem wieder das erste Mal, dass er das richtige Leben gespürt hatte - abgesehen von seiner Arbeit, aber auch die fand hauptsächlich im virtuellen Raum statt. Ansonsten gab es für ihn nur Lemuria. Eigentlich gab es NUR Lemuria. Lemuria war sein Leben - und jetzt vielleicht auch Nova.

“Also, Andreas. Man sieht sich.”

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Dienstag, 11. Juni 2013
00011101 - Nova
Andreas wusste später nicht mehr, was ihn dazu getrieben hatte, den Kontakt mit Robert zu suchen - und er hätte es wohl auch besser bleiben lassen sollen. Denn dann wäre ihm so einiges erspart geblieben. Allerdings hätte er dann wohl auch nicht Nova kennen gelernt. Und er hätte nie erfahren, was es mit dem Sundari-Projekt auf sich hat.

Nova war die blonde Frau, die während des Vortrags neben ihm gesessen hatte. Als er in der Schlange stand, um ein Buch von Robert Jonas zu erstehen, damit er es anschließend signieren lassen konnte - denn nur so war es ihm möglich, den Feind aus vergangenen Tagen wiederzusehen -, als er also dort stand und ungeduldig wartete, bis er an die Reihe kam, sprach sie ihn an. Wohlgemerkt: SIE sprach IHN an. Das war ungewöhnlich - noch viel ungewöhnlicher allein dadurch, dass sie auf ihn so schüchtern gewirkt hatte. Aber hätte sie ihn nicht angesprochen, so hätten sie sich niemals kennen gelernt. Denn Andreas sprach keine Frauen an. Grundsätzlich nicht. Da geriet er immer ins Stammeln und Stottern, er errötete und brachte keine ganzen Sätze zustande. Anders war es, wenn er angesprochen wurde. Dann hatte er normalerweise keine Probleme, lief aber Gefahr, die Frauenwelt mit seinen Fachvorträgen zu vergraulen. Doch diesmal war es anders.

“Und wie hat es dir gefallen?” fragte sie.

“Überhaupt nicht”, entgegnete Andreas wahrheitsgemäß.

“Und doch stehst du in der Schlange für seine Bücher.”

“Ich fand es interessant”, sagte Andreas. “Wenn ich auch einwenden muss, dass Robert Jonas’ Thesen jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren, so hat die Vorstellung, dass wir in einer Art Computerspiel leben, doch einen gewissen Reiz.”

“Ich bin Nova Zillwitz”, sagte sie.

“Andreas. Andreas Held.”

“Was machst du denn beruflich?”

“Ich bin IT-Fachmann und Programmierer.”

“Und was programmierst du?”

“Ich arbeite für Lemuria.”

Andreas las in Novas Gesichtsausdruck eine Mischung aus Überraschung und Respekt, war sich aber - wie immer - überhaupt nicht sicher und rechnete damit, dass es auch das komplette Gegenteil sein konnte.

“Für Lemuria? Ich habe da auch einen Account.”

“Den hat inzwischen jeder. Das ist der Trick bei der Sache.”

“Was denn für ein Trick?”

“Lemuria ist wie Google und Facebook zusammen. Wir sammeln Daten. Und die Leute rücken sie freiwillig heraus.”

“Und was macht ihr mit den Daten?”

“Kennst du die Psycho-Historiker?”

“Isaac Asimov?”

“Ja.”

“Eines meiner Lieblingsbücher.”

“Genau das versuchen wir auch. Die Geschichte der Menschheit, sofern es sich nicht um die Zufälle handelt, die durch Individuen ausgelöst werden, kann voraus berechnet werden. Wer erst einmal genügend Daten gesammelt hat, der kann errechnen, wann die nächste Wirtschaftskrise und wann die nächste Revolution kommt. Wir können aber auch errechnen, ob die Menschen in naher Zukunft eher Puma oder eher Adidas kaufen - ob sie verstärkt im McDonald’s essen gehen oder bei Alnatura einkaufen. Ob der nächste Hollywood-Blockbuster ein Hit wird oder ein Flop. Der einzelne Mensch interessiert uns wenig. Uns interessiert die Menschheit. Und die ist wie ein Schwarm. Wissenschaftler können berechnen, wie sich ein Schwarm bewegen wird. Aber sie können nicht berechnen, wie sich der einzelne Fisch bewegen wird. Unser Ziel ist es, allein mit Hilfe von Mathematik und Computern die Geschichte der Zukunft zu berechnen. Noch können wir das nicht, aber wir arbeiten daran. Das erste Ziel ist es, das gesamte Wissen, das es auf der Welt gibt, zu sammeln. Und damit meinen wir nicht nur das wissenschaftliche Wissen, sondern auch das Wissen über Menschen. Wer wen kennt, wer welche Freunde hat und wie diese Freunde miteinander vernetzt sind. Wer welche Vorlieben hat, wer welche Marken bevorzugt, wer welche Musik gerne hört. Alles. Aber diese Unmenge an Daten kann niemand auswerten. Dazu bedarf es einer Künstlichen Intelligenz. Wir entwerfen diese künstliche Intelligenz. Wir programmieren daran. Zunächst ist es einfach nur ein Chatbot oder eine Suchmaschinenoptimierung. Aber unsere Systeme sind lernfähig und werden intelligenter - und eines Tages werden sie in diesem Wust an Daten Verknüpfungen finden, die den Menschen entgehen - und dann werden sie das entdecken, was hinter dem alltäglichen Chaos steckt, das unser Leben ist. Sie werden entdecken, auf was wir zusteuern - das Paradies oder die Apokalypse.”

Er hatte es wieder getan. Er hatte wieder einer Frau, die ihn angesprochen hatte, einen ewig langen Monolog gehalten - über Dinge, die sicherlich nicht jeden interessierten. Doch Nova schien anders zu sein. Sie sagte nur: “Wow!”

“Und was machst du so beruflich?”

“Ich bin Lehrerin.”

“Lehrerin?”

“Ja. Latein und Informatik.”

“Und deine Schüler sind auch bei Lemuria?”

“Natürlich.”

“Und hast du sie geaddet?”

“Natürlich nicht. Würde ich nie tun. Sie würden meine Freundschaftsanträge auch nie bestätigen wollen. Welcher Schüler gibt schon gerne zu, mit seiner Lehrerin befreundet zu sein? Das ist absolut tabu.”

Ihr Gespräch wurde beendet, da sie jetzt am Verkaufsstand mit den Büchern angekommen war. Nach einigem Zögern entschied sich Andreas für Der Matrix-Code. Er nahm sich vor, das Buch auch zu lesen. Nova kaufte sich Jenseits der Realität und erklärte, die anderen Bücher hätte sie schon.

“Dann bist du ein Fan?” fragte er sie.

“Fan ist zu viel gesagt. Aber ich habe seine Seite geliked. Bei Facebook UND bei Lemuria.”

“Na toll, und ich habe über ihn gelästert. Die ganze Zeit.”

“War nicht ganz unberechtigt”, sagte sie geheimnisvoll. Wieder konnte er ihren Gesichtsausdruck nicht interpretieren, aber er nahm an, dass sie belustigt war. Jedenfalls war sie ihm nicht böse.

“Ich mag deinen Humor.” Das hatten bisher nicht viele über ihn gesagt.

Sie stellten sich an der anderen Schlange an, die sich vor Robert Jonas gebildet hatte, der immer noch fleißig signierte.

“Und was schreibt er so?”

“Tolle Sachen.” Sie lächelte. “Und vor allem: Es stimmt. Seine Bücher können dein Leben verändern.”

“Die Macht des positiven Denkens”, sagte Andreas.
“Ein ganz normaler psychologischer Trick. Wer an sich glaubt, dem gelingen viel mehr Dinge. Dadurch steigt das Selbstbewusstsein, und man wird auch attraktiver für das andere Geschlecht. Da braucht man nicht mit Quantentheorie oder mit irgendeinem Esoterik-Hokuspokus zu kommen.”

“Es ist mehr als Psychologie”, sagte Nova. “Er hat vollkommen recht mit den Parkplätzen. Ich finde immer einen.”

“Und auch jeden Mann, den du haben willst?”
Sie grinste. “Schon. Ich werde ihn aber auch los, wenn ich ihn nicht mehr will.”

“Das heißt, du bist ungebunden?”

“So sieht es aus. Ich genieße meine Freiheit. Du kannst mich gerne anrufen, wenn du willst.”

Sie tauschten Handy-Nummern aus, gaben sich aber auch gegenseitig ihre Lemuria-Namen und fingen dann wieder an, über Lemuria zu reden.

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Montag, 10. Juni 2013
00011100 - Im Tempelbezirk
“Das ist wirklich bedenklich”, sagte Sathi. “Das ist sogar viel schlimmer, als ich dachte.”

“Warum das?”

“Weil deine Welt deine Schwachstelle ist. Hier bist du ein Held, dort bist du ein Schwächling. Wenn sie dich dort erwischen, hast du gegen sie keine Chance.”

“Aber dann hätten sie mich töten können in der U-Bahn. Warum haben sie es nicht getan?”

“Keine Ahnung. War vielleicht nur ein Schuss vor den Bug.”

“Aber warum? Ich habe doch nichts getan.”

“Sie glauben, dass du der Schöpfer von Lemuria bist, dass du hier alles und uns alle erfunden hast - auch unsere Götter.”

“Aber wenn ich das alles erfunden habe, existiert es nur in meiner Phantasie, und das heißt, dass sie nicht in meine Welt kommen können. Sie können nicht wirklich werden.”

“Bist du dir da ganz sicher? Was weißt du schon von deiner Welt?”

Andreas dachte kurz an Robert Jens und seinen Vortrag, der wahrscheinlich noch am Laufen war, denn die Zeit in Lemuria verging anders als in seiner eigenen Welt.

Sie kamen an die Reihe. Der Wachsoldat trug einen eisernen Brustpanzer, ein rot-gelb-gestreiftes Oberteil und einen Helm, der mit einer roten Feder verziert war. Die Beine waren ebenfalls gepanzert. Ein wenig erinnerte er Andreas an die Schweizergarde - aber nur ein wenig.

“Guten Tag, die Ausweispapiere bitte!”

Andreas reichte ihm das Geleit- und Empfehlungsschreiben von Königin Sundari. Der Wächter staunte nicht schlecht und sah Andreas mit einem Blick an, den er als ehrfurchtsvoll interpretierte. Im Gegensatz zu seiner eigenen Welt hatte er hier durchaus empathische Fähigkeiten. Doch Staunen und Ehrfurcht waren nur von kurzer Dauer. Schnell fasste sich der Wachmann wieder und sagte: “Ihr werdet bereits erwartet. Wir haben den Auftrag, euch unverzüglich zur Bruderschaft zu bringen.”

Aus einer Seitentür, die in ein Wachgebäude zu führen schien, kam zwei weitere Wächter, deren Uniformierung sich nicht von der des ersten unterschied. Der Wachmann, der Andreas und seine Begleiter kontrolliert hatte, sagte: “Bringt sie unverzüglich zum Obersten Feuerpriester.”

“Zu Befehl”, sagten die beiden anderen wie aus einem Mund. Und zu Andreas, Sathi und Hatana: “Kommt mit!” Etwas ruppig und nicht gerade freundlich.
Als sie aus dem Tor heraustraten, fanden sie sich in einer Stadt in der Stadt wieder - doch das Innere des Tempelbezirks unterschied sich fundamental von dem, was draußen war. Keine engen Gassen, sondern weiträumige, ebene Promenaden aus Schotter prägten das Stadtbild. Alle, die sich hier aufhielten, sofern sie nicht zu den Wachen gehörte, trugen entweder das weiße Gewand der Pilger, das rote Gewand der Mönche oder das gelbe Gewand der Priester. Schwarze Gebäude, die allesamt niedriger als die Mauer des Tempelbezirks waren, säumten rechts und links die Promenade. An den Rändern waren Altäre aufgestellt, auf den Feuer brannten. Vor ihnen aber erhob sich das größte Feuer von allen, das auf einer Art Pyramide in einer riesigen goldenen Schale brannte. Davor aber erhob sich ein Gebäuderiegel, vor dem wiederum eine schwarze Mauer den Weg versperrte. Der Wächter hielt genau darauf zu.

Die Straßen waren voller Pilger - allesamt Männer im Alter zwischen 20 und 50 Jahren. Keine Kinder, keine Greise, keine Frauen - nur Männer. Sie alle trugen einen Pilgerstab und eine Pilgertasche. Manche waren zu Fuß unterwegs, andere auf Knien. Wieder andere maßen die gesamte Strecke mit ihrer Körperlänge ab, indem sie sich auf den Boden legten, wieder aufstanden, zwei Schritte gingen und sich dann wieder hinlegten. Einige waren zügig unterwegs, andere hatten Gebete murmelnd die Handflächen aneinander gelegt und den Kopf gesenkt. An jedem Altar stand ein Priester, der, die Kapuze seines Gewandes über den Kopf gezogen, lautstark Stellen aus den Heiligen Schriften von Lemuria rezitierte. Es roch nach Feuer und nach Weihrauch.

Endlich hatten sie den Eingang des Heiligtums erreicht. Der Wächter führte sie weiter in einen Hof. Dann durchquerten sie eine kleine Säulenhalle, bevor sie in einem weiteren Hof standen. Ein paar Treppen hinauf, dann ein paar Treppen hinunter, bis sie auf eine Galerie traten, auf der sie einen Hof umrundeten. Andreas sah hinab und erschauerte. Dort lagen Leichen. Die Toten waren kaum älter als zwanzig und trugen die Gewänder von Novizen. Allesamt abgeschlachtet - einige durch einen Stich in den Bauch, anderen hatte man den Kopf abgeschlagen, der einige Schritte weiter auf dem Steinfußboden lag - den Blick in weite Ferne gerichtet und leblos wie die Köpfe von Schaufensterpuppen. Kein Zweifel: Hier hatte ein Gemetzel stattgefunden, und das war noch nicht so lange her.

Doch Andreas schien der einzige zu sein, der merkte, dass etwas nicht stimmte. Die anderen gingen weiter, als wäre nichts gewesen, und die Wächter führten sie weiter in eine große Halle.

Über einem Altar prangte hier ein überlebensgroßes Bild des Gottes Aga. Es erinnerte Andreas nicht nur ein wenig an den Teufel: Der Gott des Feuers war schwarz, hatte Hörner auf dem Kopf, einen Pferdefuß und einen Schwanz. Doch im Gesicht hatte er menschliche und im Gegensatz zum Teufel geradezu freundliche Züge. Er lächelte, während um ihn herum die Flammen züngelten.

Doch unterhalb des Altars bot sich ein ähnliches Bild wie noch zuvor im Hof: Hunderte von Mönchen lagen dem Gott des Feuers zu Füßen - sie alle abgeschlachtet, als wäre eine Armee von Wahnsinnigen ins Allerheiligste des Feuertempels eingedrungen. Die Toten pflasterten wie regungslose Puppen den Boden. Blut sammelte sich an den Stellen, die noch nicht von Leichen bedeckten waren. Ein Bild des Grauens.

Jetzt blieb das, was geschehen war, auch seinen Begleitern nicht verborgen. “Na’e Vykati”, sagte Hatana, und seine Hand glitt zum Schwert.

“Ganz recht”, sagte eine Stimme.

Andreas sah auf. Unter dem Götzenbild stand ein Hohepriester in einer schwarzen Mönchskutte - die Kapuze so weit herunter gezogen, dass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Ein bisschen erinnerte er Andreas an den Imperator aus Star Wars.

“Wir sind die Na’e Vykati, und wir haben diesen Tempel besetzt.” Die Stimme kam Andreas bekannt vor.

Der Hohepriester zog die Kapuze vom Kopf, und dann erkannte er ihn. Dieser Mann war niemand anderes als Robert Jens.

“Hallo, Bahadura”, sagte er grinsend. “Oder soll ich besser Andreas sagen?”

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