Donnerstag, 31. Oktober 2013
Der Fluch der schwarzäugigen Kinder
Die letzte Nacht im Leben der Roswitha Feldberg war stürmisch. Und das ist wörtlich zu verstehen. Draußen peitschte der Regen gegen die Rollläden, die sie heruntergelassen hatte. Immer wieder durchzuckte grell ein Blitz die Nacht, der kurz darauf von einem Donner erwidert wurde. Manchmal schien es sogar, als würden Blitz und Donner gleichzeitig erscheinen - so wie in einem Hollywood-Film.

Roswitha hatte es sich in einem Sessel gemütlich gemacht. Ihr Mann war auf Geschäftsreise, und ihre Kinder - Gott weiß, wo sie sich gerade herum trieben. Es war Samstagabend - da konnten sie überall und nirgends sein. Zu Hause waren sie jedenfalls nicht. Und so hatte Roswitha beschlossen, etwas zu tun, was sie schon ewig nicht mehr getan hatte: ein Buch zu lesen, und da ihr gerade danach war, hatte sie sich aus dem Bücherregal ihres Sohnes ein Buch von Stephen King ausgeliehen. Gerade richtig, um eine Nacht wie diese zu begehen.

Das Gewitter draußen schien gar nicht mehr aufzuhören. Immer wieder trieb eine Bö den Regen peitschend gegen die Hauswand. Immer wieder wurde Roswithas Lesefluss jäh durch einen Donnerschlag unterbrochen. Auf einem kleinen Beistelltischchen stand ein Glas Rotwein. Daneben hatte sie sich eine Tüte Cracker bereitgelegt. Sie kuschelte sich in eine Decke ein und fing an zu lesen.
Ein angenehmer Schauder überkam sie, als sie die erste Kurzgeschichte anfing zu lesen. Vampire, Geister, Zombies. Sie tauchte hinab in eine Welt des Schreckens, während draußen die wirkliche Welt unterging. Immer lauter wurde der Donner. Jedesmal, wenn er grollte, zuckte sie zusammen, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.

Sie hatte gerade die erste Kurzgeschichte gelesen, als die Türklingel läutete. Wer konnte das sein? Roswitha erwartete niemanden, und auch sonst war es bei diesem Wetter eher unwahrscheinlich, dass sich jemand nach draußen verirrt hatte. Die meisten kuschelten sich zu Hause in ihren Betten ein, oder sie sahen fern oder sie machten es sich bei einem guten Buch gemütlich - so wie Roswitha.

Ein zweites Mal ging die Türklingel. Jetzt stand Roswitha auf, um nachzusehen. Sie durchquerte das Treppenhaus, blickte durch den Spion und erblickte zwei Kinder - ein Junge und ein Mädchen. Was taten sie so spät noch hier draußen? Es musste 22 Uhr schon vorbei sein. Seltsam.

Sie öffnete die Tür und sah, dass die beiden Kinder vom Regen komplett durchnässt waren. Aber abgesehen davon wirkten sie merkwürdig. Äußerst merkwürdig. Das Mädchen hatte ein blaues Kleidchen mit Blumenmuster an. Sie trug weiße Kniestrümpfe, die in schwarzen Schnallenschuhen steckten. Das war in den achtziger Jahren schon nicht mehr angesagt. Ebenso unmodern wie ihre Kleidung war auch ihre Frisur: Sie trug zwei geflochtene braune Zöpfe, die fast bis hinunter an die Gürtellinie reichten. Der Junge war nicht weniger seltsam angezogen: Er trug eine Lederhose, so wie sie kleine Jungs vielleicht noch auf Volksfesten in Bayern hatten - aber sie waren nicht in Bayern, und ein Volksfest war, soweit Roswitha wusste, auch nicht gerade in der Nähe. Auch er hatte weiße Kniestrümpfe und Schnallenschuhe. Die beiden schienen Geschwister zu sein. Zumindest nach dem, was der Junge sagte:

“Guten Abend. Würden Sie uns beide bitte helfen?” Er sagte es höflich, aber wie er es sagte, schien seinem Alter nicht angemessen. Roswitha fragte sich, welcher Sekte die beiden wohl angehörten. Beinahe hätte sie gesagt, dass sie keine Lust hätte, über Gott zu reden, aber wie Zeugen Jehovas sahen die Kinder nun wirklich nicht aus. Aber was waren sie dann? Mit den beiden stimmte etwas nicht. Ganz und gar nicht. Aber was?

“Wir haben uns verirrt”, fuhr der Junge fort. “Wir wissen nicht, wie wir nach Hause kommen, und wir würden gerne unsere Mutter anrufen. Ich möchte Sie bitten, uns reinzulassen, damit wir sie verständigen können.”

Roswitha wollte schon fragen, ob die beiden denn kein Mobiltelefon hätten, aber so wie die aussahen, konnte man ja froh sein, wenn sie zu Hause überhaupt ein Telefon hatten. Die beiden waren so zwanzigstes Jahrhundert, dass es richtig schräg anmutete.

Sie zögerte. Irgendwie wirkten die beiden unheimlich. Falsch wie eine schlechte Tarnung. Vielleicht sogar gruselig. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass sie erst jetzt ihre Augen bemerkte. Schwarz, undurchdringlich. Komplett schwarz. Selbst das, was bei gewöhnlichen Menschen weiß war, war bei ihnen schwarz.

Roswitha spürte den Drang, die Tür den Kindern vor der Nase zuzuknallen, aber sie taten ihr Leid - besonders bei diesem Wetter. Und der Junge setzte noch ein “Bitte, bitte, lassen Sie uns rein!” hinzu.
Am Ende siegte ihr Mitleid gegen ihre Angst, und sie murmelte: “Also, gut. Kommt rein.”
Die beiden Kinder betraten die Wohnung, und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Zu dritt gingen sie ins Treppenhaus, und während das Mädchen über die Treppe nach oben verschwand, blieb der Junge stehen und starrte Roswitha an.

Dann fing er an zu sprechen. Doch seine Stimme klang auf einmal nicht mehr wie die eines Kindes. Sie war jetzt tief - viel tiefer als ein Mensch je sprechen konnte. Ungefähr so, wie Dämonen in Horrorfilmen sprachen. “Wir sind gekommen, um dich zu holen”, sagte er.

Er entblößte rasiermesserscharfe, spitze Zähne, seine Fingernägel verwandelten sich in Krallen, und in seinen schwarzen Augen loderte das Feuer der Hölle. Mit einem Gebrüll, das Roswitha durch Mark und Bein ging, stürzte er sich auf sie.


2.

Der Schaumainkai gehörte sicherlich zu den imposantesten Orten, die Frankfurt zu bieten hatte. Zumindest fand das Sabine. Die Banken, die sich gegenseitig an Höhe zu übertrumpfen schienen und der Stadt ein geradezu amerikanisches Aussehen verliehen. Die Deutsche Bank, die Commerzbank, der Messeturm, der Main-Tower, davor der Fluss, wo sich gerade ein Frachtschiff gemächlich in Richtung Rhein bewegte.

Während rechts aber die Wirtschaft zu Hause war, hatte sich links die Kultur niedergelassen. Kommunikationsmuseum, Filmmuseum, Museum Alter Plastik - kaum etwas, was hier nicht sein eigenes Museum hatte. Sabines Ziel befand sich zwischen dem Kriminalmuseum und dem Museum für Volkskunde. Es war kein Museum, denn Sabine war nicht zu ihrem Vergnügen hier - und auch nicht, um sich zu bilden. Sie war auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch beim PED, dem Paranormalen Ermittlungsdienst.
Es hieß, beim PED würden Medien ausgebildet, und ein Medium wollte sie werden. In ihren bisher 23 Jahren hatte sie schon viel Seltsames erlebt. Vor allem aber besaß sie eine Gabe, die nur wenige hatten: Sie konnte mit Geistern reden - und zwar ganz normal wie mit Menschen auch. Geister waren immer um sie herum. Sie waren überall. Doch die meisten Menschen sahen sie nicht.

Sabine dachte zurück an den Tod ihrer Großmutter. Wie oft hatte sie sie danach noch gesehen? Das erste Mal, als sie im Sarg lag und gleichzeitig auch in der Aussegnungshalle stand. Das hatte sie verwirrt. Es war das erste Mal, dass sie einen Geist gesehen hatte. Damals war sie vier Jahre alt gewesen. Seitdem hatte sie schon so viele gesehen, dass sie aufgehört hatte zu zählen.

Der PED war in einer ziemlich heruntergekommenen Villa untergebracht. Im Garten spross das Unkraut derart, dass er sich in einen kleinen Dschungel verwandelt hatte, der auch das Vogelbad überwucherte. Nur der Weg zum Eingang wurde vom Brombeergestrüpp konsequent freigehalten. Am Balkon und an den Fensterläden bröckelte bereits der Putz ab. Es schien, als würde es in diesem Haus selber spuken, als würden hinter den Fenstern die toten Augen böser Dämonen lauern.

Sabine betrat gerade das Grundstück, als sie vor der Eingangstür einen jungen Mann bemerkte. Schwer, sein Alter zu schätzen. Wahrscheinlich dreißig. Vielleicht etwas jünger, vielleicht älter. Die Hälfte seines Gesichts war von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt. Der Rest war bleich - und das, obwohl es Sommer war und er zumindest ein kleines bisschen Bräune haben müsste. Seine Haare waren rabenschwarz - wahrscheinlich gefärbt. Er trug einen langen, schwarzen Ledermantel. Er sah fast so aus wie Keanu Reaves in Matrix - aber eben nur fast.
“Guten Morgen”, sagte der junge Mann. Es klang nicht höflich, sondern eher wie ein Roboter. Als wäre er der Terminator persönlich. “Kann ich Ihnen helfen?”

“Mein Name ist Sabine Himmelreich”, sagte Sabine. “Ich habe einen Termin mit Herrn Erwin Becker.”

“Gut, dann kommen Sie mit.”

Innen roch es etwas seltsam - so wie alte Gebäude eben riechen. Ein bisschen Moder, ein bisschen Staub, ein bisschen Bohnerwachs. So genau konnte das Sabine nicht beurteilen. Die enge Wendeltreppe knarzte bei jedem Schritt, den sie gingen. Einen Aufzug gab es nicht.

Im ersten Stock war das “Büro für Umweltschutz” untergebracht. Im zweiten Stock irgendein IT-Startup-Unternehmen. Der PED befand sich im dritten Stock. Die Einrichtung hatte ein wenig die Patina vergangener Jahrzehnte. Bis auf die Computer war alles alt - sehr alt. Die Möbel hatten vermutlich im vergangenen Jahrhundert in irgendeinem Amt gestanden. Die Schreibtische und Schränke waren aus billigen Pressspanplatten. Gleich im Flur war das Büro der Sekretärin untergebracht. Der junge Mann stellte sie Sabine als Regina Zillwitz vor - eine Halbtagskraft, die sich Nachmittags zu Hause um die Kinder kümmerte.

Ansonsten zählte Sabine nur fünf Türen, die vom Flur aus zugänglich waren - einschließlich der Toiletten. Der junge Mann nahm gleich die erste Tür rechts, und sie kamen in einen recht großen Raum, der von einem großen Tisch, der in der Mitte stand, fast schon ausgefüllt war. Rings um den Tisch standen notdürftig zusammengezimmerte Regale, in denen Bücher standen - vom “Handbuch der Parapsychologie” bis hin zu wissenschaftlichen Monographien, zum Beispiel “Der Werwolf im 21. Jahrhundert” oder “Kommunikation mit dem Jenseits”.

“Bitte nehmen Sie Platz”, sagte der junge Mann. “Ich selbst bin Erwin Becker.”

“Sehr erfreut”, sagte Sabine. Sie hatte lange, blonde Haare, die sie sich zu einem Knoten hochgesteckt hatte. Ihre Augen waren blau. Das Gesicht hatte die weichen Züge einer Puppe. Sie trug eine schwarze Jeans und eine weiße Bluse.

“Wir haben hier nicht viele Mitarbeiter”, begann Erwin Becker. “Wir sind kein Forschungsinstitut. Wir sind nicht an der Universität angeschlossen, und wir haben auch nichts mit der Regierung zu tun. Das ganze Unternehmen ist privat, und dementsprechend haben wir auch nicht viel Geld. Das hängt immer von der Auftragslage ab, und Sie können sich vorstellen: die ist mau.”

Sabine nickte schüchtern.

“Also, der Paranormale Ermittlungsdienst ist eigentlich nichts anderes als ein Privatdetektivbüro. Wir übernehmen drei verschiedene Arten von Fällen: Erstens: Wir ermitteln in paranormalen Fällen mit konventionellen Methoden. Wenn also jemand ein Haus hat, in dem es spukt oder wenn bei jemandem ein UFO im Garten landet, dann kommen wir zum Einsatz. Unsere erste Aufgabe ist es, nach einer rationalen Erklärung zu suchen - und in 95 Prozent der Fälle finden wir auch eine. Zweitens: Wir ermitteln in konventionellen Fällen mit paranormalen Methoden. Zum Beispiel in ungeklärten Mordfällen befragen wir den Geist des Ermordeten oder wir arbeiten mit Hellsehern zusammen - oder auch wenn jemand verschwunden ist, lassen sich paranormale Methoden anwenden. Funktioniert auch meistens. Und drittens, und das sind die seltensten, wenn auch die spannendsten Fälle: Wir ermitteln in paranormalen Fällen mit paranormalen Methoden. Klar soweit?”

Sabine nickte.

“Unser Geld bekommen wir von unseren Auftraggebern”, sagte Erwin. “Außerdem haben wir ein paar Gönner, die in unser Unternehmen investieren und so was wie stille Teilhaber sind, die das aber nicht an die große Glocke hängen. Meistens Unternehmer, denen wir mal geholfen haben. Das reicht aber nicht für viele Angestellte. Tenebrina und ich, wir sind die Chefs. Tenebrina heißt eigentlich Judith Müller, sie hat sich aber einen Künstlernamen zugelegt, unter dem sie arbeitet. Sie ist nämlich ein Medium. Sie behauptet, sie wäre ein Halbdämon. Aber sie ist die einzige, die daran glaubt.”

Sabine lächelte.

“Frau Zillwitz kennst du schon”, fuhr Erwin fort. “Wir beschäftigen noch eine Putzfrau, und dann haben wir noch einige Freie Mitarbeiter, die aber meist unterwegs und auf ganz Deutschland verteilt sind. Viele von ihnen sind gewöhnliche Privatdetektive, die aber von uns ab und zu spezielle Aufträge bekommen und uns zuarbeiten. So haben wir ein Netzwerk über ganz Deutschland aufgebaut, und das brauchen wir auch, denn wir sind die einzigen dieser Art bundesweit. Und noch was, bevor Sie anfangen zu fragen: Ich bin kein Medium, und ich habe nicht die geringsten Fähigkeiten in diese Richtung. Ich lebe mit dem Asperger-Syndrom, und falls Sie Probleme damit haben, sollten Sie sich woanders einen Job suchen. Wenn Sie wissen, was das ist: Gut. Wenn nicht: Googeln Sie, oder Sie werden es nach und nach erfahren. Nur so viel: Das ist der Grund, warum ich eine Sonnenbrille trage und sie auch nicht abnehme. Das Sonnenlicht ist für mich einfach zu grell.”

“Ich weiß, was das ist”, sagte Sabine. “Und ich habe kein Problem damit.”

Erwin versuchte zu lächeln, aber es wirkte etwas gequält. “Also gut. Nun zu Ihnen, Frau Himmelreich. Warum möchten Sie hier arbeiten?”

Sie erzählte von ihren Fähigkeiten, von der Begegnung mit ihrer Oma und von so manch anderem Geist, der ihr im Verlaufe des Lebens begegnet war, und am Ende sagte sie: “Deswegen will ich mich zum Medium ausbilden lassen.”

“Schön”, sagte Erwin. “Was wissen Sie über das Jenseits?”

“Es gibt verschiedene Ebenen”, antwortete Sabine. “Den erdnahen Bereich oder auch Geistergürtel genannt, die verschiedenen Astralebenen, die Lichtebenen und das Haus, welches die höchste Ebene ist. Nach dem Tod landen die meisten Seelen auf den Astralebenen - außer denjenigen, die das Licht nicht sehen. Die kommen in den Geistergürtel...”

“Sehr gut”, unterbrach Erwin. “Was wissen Sie über UFOs?”

“UFO bedeutet Unidentifiziertes Fliegendes Objekt. Zunächst ist alles, was fliegt und nicht identifiziert werden kann, ein UFO. Die meisten UFOs werden irgendwann identifiziert und sind dann keine UFOs mehr. Nur gibt es eben auch UFOs, für die es bislang keine gängige Erklärung gibt.”

“Sehr gut”, sagte Erwin. “Vampire.”

“Der Vampirismus ist zurückzuführen auf einen genetischen Defekt, bei dem ein bestimmtes Enzym im Blut fehlt. Das gleiche Enzym ist oft mit einer Lichtempfindlichkeit und einer Selenunverträglichkeit gekoppelt. Das heißt, derjenige verträgt kein Knoblauch. Durch die moderne Medizin ist dieser Defekt heilbar. In alten Zeiten haben sich die Menschen aber dadurch geholfen, indem sie das Blut anderer Menschen getrunken haben.”

“Das stimmt”, sagte Erwin. “Und was wissen Sie über Zombies?”

“Eine Zombie-Apokalypse ist ein bislang ausgebliebenes, aber denkbares Ereignis, bei dem ein Krankheitserreger, zum Beispiel ein Pilz, das Gehirn eines Menschen derart beeinflusst, dass der Mensch völlig willenlos andere Menschen brutal angreift und den Krankheitserreger überträgt. Derartige Krankheitserreger gibt es bereits im Tierreich, zum Beispiel Ophiocordyceps unilateralis. Der Pilz wächst im Gehirn von Ameisen und kann deren Verhalten steuern.”

“Ich bin beeindruckt”, sagte Erwin. “Sie kennen sich richtig aus. Ich würde gerne wissen, was Sie vorher gemacht haben, bevor Sie bei uns angefangen...”

In diesem Moment klingelte das Telefon, das in der Mitte des Besprechungstischs aufgestellt war. Erwin nahm ab.

“Ja, hallo? - Es geht grad nicht. Bin gerade in einem Bewerbungsgespräch. - Ja, es ist immer dringend. - Ja, ich komme.” Dann sagte er zu Sabine: “Tut mir Leid, aber Sie müssen sich einen Moment gedulden. Bin gleich wieder da.”


3.

“Bitte sagen Sie, dass das nicht Ihr Ernst ist.”
Regina sah ihn verdutzt an.

“Schwarzäugige Kinder, verdammt noch mal! Demnächst ruft noch jemand bei uns an und behauptet, er hätte Slenderman gesehen! Das ist ein Internet-Hoax. Nichts weiter.”

“Aber der Mann am Telefon hat gesagt, er hätte welche gesehen”, sagte Regina. “Und er klang ziemlich beängstigt und aufgelöst.”

“Es gibt schwarze Kontaktlinsen”, sagte Erwin. “Filmemacher verwenden die. Die kann jeder kaufen. Gut, sie sind etwas teuer, aber was soll’s! Es gibt bisher keinen einzigen Beweis - noch nicht einmal Indizien. Nur ein paar dubiose Berichte im Internet. Das ist alles. Auch Tenebrina weiß nichts davon. Und die kennt sich aus bei allem, was mit Dämonen zu tun hat.”

“Bitte, Erwin, der Mann hängt in der Warteschleife. Rede mit ihm. Beruhige ihn. Der Arme ist ganz durch den Wind.

“Als ob ausgerechnet ich ein Meister darin bin, jemanden zu beruhigen. Aber was soll’s. Tenebrina ist zur Zeit sowieso nicht da.”

Er schnappte sich den Hörer, und Regina holte das Gespräch wieder aus der Warteschleife zurück. “Erwin Becker, Paranormaler Ermittlungsdienst”, sagte er.

“Und hier Hans Schröder”, ertönte es vom anderen Ende der Leitung. “Hören Sie. Da waren gestern Abend zwei Kinder da. Mit schwarzen Augen!”

“Schwarze Augen sind nichts ungewöhnliches”, sagte Erwin Becker.

“Aber die Augen waren komplett schwarz. Auch das, was sonst weiß ist. Und sie sahen merkwürdig aus. Wie aus dem letzten Jahrhundert. Und sie haben auch merkwürdig gesprochen. Ich habe sie nicht reingelassen, aber dann habe ich von ihnen geträumt. Bitte, Sie müssen mir helfen. Ich habe Angst.”

“Angst vor ein paar Kindern?”

“Das waren keine Kinder. Das war was anderes. Etwas böses.”

“Hören Sie, Herr Schröder: Da hat sich vermutlich jemand einen Scherz mit Ihnen erlaubt. Es gibt schwarze Kontaktlinsen. Die kann man kaufen - hauptsächlich für Filmproduktionen. Irgend jemand muss Sie verkohlt haben. Nehmen Sie sich das bitte nicht so zu Herzen. Das waren wahrscheinlich Schauspieler.”

“Warum sollte jemand so etwas tun?” fragte Herr Schröder.

“Keine Ahnung. Menschen kommen manchmal auf die seltsamsten Ideen. Sie glauben nicht, was ich schon alles in meinem Berufsleben erlebt habe - und das ganz ohne Geister und Hokuspokus. Wir können aber auch gerne mal bei Ihnen vorbeikommen und Nachforschungen anstellen. Das kostet dann aber allerdings eine Kleinigkeit. Hier aber mein Rat, und den gibt es umsonst: Lassen Sie sich von denen nicht ins Bockshorn jagen. Und wenn die noch mal kommen: Lassen Sie sie auf keinen Fall in die Wohnung, falls doch etwas an der Sache dran ist. Sicher ist sicher. Wenn Sie die nicht reinlassen, können die Ihnen nichts anhaben.”

“Ich will, dass Sie das untersuchen”, sagte Schröder. “Ich will wissen, was dahinter steckt. Vielleicht sind es doch nur ein paar Deppen. Aber was, wenn nicht?”


4.

Als Tenebrina die Räume des Paranormalen Ermittlungsdienstes betrat, war Sabine schon weg. “Und, wie war die Bewerberin?” fragte Tenebrina anstatt einer Begrüßung.

“Sehr, sehr gut”, sagte Erwin. “Die wusste echt mal Bescheid. Nicht so wie die anderen Bewerberinnen. Ich denke, wir nehmen sie.”

“Schön. Sonst was neues?”

“Was weißt du über schwarzäugige Kinder?”

“Du meinst Black Eyed Kids?”

“Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir in Deutschland die deutschsprachige Bezeichnung nehmen.”

“Das ist egal”, sagte Tenebrina. “Das ist eh nur ein Internet-Hoax.”

“Naja, wir haben jemanden, der behauptet, solchen Kindern begegnet zu sein, und er will, dass wir Nachforschungen anstellen.”

“Selbst wenn es diese Bengel wirklich gibt”, sagte Tenebrina. “Die kreuzen irgendwann irgendwo auf, verschwinden wieder, und keiner weiß, wann und wo sie sich das nächste Mal zeigen. Wie sollen wir da je Nachforschungen anstellen? Die kriegst du nicht. Nicht ohne irgendeinen Anhaltspunkt.”

“Diesen Anhaltspunkt könnten wir jetzt haben”, sagte Erwin Becker. “Er heißt Hans Schröder, und er behauptet, dass die Drecksbiester bei ihm geklingelt haben.”

“Aha”, sagte Tenebrina. “Sicher, dass der nicht geisteskrank ist?”

“Zumindest würde er uns einen Auftrag geben.”

“Immerhin meint er es ernst.”

“Also, was weißt du über schwarzäugige Kinder?”

“Damit habe ich mich bis jetzt noch nicht befasst.”

“Was redet man im Jenseits darüber?”

“Gar nichts.”

“Gar nichts?”

“Wie gesagt, ich habe mich bis jetzt noch nicht damit befasst. Und gehört habe ich auch nichts. Ich weiß darüber absolut gar nichts.”

“Hm, vielleicht hätte ich die Bewerberin fragen sollen. Vielleicht hätte die was gewusst.”

“Hey, wir sind der Paranormale Ermittlungsdienst. Wir müssten doch darüber Bescheid wissen. Immerhin sind wir die Experten.”

“Es hilft alles nichts”, sagte Erwin Becker. “Du weißt nichts, ich weiß nichts. Wir müssen recherchieren.”


5.

Recherchieren hieß für Erwin Becker immer: nach nebenan gehen. Wenn die Internet- und Literatur-Recherche zu keinem Ergebnis kam, war das Museum für Volkskunde immer die erste Adresse. Dort kannte man ihn, und dort hatte man Zugang zu alten Schriften, die längst vergriffen waren. Verborgenes Wissen über alte Mythen und Legenden schlummerte in der Bibliothek und im Archiv des Museums - tief im Keller, wo kein Besucher Zugang hatte. In engen, dunklen Gängen lagerten uralte Folianten, von denen viele nicht einmal mehr Kenntnis haben, in endlosen Regalen. Und zwischen all den alten Schriften arbeitete der Wächter dieses dunklen Reiches, ein Mann, der noch aus einem fernen Jahrhundert zu kommen schien, Georg Schwarz. Er war nicht mehr der jüngste, stand kurz vor dem Ruhestand - oder er war eigentlich schon darüber hinaus, blieb aber im Museum, weil es für ihn nichts anderes im Leben gab, als sich in den Schriften längst vergangener Zeiten zu vergraben. Er bewachte nicht nur das Archiv, er lebte es. Er kannte die Bibliothek wie seine Westentasche, und niemand hatte es bisher gewagt, ihn zu ersetzen oder auch nur einen Computer zu seiner Unterstützung einzuführen.

Niemand wusste sein richtiges Alter. Einige Leute sagten, er sei schon alt gewesen, als das Museum erbaut wurde, und er selber äußerte sich nicht dazu. Wahrscheinlich wusste er es noch nicht einmal selbst. Die Haare waren fast schon alle ausgegangen, in seinem Gesicht breiteten sich Altersflecken aus, und er brauchte eine dicke Brille, um in den Büchern lesen zu können. Aber wenn er in seinem Element war, war er körperlich und geistig noch fit, turnte im Archiv herum wie ein junger Gott und wusste genau, wo was zu finden war.

Zum “alten Georg”, wie er beim PED genannt wurde, ging jetzt Erwin Becker, und wenig später fand er sich im dunklen Gewölbe unter dem Museum wieder.

“Hallo, Georg”, sagte er.

“Hallo, Erwin, wie geht es?”

“Ach, das übliche. Manchmal wird mir einfach alles zu viel. Und dir?”

“Geht mir genauso. Man ist nicht mehr der jüngste.” Er gackerte. “Also, was führt dich zu mir?”

“Ich nehme nicht an, dass du mir zu schwarzäugigen Kindern oder Black Eyed Kids was sagen kannst.”

Der alte Georg starrte ihn verdutzt an. “Was ist denn das? Etwa irgendein neumodisches Zeug?”

Erwin erklärte es ihm, doch Georg schüttelte den Kopf.
“Keine Kultur der Erde hatte je einen derartigen Mythos, es sei denn...” Er überlegte kurz. Dann verschwand er zwischen zwei Regalen.

Erwin ließ sein Blick über die Buchrücken einiger dicker Folianten schweifen, doch er wurde aus ihnen nicht schlau. Also setzte er sich an einen Leseplatz und wartete. Es dauerte lange, bis der alte Georg zurückkam und ein Buch aufschlug. Ein alter Druck aus dem 18. Jahrhundert.

“So, das Buch ist aus der Habsburgermonarchie”, sagte der alte Georg. “Genauer gesagt, aus Siebenbürgen. Ihr kennt dieses Land auch als Transsilvanien.” Er schlug die Seite auf, die er mit seinem Finger markiert hatte, und legte das Buch vor Erwin auf den Tisch. Die Illustration war nicht zu übersehen: Ein Kind mit komplett schwarzen Augen stand vor einer Stadt, die im Hintergrund zu sehen war.

“Das ist Sighisoara, gegründet als Castrum Sex - die sechste der sieben Burgen Siebenbürgens. Die Stadt wurde wohl auf Anweisung eines schwarzäugigen Kindes gegründet, sagt zumindest eine Gründungslegende. Übrigens soll hier Fürst Vlad Tepes geboren worden sein - ihr kennt ihn als Dracula.”

“Danke, mir ist die historische Gestalt des Vlad Tepes hinreichend bekannt, und mir ist auch bekannt, dass erst Bram Stoker ihn mit Vampirismus in Zusammenhang brachte.”

“Ja, klar. Andererseits hast du gesagt, dass diese Kinder - oder was auch immer die sind - um Einlass bitten. Gibt es je einen Bericht von jemandem, der sie rein gelassen hat?”

“Nein, mir ist keiner bekannt.”

“Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder es lässt sie niemand rein - und dann stellt sich wirklich die Frage, warum die - vorausgesetzt, es handelt sich um übernatürliche Wesen - so etwas überhaupt tun, obwohl sie immer erfolglos sind. Oder - was viel wahrscheinlicher, aber auch beängstigender ist: Keiner von denen, die sie je rein gelassen haben, hat es überlebt.”

“Danke, so weit war ich auch schon.”

“Aber die Tatsache, dass sie harmlos sind, wenn man sie nicht rein lässt, weist doch auf Vampire hin. Die brauchen auch eine Einladung.”

“Dämonen oder böse Geister sind es jedenfalls nicht”, sagte Erwin. “Die geben sich mit so etwas wie Einladungen nicht ab. Sie tauchen urplötzlich in deiner Wohnung auf.”

“Warte mal. Ich glaube, da fällt mir noch was ein”, sagte der alte Georg, und wieder verschwand er zwischen den Regalen.

Während er wartete, fragte sich Erwin, was er wohl tun würde, wenn die Schwarzäugigen Kinder bei ihm klingelten. Wenn Tenebrina dabei wäre, wäre es vielleicht kein Problem. Sie wusste, wie man mit übernatürlichen Wesen umging, und vielleicht konnte sie ihnen das eine oder andere entlocken. Aber er allein. Anders als die meisten Menschen war er nicht empathisch und hatte deshalb auch kein Gespür für Gefahr oder dafür, wenn etwas merkwürdig war, wenn sich jemand zum Beispiel merkwürdig verhielt. Mangelnde Empathie durch Nachdenken ausgleichen und sich dann verhalten, als wäre er so wie die anderen, das konnte er. Aber es verbrauchte viel Energie, und davon abgesehen war er dann trotzdem nicht in der Lage, die Feinheiten des menschlichen Empfindens zu ergründen. Ihm fehlte einfach der Instinkt, das Bauchgefühl - und das war, was ihn an dieser Geschichte am meisten schockierte: der Gedanke, vielleicht selber in die Falle zu gehen, sollten diese Biester mal bei ihm klingeln. Aber vielleicht war genau das die einzige Möglichkeit herauszufinden, was wirklich dahinter steckte.

Nach einer fast endlos erscheinenden Zeit kam der alte Georg wieder - diesmal mit gleich drei Büchern.

“Dieses hier ist aus Japan”, sagte er und schlug eine Seite auf. “Ich weiß nicht genau, worum es geht. Ich kann die Schriftzeichen nicht lesen. Aber schau mal.”

Ein wenig sah das Mädchen, das hier abgebildet war, aus wie Samira aus Ring. Lange, schwarze Haare, die das Gesicht fast verdeckten. Ein langes, weißes Kleid. Doch die Augen waren komplett schwarz. Das Bild wirkte unheimlich, und Erwin hatte kein gutes Gefühl dabei. Wahrscheinlich waren die Gefühle, die diese Kinder auslösten, so intensiv, dass selbst er sie wahrnahm. Es war fast, als würde das Bild ihn anstarren, als wäre es etwas böses. Dabei war es nur ein Bild.

Der alte Georg schlug das Buch zu. “Das reicht”, sagte er. “Wie gesagt, ich verstehe den Text nicht, aber es gibt in der japanischen Mythologie die so genannten Onryo. Das sind Rachegeister, die oft als schwarzäugige Kinder dargestellt werden. Sie sind überaus böse, und noch heute glauben japanische Jugendliche, dass sie wirklich existieren.”

Konnten die schwarzäugigen Kinder also Onryo sein? Möglich, aber kein Onryo, von dem Erwin wusste, hatte je auf eine Einladung gewartet. Da waren sie den gewöhnlichen Geistern ähnlich. Sie tauchten auf, wann es ihnen passte.

Der alte Georg schlug ein weiteres Buch auf. Eine furchteinflößende Gestalt mit Fledermausflügeln und einem Gesicht, das eher an einen Monster als an einen Menschen erinnerte: Rasiermesserscharfe Zähne und komplett schwarze Augen.

“Ein Sukkubus”, erklärte Georg. “Ein weiblicher Dämon, der es auf Sex mit Männern abgesehen hat. Die männliche Variante dazu bezeichnet man als Inkubus. Sie können sich auch als Menschen tarnen. Dann sind sie aber an ihren schwarzen Augen erkennbar.”

“Interessant”, sagte Erwin. “Aber unpassend.”
“Die Dämonen besuchen die Menschen oft unbemerkt im Schlaf. Am nächsten Morgen erkennt der Mann zum Beispiel, dass er im Schlaf ejakuliert hat, aber er weiß nicht, warum. Die Kinder, die aus einem solchen menschlich-dämonischen Akt entstehen, sind Halbdämonen, manchmal auch Wechselbälger genannt.” Er schlug das dritte Buch auf. Dort waren gleich mehrere Kinder abgebildet, deren Augenhöhlen komplett schwarz waren.

“Aber Tenebrina ist doch ein Halbdämon”, sagte Erwin. “Zumindest behauptet sie das.”

“Seltsam. Sie kommt mir nicht sehr dämonisch vor. Und erst recht nicht wie diese kleinen Biester.”
Erwin seufzte. “So kommen wir nicht weiter. Halbdämonen können es nicht wirklich sein.”

“Naja, es gibt nicht nur Halbdämonen, die von menschlichen Frauen zur Welt gebracht werden”, sagte Georg. “Tenebrina hatte eine menschliche Mutter, aber einen Dämon als Vater - wenn es stimmt, was sie erzählt. Aber was ist mit den ganzen Kindern, die von weiblichen Dämonen geboren werden? Vielleicht sind die anders? Vielleicht sind sie unsere schwarzäugigen Kinder. Sie müssen eingeladen werden, weil sie sonst nicht in ein Haus können. Das ist ihre menschliche Seite. Und die schwarzen Augen haben sie von ihrer Mutter.”

“Nein”, sagte Erwin. “Das überzeugt mich nicht so ganz. Es muss etwas anderes sein.”
Der alte Georg packte die Bücher zusammen. “Dann tut es mir Leid. Solche Dinge, wie du sie beschreibst, existieren einfach nicht in den Mythen alter Völker. Das muss eine Urban Legend sein. Sie ist neu entstanden. Das spricht nicht unbedingt für ihren Wahrheitsgehalt. Wahrscheinlich hat sich das jemand nur ausgedacht, und jetzt spielen alle verrückt. Es gibt in der Geschichte genügend Beispiele. Die Vampirhysterie im Habsburgerreich im 18. Jahrhundert wäre eins. Am Ende ist das alles nur heiße Luft und ein paar schwarze Kontaktlinsen - sonst nichts.”

“Tja, dann”, sagte Erwin. “Trotzdem vielen Dank für deine Mühen. Bis zum nächsten Mal.”


6.

Es war spät am Nachmittag, als Erwin in die Räume des PED zurückkehrte. Regina hatte längst Mittagspause gemacht, und Tenebrina saß im Flur auf der Couch, die dem Empfang gegenüberstand und die eigentlich für Gäste gedacht war, die gerade warten mussten.

“Na”, sagte sie, “hast du Erfolg gehabt?”

Da sie ein schulterfreies Top trug, konnte Erwin ihr Totenkopf-Tattoo sehen. Erwin mochte Tattoos, hatte aber selber keines, da er es nicht mochte, wenn jemand mit Nadeln seine Haut bearbeitete. Mit ihren langen, schwarzen Haaren und ihrem bleich geschminkten Gesicht sah sie ein wenig so aus wie das Mädchen aus dem japanischen Buch. Nur die Piercings im Gesicht zeigten, dass Tenebrina durch und durch menschlich war - naja, zumindest halb menschlich.

“Stimmt es, dass Dämonen schwarze Augen haben?” fragte Erwin.

“Das weißt du doch”, sagte Tenebrina.

“Dein Vater hat also auch schwarze Augen?”

Sie zuckte die Achseln. “Ich weiß nicht. Ich bin ihm nie begegnet.”

“Der alte Georg meint, auch Halbdämonen hätte schwarze Augen.”

Tenebrina blinzelte kurz, und einen Augenblick später waren ihre kompletten Augen schwarz - einschließlich des Bereichs, der zuvor noch weiß gewesen war.

“Meinst du etwa so?” fragte sie lächelnd.

Erwin wich einen Schritt zurück. “Warum hast du mir nie etwas davon gesagt?”

Tenebrina blinzelte ein zweites Mal, und ihre Augen waren wieder so grün wie immer. “Ich rede nicht gerne darüber. Alle Halbdämonen können das.”

“Dann sind die schwarzäugigen Kinder also Halbdämonen?”

Tenebrina schüttelte den Kopf. “Sind sie nicht. Sie sind Sterbliche.”

“Sterbliche?”

“Während du bei Georg recherchiert hast, habe ich meditiert und bin auf Astralreise gegangen. Ich war im Geistergürtel, ich war auf den Astralebenen, in der Bibliothek von Zion, sogar in der Hölle. Niemand hat irgend etwas über diese schwarzäugigen Kinder gewusst. Sie sind keine Geister, und sie sind keine Dämonen. Und auch keine Halbdämonen. Sie kommen definitiv nicht aus dem Jenseits, sondern aus der materiellen Welt. Sie sind materiell, also sterblich. Ich habe noch nicht einmal jemanden getroffen, der sie ins Haus gelassen hat. Die sind nicht gestorben oder zumindest nicht im Jenseits gelandet.”

“Merkwürdig. Also hat sie doch bisher niemand rein gelassen. Oder das ganze ist tatsächlich nichts weiter als ein Internet-Hoax.”

“Das kann sein. Ich habe aber auch meinen Guide, meinen Schutzengel, befragt. Und der meinte, die schwarzäugigen Kinder seien ein echtes Phänomen. Sie seien ein Teil des Plans, aber mehr könne er mir nicht verraten, da sie auch ein Teil unseres Plans wären.”

“Also, Menschen sind sie nicht”, sagte Erwin. “Dann bleibt nur noch eine Möglichkeit: Sie sind Außerirdische. Aber Außerirdische landen doch auch früher oder später auf den Astralebenen. Bist du ihnen dort nicht begegnet?”

“Ich habe nur Zugang zu den Ebenen des Lichtsystems. Es gibt in der Schöpfung aber auch noch andere Systeme. Ich nehme an, dass die Wesen, die hinter den schwarzäugigen Kindern stecken, aus einem dieser Systeme kommen. Vielleicht sogar aus dem Schattensystem. Das würde auch erklären, warum ihre Opfer verschwinden. Die Biester holen die Seelen aus dem Lichtsystem heraus und nehmen sie in ihrem System gefangen. Sie führen was im Schilde - und zwar was ganz und gar böses.”

“Wir müssen herausfinden, was es ist”, sagte Erwin. “Wir müssen ihnen das Handwerk legen.”

“Das geht aber nur, wenn wir sie selber fragen”, sagte Tenebrina.

“Aber wie finden wir sie? Sie tauchen immer irgendwo plötzlich auf und verschwinden dann wieder. Sie sind komplett unberechenbar.”

“Wir sollten den Auftrag von Hans Schröder annehmen und ihm einen Besuch abstatten”, sagte Erwin.

“Und wie genau lautet der Auftrag? Wir wissen noch nicht einmal, wie wir mit ihnen fertig werden.”

“Wenn sie wirklich sterblich sind, genügt eine gewöhnliche Feuerwaffe. Wir nehmen mal welche mit. Sicher ist sicher.”


7.

Hans Schröder wohnte in einer Villa in bester Lage. Österberg. Mit Blick auf die gesamte Südstadt. Es war um die Mittagszeit, als Erwin Becker und Tenebrina in Tübingen eintrafen. Rund um die Villa roch es nach angebratenem Fleisch und nach Zwiebeln. Die Vögel sangen in den Bäumen. Es war so heiß, dass Tenebrina einen schwarzen Minirock und eine Netzstrumpfhose sowie ein schulterfreies Top trug. Ihr Talisman baumelte um ihren Hals, als die beiden bei Hans Schröder klingelten. Erwin trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze Jeans. Seine Sonnenbrille nahm er bei diesem Wetter erst recht nicht ab, und auch Tenebrina hatte sich eine Sonnenbrille aufgesetzt.

Hans Schröder klingelte, und für einen Moment sah er so aus, als würde er die Tür gleich wieder schließen. Doch Erwin und Tenebrina zeigten gleichzeitig ihre Dienstausweise.

“Ich bin Erwin Becker”, sagte er. “Das ist Tenebrina. Wir sind vom Paranormalen Ermittlungsdienst. An dieser Stelle frage ich immer, ob wir reinkommen dürfen. Aber ich fürchte, was diese Frage angeht, sind Sie etwas vorbelastet.”

Hans Schröder lachte. “Das ist richtig. Aber Sie beide dürfen gerne reinkommen.”

Sie betraten das Haus und standen gleich in einer Art Eingangshalle. Eine breite Treppe führte nach oben auf eine Galerie, die die gesamte Halle umgab. Von dort aus öffneten sich die Türen zu den einzelnen Zimmern im Haus. Geradeaus dagegen ging die Halle direkt in ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer über. Die Möbel, die hier standen, wurden andernorts als Antiquitäten verkauft.

“Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?” fragte Schröder.

“Für mich bitte eine Cola Light mit Zitronensaft. Etwa drei Viertel zu ein Viertel bei einer Temperatur von etwa zehn Grad.”

“Gerne, darf ich Ihnen vielleicht auch ein Spanferkel dazu servieren?”

“Tut mir Leid, ich habe keinen Hunger.”

“Das war Sarkasmus”, zischte Tenebrina.

“OK, ein Tee Earl Grey genügt auch. Wenn Sie keinen Earl Grey haben, reicht auch ein gewöhnlicher Schwarzer Tee.”

“Für mich bitte einen Kaffee, schwarz.”

“In Ordnung”, sagte Hans und rief nach einer Frau, von der Erwin und Tenebrina nicht wussten, ob es seine Ehefrau oder eine Bedienstete war. “Ein schwarzer Tee, ein schwarzer Kaffee und einmal Scotch mit Soda, bitte”, sagte Schröder.

“Um diese Uhrzeit schon?” fragte Erwin Becker.

“Ich bin Unternehmer im Ruhestand. Ich darf das.”
“Ich sehe, wir verstehen uns. Wir beide sind auch Unternehmer. Darf man fragen, was für ein Unternehmen?”

“Maschinenbau. Ich dachte, Sie arbeiten für die Regierung.”

“Das denken viele auf den ersten Blick. Sollen sie auch denken. Das öffnet viele Türen - ganz legal. Allerdings geben wir uns nie als Regierungsvertreter aus. Denn das wäre strafbar. Es ist aber nun mal so, dass die deutsche Bundesregierung mit dem Paranormalen nicht viel am Hut hat - anders als in anderen Ländern, wo es sogar Elfenbeauftragte gibt.”

Schröder lachte, doch dann wurde er sofort wieder ernst. “Ich muss Ihnen etwas sagen, aber das darf niemand anderes wissen.”

“Schießen Sie los. Ihr Geheimnis ist bei uns sicher.”

“Ich habe Angst”, raunte er. “Diese Kinder, sie terrorisieren mich.”

“Inwiefern?”

Eine Frau betrat das Zimmer mit einem Tablett. Darauf eine Kanne Kaffee, eine weitere Kanne Tee, zwei Tassen, eine Flasche Scotch und ein Whiskeyglas.

“Also gut”, sagte Schröder, als er die Frau bemerkte. “Reden wir über das Geschäftliche. Sie haben Ihren Kostenvoranschlag dabei?”

Tenebrina öffnete ihre schwarze Handtasche und entnahm ihr einen Zettel. Sie reichte ihm Schröder. Er sah ihn sich an und lächelte. “Danke, Marie”, sagte er zur Frau. Dann wartete er, bis sie aus dem Raum verschwunden war und sagte: “Ich habe mir die Rechnung schlimmer vorgestellt.”

“Normalerweise verlangen wir auch mehr”, sagte Erwin. “Dämonenaustreibung, Geisterexorzismus, Kontakt mit dem Jenseits, Detektivarbeiten - das ist alles viel teurer und aufwendiger als das, was wir hier erwarten.”

“Ich will ehrlich sein”, fügte Tenebrina hinzu. “Wir tappen vollkommen im Dunkeln. Wir wissen nicht, ob wir Erfolg haben werden - noch nicht einmal, was Erfolg in diesem Fall überhaupt heißt.”

“Wir haben recherchiert”, sagte Erwin. “Es gibt keine Literatur zum Thema. Nur Spekulationen. Es gibt absolut keine Erfahrungen auf dem Gebiet - anders als beim Exorzismus zum Beispiel. Und das schlimmste ist: Wir wissen noch nicht einmal, wie wir an die schwarzäugigen Kinder herankommen. Geister sind oft an Orte gebunden, Dämonen an Menschen - aber diese Bastarde tauchen plötzlich auf und verschwinden dann wieder - und niemand weiß, wo sie das nächste Mal auftauchen werden. Und das weltweit.”

“Diese Biester sind absolut nicht zu greifen”, ergänzte Tenebrina. “Das macht jede Forschung schwierig.” Sie holte einen Stapel Papier aus ihrer Tasche. “Hier ist der Vertrag. Sobald Sie unterschrieben haben, fangen wir an. Das Honorar ist erfolgsabhängig. Haben wir keinen Erfolg - was auch immer das in diesem Fall sein mag -, zahlen Sie nur die Spesen und eine Aufwandsentschädigung.”

“Hört sich gut an”, sagte Schröder, während er sich den Vertrag durchlas. Und dann: “Moment mal, was soll das heißen? Im Fall des Todes des Auftraggebers während der Ermittlungsarbeit wird der Paranormale Ermittlungsdienst von jeder Verantwortung freigesprochen? Der Auftraggeber handelt auf eigenes Risiko?”

“Hey, wir müssen uns rechtlich gegen alles absichern”, sagte Erwin. “Unsere Branche ist nicht ungefährlich. Wenn wir dabei drauf gehen, ist das unser Bier. Aber wenn der Auftraggeber drauf geht, ist die Kacke am Dampfen.”

“In der Regel passiert aber nichts”, setzte Tenebrina beruhigend hinzu. “Reine Vorsichtsmaßnahme.”

“Ist in Ordnung”, sagte Schröder und unterschrieb.

“Also gut.” Erwin nahm einen Schluck aus seiner Teetasse. “Als allererstes müssen wir nachprüfen, ob es eine rationale Erklärung gibt. Fangen wir mit der naheliegendsten an. Es gibt schwarze Kontaktlinsen. Die kann mittlerweile jeder übers Internet bestellen. Ist zwar etwas teuer, aber vielleicht hat sich einfach jemand mit Ihnen einen Scherz erlaubt.”

“Warum sollte jemand so etwas tun?”

“Kennen Sie denn jemanden, der dafür in Frage käme?”

Schröder überlegte lange. Dann schüttelte er den Kopf. “Nein, nicht dass ich wüsste.”

“Oder es hat Sie jemand mit versteckter Kamera gefilmt und das Video auf YouTube gestellt”, sagte Erwin.

Schröder schüttelte den Kopf. “Nein. Das... das waren keine Menschen.”

“Was denn sonst?”

“Sie sahen aus wie Menschen. Aber sie verhielten sich wie Raubtiere, die auf ihre Beute lauerten. Es ist nur ein Gefühl, aber ich hatte den Eindruck, als wäre das alles eine verdammt schlechte Tarnung. Sie sahen aus wie Kinder - aber sie verhielten sich nicht so. Und vor allem: Das, was die anhatten, trägt doch heutzutage kein Kind mehr.”

“Was hatten sie denn an?”

“Der Junge trug eine Sepplhose und ein weißes Hemd. Das Mädchen trug ein blaues Blümchenkleid. Beide hatten weiße Kniestrümpfe und Schnallenschuhe.”

“Pfui Teufel”, sagte Erwin. “Ein Fall für die Geschmackspolizei.”

“Und dann sprachen sie ganz komisch”, sagte Schröder. “Nicht wie Kinder. Mehr so wie Erwachsene. Das alles stimmte von vorne bis hinten nicht. Wie ein Geheimagent, der seine Tarnung schlampig recherchiert hat.”

“Was meinst du, Tenebrina?” fragte Erwin.
Tenebrina seufzte. “Ich weiß es nicht. Warum sollte jemand einen schlecht getarnten Geheimagenten spielen, der sich als Kind tarnt? Das macht alles keinen Sinn. Ich glaube, eine rationale Erklärung können wir ausschließen. Da steckt mehr dahinter.”

“Finden wir es heraus!” sagte Schröder plötzlich.

“Wie jetzt?” fragte Erwin.

“Ihr sagtet, sie würden plötzlich auftauchen und dann wieder verschwinden. Aber das stimmt nicht. Sie verschwinden nicht. Sie waren letzte Nacht wieder da.” Die Angst war ihm deutlich anzusehen. “Sie haben an das Fenster geklopft! ‘Lass uns rein!’ haben sie gesagt: ‘Es dauert nicht lang und es tut auch nicht weh!’”

“Was dauert nicht lang?” fragte Tenebrina. “Und was tut nicht weh?”

“Sie wollen Sie töten”, sagte Erwin. “In der ersten Nacht haben sie behauptet, sie hätten sich verirrt. Jetzt haben sie ihre Glaubwürdigkeit verloren. Ihre Maske fällt langsam ab, und sie versuchen es in ihrer Verzweiflung mit einer Halbwahrheit statt einer Lüge.”

“Sie sind wiedergekommen?” wunderte sich Tenebrina.
“Sie sind sogar ins Haus gekommen. Sie standen am Bett - mitten in der Nacht. Sie lassen mich nicht mehr in Ruhe.”

“Sie sind angepisst”, sagte Erwin. “Eine Art paranormale Drückerkolonne, die so lange herum nervt, bis sie endlich was verkauft hat. Wir werden hier heute Nacht warten. Wenn wir Glück haben, kommen sie wieder.”

“Und dann?” fragte Tenebrina.

“Dann stellen wir Fragen.”
Tenebrina nickte. “Also gut. Aber überlass das Reden mir. Ich weiß, wie man mit solchen Wesen umgeht.”


8.

Sie kamen kurz vor Mitternacht und kündigten sich durch lautes Klopfen an das Fenster an. Es klang nicht wie das zarte Klopfen eines Kindes. Vielmehr wie das laute Pochen eines Geistesgestörten, der drohte, mit dem Maschinengewehr die Tür zu zerschießen, wenn niemand öffnete. Oder eines Polizisten, der mit dem Poltern seinen Ruf “Aufmachen, Polizei!” begleitete. Es war unheimlich.

“Lass uns rein!” riefen die Kinder. Sie klangen wie Geisterstimmen. “Es dauert nicht lang, und es tut nicht weh!”

Tenebrina holte ihre Schusswaffe hervor und lud sie. Erwin machte es ihr nach. “Also gut”, flüsterte Tenebrina. “Sie sind da. Herr Schröder, sagen Sie, Sie würden sie rein lassen, wenn sie zur Eingangstür kämen. Aber seien Sie vorsichtig bei dem, was Sie sagen: Erwecken Sie zu keiner Zeit den Eindruck, dass Sie sie mit Ihren Worten einladen oder bereits eingeladen haben. Sollten die Kinder das dennoch missverstehen und die Schwelle übertreten, werden wir sie erschießen.”

Schröder ging ans Fenster. Die Kinder standen draußen wie gespenstische Schatten. Unheimlich. Ihre Gesichter lagen im Dunkeln, so dass er ihre Augen nicht sehen konnte. Aber irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie ihn beobachteten wie ein Adler seine Beute beobachtet, kurz bevor er zustößt.

“Ihr da draußen!” rief er. “Ich werde euch reinlassen, wenn ihr tut, was ich sage! Geht zur Vordertür, und ich werde euch reinlassen!”

“Gut”, sagte Tenebrina. “Jetzt gehen wir alle drei zur Tür. Sie öffnen, Herr Schröder!” Sie entsicherte ihre Waffe, und Erwin tat es ihr gleich.

Die Kinder klingelten an der Tür, noch bevor die drei sie erreicht hatten. Schröder öffnete. Was dort draußen stand, war weitaus unheimlicher, als Tenebrina es vermutet hatte. Den beiden stand das Wort Fälschung quasi ins Gesicht geschrieben. Wie ein Raubtier, das sich versteckte, bevor es losschlug.
Die beiden mochten acht bis zehn Jahre alt sein. Beide blickten nach unten, so dass Tenebrina ihre Augen nicht sehen konnte. Das Mädchen hatte zwei Zöpfe, die bis zum Gürtel reichten. Sie trug ein kurzes, blaues Kleid mit weißen Blumenmustern. Der Junge hatte eine Lederhose an, wie man sie auf dem Oktoberfest trug - außerdem ein weißes Hemd. Sauber gebügelt. Sein Haarschnitt wirkte leicht antiquiert und erinnerte Tenebrina an die alten Kinderschokolade-Packungen. Beide trugen sie lange Kniestrümpfe und Schnallenschuhe.

“Bitte, lassen Sie uns rein!” sagte der Junge.

Tenebrina richtete ihre Schnellfeuerpistole auf ihn. “So, ihr kleinen Kackbratzen”, sagte sie. “Das Spiel ist aus! Wir wissen, dass ihr keine Kinder seid! Gebt euch zu erkennen!”

Langsam, aber stetig, hob der Junge den Kopf, bis er direkt in Tenebrinas Augen sah. Die Augen waren schwarz - absolut finster. Sie absorbierten jedes Licht. Fast sah es so aus, als hätte er gar keine Augen, als würde er sie aus seinen Augenhöhlen anstarren. Dann fing er an zu sprechen. Aber es war nicht die die Stimme eines Kindes, mit der er sprach. Sie klang tief und männlich - viel tiefer als ein Mensch zu sprechen in der Lage war. So sprachen manchmal Dämonen in Filmen - und manchmal auch in der Wirklichkeit, wie Tenebrina schon mehrfach festgestellt hatte.

“Wir sind Seelenfresser”, sagte der Junge. Sein Gesicht war versteinert wie das eines Roboters. Nicht die kleinste emotionale Regung war zu spüren. Das Mädchen setzte sein Schweigen fort.

“Soso, Seelenfresser seid ihr”, sagte Tenebrina. “Und was passiert mit den Seelen, die ihr gefressen habt?”“

“Nichts. Sie werden ausgelöscht. Hören auf zu existieren. Das ist der zweite Tod.”

Eine Lüge? Oder glaubten sie wirklich, was sie sagten? Vielleicht sagten sie sogar die Wahrheit. Aber das glaubte Tenebrina weniger. Schon seit ihrer Geburt hatte sie oft die Astralebenen besucht, aber noch nie hatte sie davon gehört, dass eine Seele ausgelöscht werden konnte.

“Seelen kann man nicht auslöschen”, sagte sie. “Das widerspricht so ziemlich allem, was ich über die Schöpfung weiß.”

“Dann weißt du nicht sehr viel über diese Schöpfung.” Es klang kalt, schneidend, ohne jegliche Emotion. Als seien Menschen nichts anderes als Dinge, über die diese Wesen verfügen konnten, wie sie wollten. Als seien Menschen nur etwas lästiges, das man am besten los wurde. So wie Fruchtfliegen, die man mit einem Fliegenfänger zu beseitigen trachtete.

“Und warum tut ihr das?” fragte Tenebrina. “Warum fresst ihr Seelen?”

“Wir sind Sklaven eines Volkes, das ihr die Grauen nennt.” Noch immer konnte Tenebrina nicht die leiseste Emotion bei den Kindern feststellen.

Jetzt ergriff Erwin das Wort: “Meinst du etwa die tollkühnen Wichser in ihren Fliegenden Untertassen, die Menschen entführen und Tiere verstümmeln?”

“Genau die”, war die Antwort.

“Aber warum wollen die, dass ihr das tut?” fragte Tenebrina.

“Sie bereiten eine Invasion vor”, sagte der Junge. Gleichgültig und kalt wie immer. “Und das schon seit Jahrzehnten. Doch bevor sie kommen, müssen wir die Erde von unliebsamen Menschen befreien.”

“Was verstehen die denn unter unliebsamen Menschen?”

“Das wissen wir nicht. Wir führen nur Befehle aus. Sie haben uns eine Todesliste gegeben. Mit Namen, Adressen und dem Zeitpunkt, an dem wir zuschlagen sollen.”

“Aber sehr erfolgreich seid ihr damit nicht, oder?” fragte Erwin Becker.

Der Junge sah jetzt direkt ihn an. Der kalte, tote Blick seiner schwarzen Augen ging ihm durch Mark und Bein.

“Woher wollt ihr das wissen?” fragte der Junge.

“Naja, bisher haben wir nur von Leuten gehört, die euch abgewiesen haben”, antwortete Erwin.

“Von den anderen könnt ihr auch nichts gehört haben. Die sind tot. Ihre Seele vernichtet. Wir tauchen auf keinem Totenschein auf, falls ihr das denkt. Dort steht dann Herzstillstand oder Suizid oder Unfall.”

“Aber warum müsst ihr überhaupt eingeladen werden?” fragte Tenebrina. “Ihr könntet die Leute doch auf der Straße töten. Oder an der Haustür.”

“Könnten wir schon. Dürfen wir aber nicht. Die Grauen haben es uns verboten.”

“Warum?”

“Das würde zu viel Aufsehen erregen. Wir müssen im Verborgenen vorgehen und die Leute in ihren eigenen vier Wänden töten. Oder in ihrem eigenen Auto - so dass es wie ein Autounfall aussieht.”

“Und deswegen müsst ihr eingeladen werden.”

“So sind die Regeln. Wir sind keine Dämonen. Wir können nicht durch die Wand gehen.”

“Und was passiert mit denen, die euch abgewiesen haben?” fragte Tenebrina.

Der Junge sah jetzt direkt zu Schröder. “Wer auf der Liste steht, muss sterben. Wir sind nur die Vorhut. Nach uns werden andere kommen.”

“Dann schadet es ja nicht, wenn es ein paar von euch weniger gibt!” rief Tenebrina und schoss dem Jungen direkt in die Brust. Der sah kurz herab. Dann taumelte er zwei Schritte nach hinten, fiel um wie ein Sack Mehl und blieb tot liegen.

Das Mädchen entblößte messerscharfe Zähne, und ihre Finger wurden zu Krallen. Es fauchte mit einer tiefen Stimme, die der des Jungen ähnlich klang: “Erwin Becker und Tenebrina vom Paranormalen Ermittlungsdienst. Wir sind gekommen, um euch zu holen. Ihr steht auf unserer Liste. Ganz oben!”

Sie wollte sich gerade auf Tenebrina stürzen, doch diese war schneller. Sie schoss ihr direkt in den Kopf. Doch das Blut, das herausdrang, war grün und schleimig. Das Wesen landete direkt vor Tenebrinas Füßen.

“Musste das jetzt sein?” rief Erwin. “Du hast sie umgebracht. Das war unnötig wie ein Kropf. Was wäre, wenn uns nur jemand verarschen wollte? Dann hast du jetzt zwei Kinder getötet!”

“Das waren keine Kinder!” sagte Tenebrina ruhig und zeigte mit dem Lauf ihrer Pistole auf die beiden Leichen. Das waren in der Tat keine Kinder. Am ehesten erinnerten sie Erwin an Insekten. Große Insekten mit sechs Beinen, Flügeln, Fühlern und Facettenaugen. Nur dass die Flügel mehr wie die einer Fledermaus wirkten als wie die von Insekten. Die schwarzen Augen waren nichts weiter gewesen als die schwarzen Facettenaugen, die sich ihnen jetzt präsentierten. Doch am schlimmsten waren die Rüssel. Sie sahen aus wie überdimensionierte Rüssel von Stubenfliegen, aber das waren sie nicht. Der Schauder, der Erwin ergriff, ließ nur eine Erklärung zu: Instinktiv begriff er, dass diese Wesen damit die Seelen aufsaugten und auf Nimmerwiedersehen verschwinden ließen - irgendwo im Magen dieser Schmeißfliegen, wo sie dann langsam verdaut und in ihre Einzelteile zerlegt wurden. Aus den Schusswunden sickerte weiterhin grünes Blut.

“Sie hätten uns noch die eine oder andere Frage beantworten können”, sagte Erwin.

“Sie haben uns alles gesagt, was sie uns sagen konnten”, entgegnete Tenebrina. Die Emotionslosigkeit der Seelenfresser schien auf sie übergegangen zu sein.

“Naja, wenigstens haben wir jetzt Beweise für ihre Existenz”, sagte Erwin.

Aber er hatte es kaum ausgesprochen, als eine hohe Stichflamme aus dem schoss, was einmal der Junge gewesen war. Etwas später folgte eine Stichflamme aus dem anderen Leichnam.

“Ich hole einen Feuerlöscher”, sagte Schröder und verschwand im Haus. Doch das Feuer brannte schnell, und ehe der Unternehmer wieder zurückkam, waren von den Leichen nur noch zwei kleine Häuflein Asche übrig.

Tenebrina verschwand im Haus und kehrte wenig später mit einem Löffelchen und einem Einmachglas zurück. “Vielleicht ist da noch erkennbare DNA drin”, sagte sie. “Ich werde sie in einem Labor analysieren lassen.”


9.

Die Sonne ging unter und tauchte die Dächer Frankfurts in ein rot glühendes Licht. Sie saßen auf dem Balkon von Tenebrinas Wohnung und blickten nach Westen - direkt zum roten Feuerball, der langsam, aber sicher dem Horizont zustrebte. Sie tranken Rotwein und knabberten Chips.

“Ich habe Angst”, sagte Tenebrina.

“Das sagst du nicht oft”, bemerkte Erwin.

“Das stimmt. Ich bin eben Halbdämonin. Aber ich habe Angst vor der Invasion. Was glaubst du, wann werden sie kommen?”

Erwin nahm einen Schluck Wein. “Keine Ahnung. Vielleicht schon morgen. Vielleicht aber auch erst in hundert Jahren. Wir wissen es nicht. Nur eines ist sicher: Sie WERDEN kommen.”

“Jetzt haben wir schon so viele Geister aus dem Geistergürtel befreit”, sagte Tenebrina. “So viele Dämonen in die Hölle geschickt. So viele Untote besiegt. Glaubst du, wir haben gegen die Aliens eine Chance?”

Erwin schüttelte den Kopf. “Francisco Pizarro hat mit einer Handvoll spanischer Soldaten das ganze Inkareich erobert. Und warum? Weil die Spanier den Inka technisch überlegen waren. Ich habe keine Ahnung, wie hoch uns die Aliens überlegen sind, aber wer es schafft, Raumschiffe durch die endlosen Weiten des Weltalls über eine derartige Entfernung zu uns zur Erde zu lenken, der ist uns weitaus höher überlegen als die Spanier den Inka. Wenn sie kommen, dann haben wir nicht den Hauch einer Chance. Wir können nur eines hoffen: Dass wir das nicht mehr erleben werden.”

“Genau deswegen habe ich Angst”, sagte Tenebrina.
“Weil ich weiß, dass wir auf unseren Untergang zusteuern und dass wir nichts dagegen tun können.”
“Jeder muss irgendwann mal sterben”, entgegnete Erwin.

Tenebrina seufzte. “Aber manche Dinge sind schlimmer als der Tod.”

“Also, dann lass uns das Leben wenigstens genießen, bis die Grauen kommen.”

Sie küssten sich. Und von ihnen und den meisten Frankfurtern unbemerkt zog hoch oben am Himmel eine Fliegende Untertasse ihre Kreise...


10.

Hans Schröder öffnete sich eine Flasche Scotch. Er wollte sich betrinken. Bloß nicht an das denken, was er vor wenigen Nächten erlebt hatte. Der Paranormale Ermittlungsdienst war jeden Cent wert gewesen. Aber diese widerlichen Insekten, diese Seelenfresser hatten ihm Albträume beschert. Vor allem diese Rüssel. Schröder stellte sich vor, wie sie damit die Seelen ihrer Opfer aufsaugten und die Körper wie leere Hüllen zurückließen. Grauenvoll - allein der Gedanke, irgendwann im Magen einer dieser Schmeißfliegen zu landen.

Er machte ein Kreuzzeichen, schickte ein Gebet in Richtung Himmel. Aber glaubte nicht wirklich daran, dass es etwas nutzen könnte. Hier, auf der Erde war die Menschheit auf sich allein gestellt. Eingebettet in ein riesiges Universum, das allein von der Evolution beherrscht war. Hier überlebten nur diejenigen, die das Glück hatten, die Stärkeren zu sein. Hier herrschte das unbarmherzige universelle Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens - und der Mensch - das hatte er gelernt - war nicht das Ende der Nahrungskette. In den Weiten des Universums gab es Dinge, die zu schrecklich waren, um sie auszusprechen. Wesen, für die Menschen nichts anderes waren als Ameisen, die man aus Spaß an der Freude mit einem Brennglas zerstörte. Da gab es kein Mitleid und keine Gnade, keine Barmherzigkeit und keine Güte. Nur die Kälte des Weltalls und seiner Bewohner.

Er wollte sich den Scotch gerade eingießen, als plötzlich ein Mann in seiner Wohnung stand, den er nie zuvor gesehen hatte. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Auf seinem Kopf saß eine schwarze Melone. Sein Gesicht war käsig bleich und wirkte etwas teigig. Es glänzte im Licht der Wohnzimmerlampe.

“Wie sind Sie hier herein gekommen?” fragte er.

Der Mann grinste. “Die Tür stand offen.”

“Unmöglich. Ich habe sie zu gemacht!”

“Ach ja, wirklich?”

Schröder sah durch den Flur nach draußen, und tatsächlich: Die Tür stand sperrangelweit offen. Komisch, er hätte schwören können...

Der Mann sah ihm jetzt direkt in die Augen. Sie waren schwarz. Komplett schwarz. So wie bei den Kindern.

“Die Kinderstunde ist vorbei”, sagte der Mann spöttisch. “Jetzt heißt es: Nur für Erwachsene. Ich brauche keine Einladung. Ich komme auch so.”
Langsam bewegte sich der Mann in Schwarz auf ihn zu. Sein Herz schlug schneller. War das einer dieser anderen, von denen die Kinder geredet hatten? Er hoffte nur, dass es kein Seelenfresser war, der ihn jetzt bedrohte. Aber allzu groß waren seine Hoffnungen nicht.

“Ich bin gekommen, um dich zu holen”, sagte der Mann in Schwarz. “Du hättest die Kinder besser rein lassen sollen. Es hätte nicht lange gedauert, und es hätte nicht wehgetan. Jetzt kann es für dich sehr, sehr unangenehm werden.”

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Mittwoch, 23. Oktober 2013
00111001 - Samstag ist Aufräumtag
Er erwachte schweißgebadet. Was war das eben? Ein Traum? Ein Erinnerungsfetzen? Ein Blick in die Zukunft? Er hatte das Gefühl, das er häufig hatte, wenn er morgens erwachte. Das Gefühl, sich von allen Menschen zurückziehen zu müssen, weil sein Gehirn mit ihm Achterbahn fuhr. Aber jetzt war es besonders schlimm.

Kopfschmerzen. Diese Kopfschmerzen. Der Presslufthammer, den er in seinem Kopf vermutete, entpuppte sich als echter Presslufthammer. Dort draußen rissen sie die Straße auf. Ein hässliches Geräusch.

Andreas sah auf seinen Radiowecker. 10 Uhr. Höchste Zeit aufzustehen. Es war Samstag, und Samstag war Aufräumtag. Was er heute nicht schaffte, würde wieder eine Woche warten müssen. Dabei war seine Duschwanne schon ekelhaft verdreckt. Er musste sie heute unbedingt putzen. Und er musste saugen. Geschirr spülen.

Er sprang aus dem Bett, nur um sich kurz darauf wieder hinzusetzen. Dieser hämmernde Kopfschmerz! Er sollte nicht mehr Nachts so lange um die Häuser ziehen. Aus dem Alter war er draußen - wenn er jemals drin gewesen war. Schnell eine Paracetamol eingeworfen, dann ging es ihm hoffentlich besser! Und dann konnte er sich vielleicht einen Tee machen. Oder was stärkeres, was ihn wieder auf die Beine brachte.
Plötzlich fiel ihm siedendheiß ein, dass er noch gar nicht einkaufen gewesen war. Morgen war Sonntag, und da hatten die Läden zu, und er brauchte noch Milch. Und Kaffee. Und was zum Mittagessen brauchte er auch. Und der Kasten Wasser ging auch zur Neige. Er hasste es, Samstags einkaufen zu gehen. Da war wirklich jeder unterwegs. Menschengewusel in den Gängen, lange Schlangen an den Kassen, und er mittendrin, wie er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, dass er ja nichts vergaß, während die Musik des Einkaufsradios ihn einlullte und jeden Konzentrationsversuch zunichte machte. Samstags im Supermarkt: der Horror!

Er schleppte sich in die Küche, schnappte sich ein Glas, wankte zum Wasserhahn und ließ es volllaufen. Das Geräusch des rauschenden Wassers hämmerte seinen Kopfschmerz noch weiter ins Gehirn. Draußen verstummte der Presslufthammer. Dafür ertönte irgendwo im Haus eine Bohrmaschine. Samstage waren einfach grässlich.

Normalerweise ging er immer Freitags nach Dienstschluss einkaufen. Dann hatte er den ganzen Samstag für den Haushalt. Eigentlich brauchte er mehr als einen Tag dafür, aber erholen wollte er sich auch noch, und dazu ist der Sonntag da. Manchmal fühlte er sich Montags wie gerädert, hatte das Gefühl, sich am Wochenende nicht richtig erholt zu haben. Das kam in letzter Zeit immer öfter vor. Sollte er mal zum Arzt wegen Burn out-Verdacht? Nein. Irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung. Das wusste er. Er wusste nur nicht genau, was es war. Burn out jedenfalls nicht.

Andreas schluckte die Paracetamol und spülte mit Wasser nach. Obwohl er die Tablette möglichst schnell durch seinen Mund bewegte, konnte er den furchtbar bitteren Geschmack spüren.

Der Vortrag hatte ihn vom Einkauf abgehalten.

Robert Jonas kommt!

Robert Jonas ist tot!

So ein Quatsch! Manchmal träumte er aber auch einen Stuss zusammen! Er war doch gestern mit ihm unterwegs gewesen, oder? Er schielte zum Schlüsselbrett. Der Schlüssel, den ihn damals ein Unbekannter im Mannheimer Wasserturm gegeben hatte, hing noch dran. Der Schlüssel des Wassers. Vielleicht sollte er heute mal dem Haus Schwarzwaldstraße 23 einen Besuch abstatten und schauen, wohin ihn der Schlüssel führte. Und dann Nova. Ja, er wollte sich mit ihr treffen. Erst einkaufen, dann Schwarzwaldstraße, dann Nova. Aber zuerst frühstücken. Dann Internet. Wobei, wenn er einmal damit anfing, würde es wieder dauern. Aber mit Nova sollte er übers Internet Kontakt aufnehmen. Verabreden für diesen Abend. Er wollte, er musste sich mit ihr treffen. Es gab viel zu bereden.

Er schaltete den Fernseher ein. Auf ProSieben lief Scrubs. Die richtige Packung Unterhaltung zum Frühstück. Schnell noch eine neue Packung Corn Flakes aufgerissen, den letzten Rest Milch darüber ausgeleert. Nur ein Tag mit Corn Flakes war ein guter Tag.

Nach dem Frühstück schnappte er sich den Matrix-Code, schlug die erste Seite auf und fing an zu lesen:

Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Welt verändern - allein mit der Kraft Ihrer Gedanken. Gibt es nicht, sagen Sie? Neo kann es. Neo ist der Held der Matrix-Trilogie der Wachowsky-Geschwister, und wer die Filme noch nicht gesehen hat, sollte es dringend nachholen - vor allem den ersten Film. Denn er enthält mehr Wahrheit, als selbst den Wachowsky-Geschwistern lieb sein dürfte.

Ich will hier nicht den ganzen Film nacherzählen. Nur so viel: Die Matrix ist eine künstlich generierte Welt aus dem Computer. Nichts in ihr ist echt, und doch herrschen in ihr die gleichen Bedingungen vor wie in unserer Welt. Die gleichen Naturgesetze, die gleichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Matrix ist ein Abbild unserer Welt - und zugleich ein Ersatz, denn die Welt, wie wir sie kennen, ist in diesem Film längst untergegangen.

Andreas schlug das Buch zu. Das alles kam ihm bekannt vor. Sogar sehr bekannt. So als hätte er das alles schon einmal gelesen. Hatte er aber nicht. Das wusste er genau. Er konnte sich genau an alles erinnern, was er gelesen hatte und was nicht. Seltsam war, dass er sich Wort für Wort an den Text erinnerte - fast als hätte er ihn selbst geschrieben.

Es wurde ihm zu unheimlich. Er fuhr seinen Rechner hoch und ging ins Internet. Nova hatte ihm einen Freundschaftsantrag auf Lemuria gestellt. Und auf Facebook ebenfalls. Er beantwortete beide. Dann einen kurzen Blick auf Twitter geworfen. Doch aus dem kurzen Blick wurde eine längere Sitzung. Es gab neue Einträge seiner Lieblings-Blogger. Außerdem war eine Diskussion am Laufen. Es ging darüber, ob Facebook oder Lemuria besser war. Jetzt hieß es eine Lanze für seinen Arbeitgeber brechen. Doch dann kam wieder jemand mit der Kritik, diese ganzen Unternehmen würden nur Daten sammeln, und er schlug vor, man sollte doch ein nichtkommerzielles Open-Source-Netzwerk aufbauen - am besten mit Hilfe und Unterstützung der Piratenpartei. Andreas schrieb zurück, das mit dem Datensammeln stimme zwar, allerdings böte dies die Chance, Soziale Netzwerke umsonst anzubieten. Andernfalls würde im Web eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstehen. Außerdem geschehe dieses Datensammeln nur zum Wohle der Menschheit. Es sei ja niemand in seiner Privatsphäre gestört, da Lemuria nur die Daten sammle, die der Nutzer freiwillig preisgebe. Im übrigen räume er einem Open-Source-Netzwerk keine allzu großen Chancen ein, da ein derartiger Dienst ein Heer von hauptamtlichen Betreuern benötige, um eventuellen Missbrauch zu verhindern.

Dann war plötzlich sein guter Freund Adam aus Australien online. Dort war es ja bereits schon später Nachmittag, wenn nicht sogar schon Abend. Schnell noch einen längeren Trost-Chat, da Adams Freundin ihn verlassen hatte. Ein Blick auf die Uhr, und Andreas erschrak: Mittlerweile war es 12 Uhr, und er hatte überhaupt noch nichts Produktives getan. Höchste Zeit, offline zu gehen und den Computer auszuschalten.

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Dienstag, 22. Oktober 2013
00111000 - Er ist tot
“Er ist tot!”

Andreas sah ihn an.

Versteinert.

Nicht zu irgendeiner Emotion fähig.

Er wusste nicht, was er denken sollte. Sein Gehirn war wie gelähmt. War er schuld? War er es nicht? Sollte er geschockt sein? Erleichtert?

Noch im Tod hatte Robert sein Grinsen behalten.

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Montag, 21. Oktober 2013
00110111 - Deus ex machina
Vorne standen sie schon so dicht wie bei einem Rockkonzert. Andreas überlegte, ob er das ausnutzen sollte, um per Stagediving zu entschwinden, aber dazu musste er erst einmal die Menschenmenge auf seine Seite bringen. Sonst funktionierte es nicht.

“Glaubt nicht die Lügen von Königin Sundari und den anderen vier Königen von Lemuria. Glaubt nicht die Lügen der Priester von Mandira oder von Aga, Pani, Jamina, Hava und Ithara. Wir haben nicht vor, einen bösen Dämon zu beschwören. Sansarom Kanasa ist kein böser Dämon - er ist der Gott der Zukunft. Er allein kann dafür sorgen, dass für Lemuria das Dritte Zeitalter beginnt. Nach dem Zeitalter der Jagd und dem Zeitalter des Ackerbaus folgt nun das Zeitalter der Industrie. Aber dafür müssen wir uns von unseren alten Göttern befreien.”

Sie hatten die Pyramide erreicht. Von hier unten sah sie aus wie eine Maya-Pyramide. Steile Stufen führten nach oben bis auf die oberste Plattform, wo das Ewige Feuer brannte. Die Wachen zwangen Andreas und Hatana, die Stufen hinaufzugehen. Jeder Widerstand war zwecklos. Es standen dort unten genügend Menschen, die eine mächtige Waffe waren, wenn er sie auf seine Seite brachte. Nur wie?

“Nut riw nellos saw?” fragte Andreas leise.

“Nies egros eniem lam sal sad” entgegnete Sathi. "Regal fua skirt raap nie chon ad bah chi”

“Was ist mit einem Regal?” wollte eine der Wachen wissen.

“Eigam red retsiem letchiw dnis, tßiew ud eiw”, setzte Sathi hinzu.

“Wer oder was ist ein Ziwudeiw?” fragte die Wache.

Andreas grinste. “Anicham xe sued.”

“Vielleicht wird es euch nicht gefallen”, hörte er Para sagen. “Genau so wenig wie es vielleicht den Elefantenjägern zu Beginn des Zweiten Zeitalters gefallen hat, als ihre Söhne sesshaft wurden und die Landwirtschaft von den Elben übernahmen. Den Fortschritt könnt ihr nicht aufhalten - ob es euch gefällt oder nicht. Und die Technik wird die Gewohnheiten der Menschen fundamental verändern. So war es schon mal, und so wird es wieder sein.”
Andreas horchte auf. Das hatte er doch schon mal gehört. Waren Para und Robert doch die selbe Person? Ebenso wie vielleicht Sundari und Lucía? Hatte jeder hier einen Doppelgänger?

“Und jetzt ist er hier”, sagte Para plötzlich. “Der Schöpfer dieser Welt. Hier ist Bahadura Nayaka. Er hat vor dreißig Jahren diese Welt erschaffen. Es ist Zeit, dass wir ihn opfern für die Zukunft.”

“Aber Ithara hat Menschenopfer verboten!” ertönte plötzlich ein Zwischenruf aus dem Publikum. Es erhob sich ein Gemurmel, und Para hatte große Mühe, die Menschenmenge wieder zum Schweigen zu bringen.
Jetzt stand Andreas auf dem Gipfel der Pyramide. Unter ihm Menschen, so weit das Auge reichte. Alle in weiß gekleidet. Alles Männer. Der ganze Heilige Bezirk war voll von ihnen. Es mochten Tausende sein. Vielleicht gar Zehntausende. Die Götter allein wussten, was sie alle dorthin getrieben hatte und was sie ruhig hielt, denn immerhin hatten die Na’e Vykati die gesamte Priesterschaft mindestens eines Klostertempels auf dem Gewissen.

“Ithara ist eine Illusion!” rief Para. “Ithara existiert nicht. Bahadura hat ihn erschaffen - so wie euch alle. Zumindest diejenigen, die über 30 sind. Diese Welt ist eine Junge Welt. Sie existiert erst seit dreißig Jahren. Alle Erinnerungen an eine Zeit davor, alle Geschichtsaufzeichnungen, was auch immer ihr von der Zeit vorher hattet, das sind alles Illusionen und Täuschungen. Bahadura ist der wahre Schöpfer. Aber er ist kein Gott - er ist ein Mensch, so wie wir alle. Und um das zu zeigen und um die Welt von ihrem Schöpfer zu befreien, werde ich ihn für euch opfern. Ich werde ihn ins Feuer von Aga werfen und danach das Feuer löschen. Und ihr werdet sehen: Beides wird Lemuria nichts anhaben können.”

Jetzt ergriff Andreas das Wort. ”Hört nicht auf ihn!” rief er. “Er ist ein Blender, ein Lügner! Jetzt habt ihr die Gelegenheit! Ihr seid mehr als diese Frevler. Sie haben eure Priester getötet. Worauf wartet ihr noch? Greift sie an!”

Aber die Menschenmenge reagierte nicht. Ein Gemurmel erhob sich, und die Leute schienen hin- und hergerissen.

Andreas dachte an Robert und an seinen Vortrag. Die Parkplatzsuche, der Eisbär, die höchst seltsamen Vorkommnisse des vergangenen Abends, der jetzt wie ein Traum erschien, der langsam verblasste. Wenn Para Recht hatte und er wirklich ein Gott in dieser Welt war, konnte er dann Einfluss nehmen auf die Menschen? Hatten die unbewaffneten Gläubigen überhaupt eine Chance gegen die Na’e Vykati mit ihren Säbeln?

Sicher, das hier war ein Spiel. Aber wenn er eine Chance haben wollte, musste er eine Ebene nach oben aufsteigen - vom Spieler zum Admin. Er musste den Cheat-Modus anstellen, direkt in den Programmcode gehen. Das Szenario ändern.

“Anicham xe sued menied tim tztej tsi saw?” fragte Andreas.

“Dludeg”, entgegnete Sathi.

Aus dem Augenwinkel sah Andreas, wie fünf Pilger eine Wache angriffen und überwältigten. Einer nahm den Säbel an sich und erschlug die nächste Wache. Das blieb den anderen Wachen nicht unbemerkt. Sie griffen den kühnen Pilger an, doch der erfuhr Unterstützung. Andere Pilger griffen jetzt auf Seiten der Na’e Vykati ein. Sie versuchten, die Feueranbeter abzudrängen, damit sie nicht zur Pyramide gelangten. Die Unruhen griffen um sich. Wer keinen Säbel hatte, nahm Füße und Fäuste zur Verteidigung und zum Angriff. Wenig später war der gesamte Vorplatz ein einziges Tohuwabohu.

“Genug!” rief Para, aber nur die wenigen, die auf der Pyramide standen, konnten ihn hören. “Werft sie ins Feuer!”

Die Wachen führten Andreas und Hatana an eine provisorische Treppe, die bis direkt ans Feuer führte. Na’e Vykati standen mit den Feuerwehrschläuchen in der Hand auf den Stufen. Jetzt waren es nur noch wenige Schritte bis zum Feuer. Die Menschenmassen am Fuß der Pyramide konnten sie jetzt auch nicht mehr retten. Para war fest entschlossen, ihn zu töten. Das war sicher. Und gegen die Na’e Vykati kam er auch nicht an. Es waren einfach zu viele, die fest auf Paras Seite standen.

Plötzlich wurden Hatana und Andreas von Krallen gepackt und in die Luft gehoben. Die Pyramide, auf der immer noch das Feuer des Aga brannte, wurde kleiner und kleiner. Ein heißer Feuerstrahl wie aus einem Bunsenbrenner traf plötzlich drei Na’e Vykati, die gerade einen Schlauch hielten. Die Männer waren auf der Stelle geröstet. Ein weiterer Feuerstrahl ging hernieder. Es traf den nächsten Schlauch, der sich ebenso schnell verflüssigte wie die Männer, die ihn hielten. Dann der dritte Schlauch, dann der vierte. Andreas beobachtete, wie Para die Treppe hinunter flüchtete und schließlich in der Menschenmenge verschwand, die wie gebannt nach oben blickte - genau zu Andreas und Hatana, die nun in den Krallen eines fliegenden Tieres gefangen waren. Eines fliegenden Tieres, das Feuer spuckte. Eines Drachen.

“Ist das dein Deus ex Machina?” fragte Andreas.

“Nein”, sagte Sathi. “Das war ich nicht. Warst du das etwa?”

Andreas dachte nach, und aus den Tiefen seines Unterbewusstseins tauchte ein Gedanke auf, der für einen Sekundenbruchteil durch seinen Kopf geschossen war: Nur ein Drache kann uns retten. Er hatte den Cheat-Modus gefunden.

Der Drache flog einen weiteren Angriff auf einen Feuerwehrschlauch, der jetzt verwaist auf der Pyramide lag. Die Na’e Vykati waren geflohen. Sie waren die Pyramide herunter gerannt, so schnell sie konnten, waren in der Menge untergetaucht. Um auf Nummer Sicher zu gehen, ließ der Drache auch die Pumpen in Flammen aufgehen, eine nach der anderen.
Einige Pilger fielen auf die Knie und fingen an zu beten. Andere sahen zu, dass sie Land gewannen. Rennend strebten sie auf die vier Tore des Tempelbezirks zu. Na’e Vykati und Feueranbeter waren jetzt nicht mehr auseinanderzuhalten. Von einer Entscheidungsschlacht war jetzt nichts mehr zu sehen. Die Schlacht war entschieden. Die alten Götter hatten gesiegt. Und der Drache erhob sich hoch in die Luft, bis Andreas die ganze Stadt sah. Jetzt stand die Pyramide komplett in Flammen. Der Drache aber flog davon über Wälder und Sümpfe, über Flüsse und Seen, immer dem nächsten Ziel entgegen: Mandira.

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Dienstag, 30. Juli 2013
00110110 - Industrielle Revolution
Die Treppe führte sie in einen großen Innenhof, einen Patio, dessen Inneres mit gelbbraunem Schotter bedeckt war. Um den Patio herum führte ein Arkadengang sowie darüber eine Galerie. Vom Hof aus führten Türen in andere Räume. Nur ein großes Tor führte direkt ins Freie, und von dort drang die Rede. Jetzt konnte sie Andreas wesentlich besser verstehen.

“In wenigen Minuten wird er hier nach draußen treten. In wenigen Minuten werdet ihr ihn selber sehen können - und ihr werdet Zeuge sein eines neuen Zeitalters.”

Das war tatsächlich die Stimme von Robert Jonas - oder besser: von Para.

“Schenkt den Lügen der alten Religionen keinen Glauben. Macht Platz für eine neue Religion, für eine Umwälzung der kompletten Gesellschaft. Die Zeit ist reif, ein neues Kapitel in der Geschichte von Lemuria aufzuschlagen. Stellt euch vor: Wagen, die ohne Pferde fahren, Automaten, die alles herstellen, was ihr euch nur vorstellen könnt, freundliche Drachen, die sich durch das Land bewegen und euch an jeden Ort transportieren, an den ihr wollt. Ihr müsst nicht mehr auf den Feldern schuften, ihr arbeitet in Zukunft in riesigen Hallen, Burgen und Palästen an magischen Automaten. Es gibt sie schon in unserem Tempel der Na’e Vykati. Wir stellen in Gahare Ranga Gewänder her - so weich, wie nur Könige sie haben - und doch kann sie sich jeder leisten. Wir stellen Eisenklingen her, härter als alle Eisenklingen, von denen ihr je gehört habt. Und wir stellen das hier her:”

Ein Schuss ertönte, und Andreas hörte kurz darauf, wie Panik ausbrach. Hunderte, ja Tausende von Menschen, vorwiegend Männer, riefen durcheinander von wilder Angst getrieben.

Hatana und Andreas traten ins Freie, und dann sahen sie ihn: Para stand ganz oben auf der Pyramide direkt vor dem Heiligen Feuer des Aga. Neben dem Feuer sah er aus wie ein winziges Wichtelmännchen. Aber Andreas sah genau, dass er eine Schusswaffe in seiner Hand hielt - ein einfaches Gewehr, noch dazu ein Vorderlader. Es sah richtig antik aus, aber für die Menschen von Lemuria, die bisher noch nie eine Schusswaffe gesehen hatten, war das High-Tech. Andreas fragte sich, woher Para das Wissen hatte oder ob es wirklich Robert war, der in diese Welt gekommen war mit all dem Wissen, das er aus seiner eigenen Welt her kannte.

“Diese Welt ist reif für ein neues Zeitalter”, sagte Para, und das Gemurmel unter den Lemurianern verstummte. Es waren tatsächlich Tausende, die sich rund um die Pyramide versammelt hatten. Nicht alle waren Na’e Vykati, obwohl sie allesamt in Weiß gekleidet waren - die meisten trugen die Kleidung der Pilger. Und sie alle schienen in den Bann gezogen von dem, was da auf der Pyramide geschah. Obwohl er so weit weg war, dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnten, hatte er sie in der Hand. Sie hingen an seinen Lippen.

“Es wird ein Zeitalter, in dem es keine Könige mehr gibt. Nicht alle sind gleich, aber alle haben die gleichen Chancen, nach oben aufzusteigen. Jeder kann reich und mächtig werden, wenn er sich nur anstrengt. Es wird ein Zeitalter, in dem uns die Automaten die harte Arbeit abnehmen. Wir werden mehr Zeit haben, uns den angenehmen Dingen zu widmen. Es wird ein Zeitalter, in dem wir innerhalb kürzester Zeit von einem Ort in Lemuria zum anderen kommen werden. Wir werden nur noch einen Tag für eine Reise brauchen, für die wie früher zwanzig Tage brauchten. Es wird eine Zeit, in der die alten Götter verschwinden werden, und neue Götter werden kommen. Götter die euch die Freiheit lassen, selber über Lemuria zu regieren. Vor vielen Jahrtausenden haben eure Vorfahren angefangen, den Boden zu bearbeiten, Vieh zu züchten und Dörfer zu gründen. Was jetzt kommt, wird euer Leben genauso verändern, wie die Landwirtschaft das Leben eurer Vorfahren geändert hat.”

Andreas bemerkte, dass rund um die Pyramide herum Pumpen aufgestellt waren. Sie sahen aus wie altertümliche Feuerwehrpumpen, die in Andreas’ Welt im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert benutzt wurden. Mechanische Pumpen im Handbetrieb. Alle diese Pumpen wurden von jeweils mindestens fünf Na’e Vykati flankiert. Die Schläuche führten allesamt hoch auf die Pyramide. An ihren oberen Enden standen weitere Na’e Vykati mit den Schläuchen in der Hand wie Feuerwehrleute, die auf den Befehl zum Löschangriff warteten. Andreas zählte die Pumpen, hörte aber bei zwanzig auf als er merkte, dass er bisher nur einen Bruchteil erfasst hatte und dass auf der Rückseite der Pyramide sicherlich auch noch welche standen. Er fragte sich, wie Para all diese Pumpen unbemerkt nach Aga geschafft hatte. Diese Aktion musste schon seit sehr langer Zeit geplant sein.

“Irgendwelche Vorschläge?” fragte Hatana.

“Langsam”, sagte Andreas. “Lass mich nachdenken.”

“Viel Zeit zum Nachdenken haben wir nicht.”

“Kann ich nicht den Spielstand speichern und eine Nacht darüber schlafen?”

“Willst du riskieren, dass das Feuer von Aga erlischt - und mit ihm alle Feuer, die es gibt? Wir können nichts mehr kochen, müssen uns von Rohkost ernähren, und im Winter wird es erbärmlich kalt.”

“Hier geht es nicht um das Feuer von Aga”, sagte Andreas. “Hier geht es darum, den Glauben an die Götter zu erschüttern.”

“Euch ist gesagt worden, wenn das Feuer von Aga erlischt, wird kein Feuer mehr brennen - in ganz Lemuria nicht und auch nicht den anderen Welten. Auch ich habe diesen Glauben mit verbreitet. Das ist aber großer Quatsch.”

“Er sagt die Wahrheit”, flüsterte Andreas.

“Wie kommst du darauf?” fragte Sathi.

“Wenn er hier so etwas wie eine Industrielle Revolution veranstalten will, und darauf will er - denk ich hinaus - braucht er weiterhin Feuer. Sonst funktioniert das ganze nicht. Wenn er mit dem Feuer von Aga tatsächlich jedes Feuer erlischt, scheitert sein ganzer grandioser Plan.”

“Und was ist, wenn er sich irrt?”

“Wenn er nur den geringsten Zweifel daran hat, wird er es nicht tun. Wenn er es aber tut, dann ist er sich seiner Sache 100prozentig sicher. Wie Bonifatius.”

“Bonifatius?”

“Bonifatius fällte eine dem Gott Donar geweihte Eiche in Fritzlar, um den Germanen zu zeigen, dass die heidnischen Götter nicht existieren oder zumindest keine Macht haben. Aus eben demselben Grund will Para das Feuer von Aga löschen.”

“Das heißt, wir müssen ihn gar nicht daran hindern.”

“Nein, das müssen wir nicht. Wir sollten uns davon stehlen und das Feuer von Mandira holen.”

Er wollte es gerade tun, als er von zwei Na’e Vykati festgehalten wurde. “Wohin so eilig?” fragte einer von ihnen.

Andreas drehte sich nach Hatana um, doch ihn hatten sie auch festgenommen. Nur Sathi, dem die Wachen keine Beachtung schenkten, hatte Bewegungsfreiheit. Und bevor Andreas irgendetwas sagen konnte, rammte Sathi einer der beiden Wachen seinen Dolch in die Halsschlagader. Andreas wollte den daraufhin ausbrechenden Tumult ausnutzen, seinen Säbel ziehen und die Wachen abstechen, doch der Krieger nahm ihn in den Polizeigriff, und wenig später waren zwei andere Na’e Vykati zur Stelle, die ihn so festhielten, dass er sich nicht wehren konnte. Auch Hatana war gleich von mehreren Kriegern in Schach gehalten worden. Und sie führten sie durch die Menschenmenge, die sich vor ihnen teilte wie das Rote Meer vor Moses. Immer weiter auf die Pyramide zu.

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Montag, 29. Juli 2013
00110101 - Götterdämmerung
Andreas hatte nicht bemerkt, wie Sathi in die Gefängniszelle gehuscht war. In seiner Hand hatte er den Zellschlüssel.

“Wie hast du...” flüsterte Andreas.

“Schschsch”, sagte Sathi und deutete auf den schlafenden Gefängniswärter.

“Wie hast du den Schlüssel geholt und den Typen zum Schlafen gebracht?”

“Deus ex machina”, wisperte Sathi.

“Der Gott aus der Maschine?”

“Ja, und jetzt lass uns verschwinden.”

“Und Para das Feuer von Aga stehlen lassen?”

“Nein, ihn daran hindern.”

Das war leicht gesagt. Sie waren nur zu dritt - zwei Männer und ein Wichtel. Die Lemuren hatten sie bei den Pferden am Stadtrand zurückgelassen. Ihnen gegenüber stand eine wahre Übermacht. Die Na’e Vykati waren zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden angereist. Sie hatten alle Priester und Mönche des Heiligtums getötet. Und sie hatten die kleine Gruppe schon einmal überwältigt. Es war nahezu aussichtslos. Aber vor vielen Jahren hatte Andreas mal im Alleingang eine ganze Bande von Orks in den Höhlen von Surya Hila besiegt. Also bestand Hoffnung.

Hatana nahm sich den Säbel des Wachmanns, der immer noch schlief. Vermutlich hatte ihn Sathi unter Drogen gesetzt. Diese Wichtel kannten sich mit Kräutern aus. Gut möglich, dass er dem Wächter ein starkes Schlafmittel verabreicht hatte.

Der Weg nach draußen führte durch einen dunklen Gang. Hatana ging voran - in der einen Hand die Fackel, in der anderen den Säbel. Jeden Moment konnte einer der Na’e Vykati um die Ecke kommen. Und tatsächlich: Da war schon einer. Aber der Kampf war kurz. Geistesgegenwärtig ließ Hatana den Säbel durch die Luft sausen, und im nächsten Moment war sein Gegner ein Kopf kürzer. So liebte es Andreas: Sein Begleiter machte für ihn die Arbeit. Doch um auf Nummer sicher zu gehen, nahm er den Säbel des Enthaupteten an sich.

Weiter ging es durch den dunklen Gang, wo ihre Schritte an den Mauern links und rechts widerhallten, wo die Fackel unheimliche Schatten an die Wände warf - ähnlich wie in Platos Höhlenparabel. Sie wagten nicht, miteinander zu reden - bis sie nach einer langen Zeit, die kein Ende zu nehmen wollte, an eine Gabelung kamen.

“Wo jetzt?” fragte Andreas.

Hatana zuckte die Achseln. “Eigentlich egal. Das schlimmste, was passieren kann, ist, dass wir einen Umweg laufen.”

“Oder dass wir dem Feind direkt in die Arme laufen!” entgegnete Sathi.

“Taktisch ist es hier unten gar nicht so schlecht”, meinte Hatana. “Hier unten kann immer nur einer auf einmal gegen uns kämpfen. Zwei, wenn sie auch von hinten kommen. Wir werden hier leicht mit ihnen fertig.”

“Dein Wort in der Götter Ohren”, sagte Sathi.
Sie entschieden sich für den linken Gang, und wieder trat den dreien ein Anhänger der Na’e Vykati entgegen, und wieder bezahlte er mit dem Leben, als Hatana den Säbel durch die Luft sausen ließ. Der Kopf des Mannes rollte Andreas vor die Füße. Achselzuckend stieg er drüber. Wenig später kamen zwei auf einmal, aber auch diese besiegte Hatana schnell und ohne Probleme.

“Langsam wird es langweilig”, bemerkte Andreas.

“Sei besser nicht so vorlaut”, bemerkte Sathi, der auf Andreas’ Schulter saß. “Denk lieber an die Schlacht von Ucca Patthara. Da sah es für dich eher brenzlig aus.”

Das stimmte. Die Orks hatten ihn fast am Wickel. Ohne die Kavallerie, die der König von Madhya Lemuria losgeschickt hatte, hätte er dieses Abenteuer nie bestehen könnte. Wieder fragte er sich, ob ein Tod in Lemuria auch seinen Tod in der wirklichen Welt zur Folge hatte oder ob er dann ganz einfach dort aufwachte, als wäre nichts gewesen. Er wollte es nicht ausprobieren.

Endlich sahen sie schwach schimmerndes Tageslicht. Ein Windstoß brachte die Fackeln zum Flackern. Hatana ging jetzt schneller. Andreas hatte Mühe hinterherzukommen. Und das, obwohl er in dieser Welt durchaus gut bei Fuß war. Jetzt konnte er auch etwas hören. Jemand redete. Noch konnte er keine Worte verstehen, aber es war definitiv die hochlemurische, also die deutsche Sprache, die er vernahm. Auch die Stimme erkannte er noch nicht. Er war generell nicht sehr gut darin, Stimmen zu verstehen, und auch in Lemuria änderte sich daran nichts. Er erkannte nur, dass derjenige männlich war und laut redete - sehr laut sogar. Aber er schrie oder brüllte nicht. Er redete wie Pfarrer auf seiner Kanzel oder wie ein Politiker in einer Zeit geredet haben musste, als das Mikrofon noch nicht erfunden war. Das erste Wort, das er verstand, war: Götterdämmerung. Der Rest ging wieder unter in einem allgemeinen Brei von Lauten - vor allem als erneut wieder einige Wächter mit lautem Gebrüll wie Ninjas auf sie zu stoben - diesmal sogar von beiden Seiten. Andreas schnappte sich seinen Säbel schlachtete den ersten ab. Ein Stoß in den Hals. Der Angreifer röchelte und sackte zusammen. Der nächste, bitte. Andreas ließ den Säbel durch die Luft sausen, und wieder flog ein Kopf durch die Luft. Aber er hatte keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Blitzschnell setzte er das Gemetzel fort. Diesmal ein tödlicher Stoß in den Bauch. Der Säbel kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein. Der nächste konnte nicht warten, bis Andreas die Waffe wieder aus dem Körper des Sterbenden gezogen hatte. Er versuchte seinerseits, Andreas zu köpfen. Dieser duckte sich blitzschnell. Sathi sprang auf die Schulter des Angreifers und bohrte seinen eigenen Dolch, der etwa die Größe einer Nagelfeile hatte, mitten in die Halsschlagader des Na’e Vykati. Er griff an seinen Hals. Blut pulsierte über seine Hände. Dann sackte auch er zusammen. Um den nächsten konnte sich Andreas wieder selber kümmern, und er machte ihn einen Kopf kürzer. Damit waren wieder sämtliche Angreifer erledigt.

Für einen Moment fühlte sich Andreas wie in einem Computerspiel, aber der Moment war kurz. Jetzt galt es, seine eigene Haut zu retten - und wie so oft die Welt von Lemuria.

Sie erreichten eine enge Treppe, die direkt ins Tageslicht führte. Weitere Wächter gab es hier nicht. Hatana eilte sich, nach draußen zu kommen, obwohl er wusste, dass sie dort auf die taktischen Vorteile würden verzichten müssen, die sie bisher im engen Korridor hatten. Der Tempelbezirk war voll von riesigen Plätzen und weiten Räumen. Gegen eine Übermacht konnten sie dort nur schwer ankommen.

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Mittwoch, 17. Juli 2013
00110100 - Am Faden zieht die Macht
“Wie ist das zu verstehen?” fragte Andreas, und im nächsten Moment stand er wieder in dem Raum, in dem sich das Sundari-Projekt befand - oder besser: Er stand zweimal dort. Vom Eingang aus beobachtete er, wie er selbst vor der Wand aus Monitoren auf dem Laufband stand - bekleidet mit dem Datenanzug. Zuerst erkannte er sich selbst nicht, doch als ihm bewusst war, dass er auf seinen eigenen Körper blickte, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter.

“Weißt du denn, was eine außerkörperliche Erfahrung ist?” fragte Robert, doch anstatt eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. “Die Gesellschaft des Neuen Menschen glaubt - oder vielmehr: glaubt zu wissen, dass die menschliche Seele schon zu Lebzeiten ihren Körper verlassen kann. Wie auch immer: Das geht nur mit Meditationstechniken, die viel Übung, Geduld und Disziplin erfordern. Doch die Erfahrungen, die der Mensch damit macht - dass er sich selber außerhalb seines eigenen Körpers erlebt -, diese Erfahrungen sind auch durch das Sundari-Projekt möglich. Ich gebe zu: Es ist etwas gruselig, aber du erlebst dich in diesem Moment als außerhalb deines eigenen Körpers stehend - als Geist, der sich selbst beobachtet.”

“Du hast recht”, raunte Andreas. “Es ist gruselig.”

“Meditation ist der Schlüssel zu allem”, fuhr Robert fort. “Du musst meditieren, dein Inneres nach außen kehren, versuchen, eine außerkörperliche Erfahrung herbeizuführen. Dann wirst du verstehen.”

Er ging ein paar Schritte in den Raum hinein, und Andreas folgte ihm. Ihm wurde unbehaglich zumute. Wo genau war er jetzt? Stand er wirklich noch auf dem Laufband oder mitten im Raum? Er hob seinen rechten Arm und beobachtete, wie sein anderes Ich auf dem Laufband ebenfalls den rechten Arm hob. Das gleiche mit dem linken Arm. Er ging ein paar Schritte. Gleichzeitig ging auch sein anderes Ich auf dem Laufband ein paar Schritte, doch im Gegensatz zu ihm selber bewegte sich sein Ebenbild nicht fort.
Nein, er war eigentlich derjenige auf dem Laufband, und sein Ebenbild war derjenige, durch dessen Augen er gerade sah. Nein, das war einfach zu verwirrend.

“Merkst du jetzt, worauf ich hinaus will?” fragte Robert. “Weißt du jetzt, wie sich ein Avatar fühlt? Wer kann noch sagen, welche Welt die wirkliche ist und welche nicht? Wer bist du wirklich? Derjenige im Datenanzug oder derjenige im Raum? Der Beobachter oder derjenige, der beobachtet wird?”

Andreas schwirrte der Kopf. Sein Verstand wusste, welcher von beiden der echte war, aber sein Gefühl sagte genau das Gegenteil. Nicht er steuerte den Avatar, sondern sein Avatar steuerte ihn.

“Mit dir und deiner Seele ist es genauso”, sagte Robert. “Sie steuert dich von außen, und doch hast du das Gefühl, dass du sie steuerst. Du identifizierst dich mit deinem Avatar - dabei bist du mehr als das.”
Sie gingen noch weiter auf die beiden Menschen in ihren Datenanzügen zu. Robert umrundete sich selbst einmal schweigend. Andreas sah sich selber an, streckte seine Hand aus und fuhr über den Datenanzug. Es fühlte sich so echt an. Dabei spürte er, wie er mit der Hand sein anderes Ich berührte, nicht wie er selbst berührt wurde. Er sah aber, wie die andere Gestalt etwas in der Luft zu berühren schien. Es war verwirrend, wie die Figur vor ihm jede seiner Bewegungen ausführte. Dabei hatte er längst das Gefühl für sich selbst verloren. Derjenige, der vor ihm auf dem Laufband im Datenanzug stand, war nicht er selber. Es war eine Marionette, die er bewegte. Ein Lied schoss ihm durch den Kopf. Marionetten. Goethes Erben. “Kabelwesen, weißes Licht, Puppeneifersucht, am Faden zieht die Macht.” Nur wer war die Macht?
Robert, der Avatar-Robert, sah ihn an und grinste.

“Ich denke, wir können die Lektion für heute beenden. Du hast schon viel gelernt - aber du musst noch viel lernen. Und vergiss eines nicht: Stell immer alles in Frage. Alles, was du nicht selbst erlebt hast, existiert nicht. Und frage dich immer, ob du überhaupt deinen Sinnen trauen kannst - oder deinem Gehirn, das alles interpretiert, was du mit Sinnen wahrnimmst. Ich werde uns jetzt vom Sundari-Projekt trennen. Es wird sich jetzt etwas ungewohnt anfühlen.”

Plötzlich wurde Andreas schwarz vor Augen. Er nahm den Datenhelm ab. Der Raum war genau der selbe, in dem er eben noch gestanden hatte. Er blickte sich um, sah auf die Stelle, an der er sich eben noch befunden hatte - aber da war niemand. Robert lachte.

“Ein seltsames Gefühl, nicht wahr? Als wäre die Seele in den Körper zurückgekehrt.”

“Gruselig”, sagte Andreas.

Robert gähnte. “Ich bin müde. Wir sollten uns verabschieden. Wenn du mehr über das erfahren willst, was du heute gelernt hast: Lies meine Bücher. Eins davon hast du ja schon. Komm mit nach draußen. Ich bestell dir ein Taxi.”

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Mittwoch, 10. Juli 2013
00110011 - Berlin, Alexanderplatz
Obwohl Andreas weiterhin auf dem Boden stand, verschwand dieser plötzlich unter ihm in der Tiefe. Immer höher stieg er empor in den Nachthimmel. Bald sah er die ganze Stadt um sich, dann die Vororte des Speckgürtels und schließlich das gesamte Bundesland. Wenig später lag ihm Deutschland buchstäblich zu Füßen. Von der Nordsee bis zum Bodensee erstreckte sich ein schwarzes Land, das zwischendrin von gelben Lichtflecken durchbrochen war. Im Westen das Ruhrgebiet, in der Mitte das Rhein-Main-Gebiet, im Norden Hamburg und Bremen, im Osten Berlin, und im Süden waren Stuttgart und München deutlich als gelbe Strukturen auf einer ansonsten schwarzen Karte zu erkennen. Doch die Aussicht auf die ganze Republik konnte Andreas nur kurz genießen. Dann ging es wieder nach unten. Mit der Geschwindigkeit eines Formel-Eins-Wagens raste Berlin auf ihn zu. Schon bald konnte er die Seen erkennen, wenig später die Straßen, den Großen Stern, die Straße des 17. Juni, kurz darauf die großen Gebäude wie den Reichstag, das Brandenburger Tor, den Sony-Center oder den Fernsehturm am Alexanderplatz. Auf diesen flogen sie jetzt zu. Die Häuser und auch der Turm wurden größer, schon fiel Andreas’ Blick auf die Weltzeituhr, und wenig später standen sie auf dem Alexanderplatz, direkt neben dem Brunnen der Völkerfreundschaft.

“Das ist wie Google Street View”, bemerkte Andreas.

“Besser als Google Street View”, entgegnete Robert. “Um es mit den Worten von Depeche Mode zu sagen: Let me take you on a trip around the world and back, and you won’t have to move, you just sit still. Und das beste ist: das sind alles Live-Bilder.”

Eine Gruppe Jugendlicher überquerte den Platz. Sie trugen dunkle Kleidung, die Kapuzen ihrer Pullover hatten sie über die Haare gezogen. Sie schienen miteinander zu reden und zu lachen, aber Andreas hörte nicht, was sie sagten.

“Wir sind Geister in dieser Welt”, sagte Robert. “Wir sind hier und doch nicht hier.” Und er ging auf die Jugendlichen zu, machte keine Anstalten, ihnen auszuweichen. Voller Erstaunen sah Andreas, wie Robert wie ein Geist durch sie hindurch ging. Sie schienen noch nicht einmal was gemerkt zu haben. Wie sollten sie auch? Sie gingen durch das ferne Berlin, zig Kilometer von ihnen entfernt.

“Lange Schlangen vor Sehenswürdigkeiten wird es nicht mehr geben”, sagte Robert, und obwohl er jetzt genau auf der anderen Seite des Platzes stand, konnte Andreas ihn deutlich neben sich hören. “Millionen von Menschen können gleichzeitig den Taj Mahal sehen. Millionen von Menschen können gleichzeitig auf dem Teide die Sonne aufgehen sehen - oder in Machu Picchu. Wir können zum Nordpol, zum Südpol, auf den Mount Everest - wohin wir auch wollen. Oder aber wir können Verbrechen verhindern: Morde, Vergewaltigungen, Terroranschläge. Wir können diese Welt zu einer besseren Welt machen.”

“Findest du das richtig? Dass wir alle beobachtet werden, ohne es zu wissen? Wir werden beobachtet bei dem, was wir tun, wenn wir uns unbeobachtet fühlen. Ich finde das unheimlich.”

“Hey, ich rede über den öffentlichen Raum. Nicht über Wohnungen, Toiletten oder Umkleidekabinen. Ich rede über Straßen und Plätze, allenfalls über Bahnhöfe, vielleicht auch über Schulen. Jeder, der in die Öffentlichkeit geht, muss damit rechnen, dass er beobachtet wird.”

“Nein”, sagte Andreas. “Das ist nicht richtig. Stell dir vor, du hättest eine Stalkerin. Egal, wo du auch bist: Sie wird dich immer beobachten. Mir fällt hier weniger Depeche Mode ein als The Police: Every step you take, every move you make, I’ll be watching you. Das ist gruselig.”

“Gruselig oder nicht: Es wird kommen. Du kannst dich nicht dagegen wehren. Jeder Mensch ist ein Prominenter, und jeder wird alles über jeden erfahren können. Das ist doch zum Teil heute schon so.”

“Es gibt Leute, von denen will ich nicht, dass sie alles über mich erfahren.”

“Komm schon, was hast du zu verbergen?”

“Eine ganze Menge. Ich will nicht, dass jeder weiß, was ich einkaufe oder wo ich mich jetzt in diesem Moment gerade aufhalte. Ich will das nicht.”

“Du kannst dich nicht dagegen wehren. Wie ich sagte: Es wird kommen. Big Brother is watching you. Außer dass Big Brother nicht der Staat ist, sondern jedermann. Das nennt man Demokratie.”

“Das nennt man Wahnsinn.”

“Es wird kommen. Wenn es nicht wir machen, machen es andere. Google, Facebook, CIA, FBI, SWR, Mossad, Verfassungsschutz, Volksrepublik China, Nordkorea, die Illuminaten, wer auch immer.”

“Das Sundari-Projekt ist also kein Reisebüro.”

“Wir stellen die Technologie. Was die Menschen damit machen, ist ihre Sache. Dies hier wird die Welt verändern. Jede Erfindung bisher konnte zum Segen oder zum Fluch der Menschheit verwendet werden. Mit dem Sundari-Projekt ist es nicht anders.”

“Du bist wahnsinnig.”

“Nein, realistisch. Früher oder später wird diese Zeit kommen. Besser, du bist schon jetzt darauf vorbereitet. Wir beide gehören einer aussterbenden Spezies an. Wir haben noch die Zeit vor PC, Internet und Mobiltelefon kennen gelernt. Die heutige Generation ist ganz anders. Die jungen Leute wachsen in eine Welt hinein, in der sie mit einem Klick all ihre Freunde über jeden Schritt, den sie tun, informieren können. Und das jederzeit. Und überall. Das hier ist nur die logische Konsequenz, das Ende einer langen Entwicklung. Vielleicht gefällt es dir nicht. Genau so wenig wie es vielleicht den Bauern im 19. Jahrhundert in Mittelengland gefallen hat, als plötzlich Schornsteine in die Höhe wuchsen. Den Fortschritt kannst du nicht aufhalten - ob es dir gefällt oder nicht. Und die Technik wird die Gewohnheiten der Menschen fundamental verändern - wie schon zweimal zuvor in der Geschichte der Menschheit. Ich spreche von der Neolithischen und der Industriellen Revolution. Wir leben in einer der drei spannendsten Zeiten, der bisherigen Menschheitsgeschichte. Sei dir dessen bewusst.”

“Es gibt einen chinesischen Fluch, der heißt: Mögest du in interessanten Zeiten leben”, sagte Andreas.

“Segen oder Fluch - das ist sehr oft Ansichtssache”, entgegnete Robert. “Wie auch immer: Berlin, Alexanderplatz ist nicht das Ende unserer Reise. Mach dich bereit mit einer Begegnung mit dem eigenen Selbst.”

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Montag, 8. Juli 2013
00110010 - Schlossplatz
Der Schlossplatz lag im Dunkeln. Nur einige vereinzelte Straßenlaternen spendeten spärliches Licht. Menschen gab es hier kaum. Nur ab und zu zogen ein paar Teenager wankend die Fußgängerzone entlang. Auf einer Parkbank in der Nähe saß eine dunkle Gestalt, den Kopf in die Hände gestützt. Sie bewegte sich nicht. Im Pavillon stand ein Liebespaar, das sich unbeobachtet fühlte. Er hatte seine rechte Hand auf ihren Arsch gelegt, und die beiden knutschten wohl länger als Andreas in seinem gesamten Leben. Er schien regelrecht über sie herzufallen. Soweit es Andreas bei der Dunkelheit erkennen konnte, hatte sie lange, dunkelblonde Haare. Er hatte die Haare gelbblond gefärbt. Auf seinem Nacken zeichnete sich im Schein einer Straßenlaterne ein Tattoo ab, das einen Drachen darstellte.

Andreas stand auf dem Rasen, was seltsam war, da er nie zuvor dort gestanden hatte. Schon oft war er auf dem Schlossplatz gewesen - aber eben noch nie auf dem Rasen. Immerhin war das verboten. Dass das in dieser Stadt kaum jemanden juckte, störte Andreas nicht. Verboten blieb verboten - ganz gleich, ob es kontrolliert wurde oder nicht.

An die absolute Stille dagegen musste sich Andreas erst gewöhnen. Der Helm schirmte ihn von den Geräuschen des Computerraums ab - das leise Surren der Server, die Bewegungen seiner eigenen Füße auf dem Laufband. Nichts davon hörte er. Aber auch nicht die Geräusche der Stadt. Nicht das Rauschen des Windes, den er in seinem Gesicht spürte. Nur sein eigener Atem drang an sein Ohr.

Er ging in die Hocke, fuhr mit der Hand durch das Gras. Es fühlte sich echt an. Irgendwie weich. Er ließ die Rasenspitzen durch seine Finger gleiten. Ein schönes Gefühl.

Neben ihm materialisierte sich Robert. Aber er sah nicht ganz so aus wie Robert - mehr wie eine 3D-animierte Karikatur seines ehemaligen Schulkameraden. Als hätte eine Flash-Animation seines Begleiters die dritte Dimension entdeckt.

“Sehe ich auch so komisch aus wie du?” fragte Andreas.

“Noch komischer”, war die Antwort. “Der Computer hat von dir noch keine ausreichenden Muster und hat dir deshalb einen Standard-Avatar verpasst. Aber keine Sorge: Ich bin der einzige, der dich sehen kann. Für alle anderen sind wir unsichtbar.”

Andreas ging auf die Säule zu, die sich in der Mitte des Platzes in den Himmel erhob. Dabei übersprang er ein kleines Beet mit Stiefmütterchen. Robert schüttelte den Kopf. “Du musst noch einiges lernen”, sagte er. Obwohl er inzwischen weiter weg war, hörte Andreas ihn laut und deutlich, als stünde er direkt neben ihm. Dann ging er durch das Stiefmütterchenbeet hindurch. Andreas sah, wie Robert direkt auf die Blumen trampelte, ohne dass diese Schaden davon nahmen. Sie blühten weiterhin, als wäre nichts gewesen.

“Du darfst nicht vergessen, dass wir nicht wirklich auf dem Schlossplatz sind. Das hier ist nur ein Abbild, eine Illusion.”

Er rannte auf einen der beiden Brunnen zu. Sie waren abgeschaltet, doch trotzdem sammelte sich im Becken unter den Brunnenschalen das Wasser. Robert sprang direkt hinein, blieb aber auf der Wasseroberfläche stehen. Er ging ein paar Schritte wie Jesus auf dem See Genezareth.

“Der Computer kann die optischen Eigenschaften von Wasser gut simulieren”, sagte er. “Leider versagt er, wenn es darum geht, ein Gefühl von Wasser zu vermitteln. Das Wasser im Becken ist wie ein Festkörper. Tagsüber, wenn die Brunnen angeschaltet sind und du die Hand unter einen Brunnenstrahl hältst, spürst du gar nichts.”

“Alles schön und gut”, sagte Andreas. “Aber was soll das ganze? Warum erschafft Lemuria eine komplette Welt, die nichts anderes ist als unsere Welt?”

“Es ist etwas anderes. Stell dir vor, was man damit alles machen kann: Über kurz oder lang wird die ganze Welt im Lemuria-Projekt erhalten sein. Du kannst damit in ferne Länder reisen, ohne ein Flugzeug zu besteigen. Du brauchst keine Angst haben vor gewalttätigen Räubern und Erpressern, vor zu heißen oder zu kalten Temperaturen oder vor Krankheitserregern. Pass auf, halt dich fest. Wir reisen nach Berlin.”

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Sonntag, 7. Juli 2013
00110000 - Wanderer zwischen zwei Welten
Andreas wälzte sich im Bett hin und her. Sein Kopf dröhnte. Seine Augen waren feucht. Nie hätte er gedacht, dass er diese Niederlage so schwer verkraften würde. Er fühlte sich ausgequetscht wie eine Zitrone. Am liebsten würde er jetzt schlafen. Schlafen und sich nach Lemuria träumen - seine Zufluchtsstätte in Zeiten wie diese. Aber er konnte nicht. Immerzu musste er an Maja denken.
Vergiss Maja, dachte er. In Lemuria wartet die schöne Sundari auf mich.

Er hatte kaum zu Ende gedacht, als er sah, dass Sathi auf seiner Bettdecke saß und ihn anblinzelte.

“Sathi!” rief er erschrocken. “Was machst du hier?”

“Die Frage ist eher, was du hier machst”, sagte Sathi. “Du solltest eigentlich in der Schule sein.”

“Ich bin krank.”

“Krank oder -“ er machte eine Pause “unpässlich?”

In knappen Worten erzählte Andreas, was vorgefallen war. Sathi nickte nur stumm.

“Die Prinzessin wird nicht sehr erfreut sein, wenn sie erfährt, dass du - nunja - zweigleisig fährst.”

“Du wirst ihr doch hoffentlich nichts davon erzählen, oder?”

Sathi schüttelte den Kopf. “Ich verstehe dich nicht. Du hast in Lemuria die tollste Frau aller Welten, und du schiebst Liebeskummer wegen einer Schnepfe, die dich nicht will und dich nicht verdient hat.”

Andreas seufzte. Wie sagte er es Sathi am besten? Seit einiger Zeit hatte er ernsthafte Zweifel an der Existenz Lemurias. Es kam ihm alles so echt vor, wenn er dort war, doch wenn er wieder in seine eigene Welt zurückkehrte, verblassten wieder die Erinnerungen - so als wäre das alles ein Traum gewesen. So schön seine Erlebnisse auch waren und so sehr er sie auch brauchte, um für seine eigene Welt neue Kraft zu schöpfen: Lemuria war reine Einbildung. Da war sich Andreas sicher. Er wusste nicht, wie es ihm gelang, in seinen Träumen und Tagträumen eine Welt zu schaffen, die auf ihn so realistisch und in sich stimmig wirkte. Aber ihm war klar, dass Lemuria nicht wirklich existierte, und wenn er im wirklichen Leben etwas erreichen wollte, dann musste er auch hier nach Mädchen Ausschau halten. Es kam ihm nicht so vor, als würde er Sundari untreu. Sundari war für ihn ein Hirngespinst. Aber wie macht man einer Fantasiegestalt klar, dass sie nicht wirklich existiert?

“Das ist was anderes”, sagte er schließlich.

“So? Und was ist daran anders?”

“Ich bin ein Wanderer zwischen zwei Welten. Aber das hier, das ist meine Welt. Sie ermöglicht mir Erlebnisse, die in Lemuria nicht möglich sind. Und Lemuria ermöglicht mir Erlebnisse, die hier nicht möglich sind. Ich habe zwei Leben, und beide müssen bedient werden. Ich habe manchmal den Eindruck, wenn ich drüben bin, bin ich eine andere Person.”

“Es ist nicht einfach mit den zwei Welten, nicht wahr?” sagte Sathi. “Warum kommst du nicht einfach rüber in unsere Welt?”

“Ich weiß nicht, ob es so einfach möglich ist.”

“Natürlich ist es möglich. Du musst nur loslassen.”

Doch Andreas hatte Angst. Einmal hatte ihn seine Mutter mit in die Psychiatrische Klinik mitgenommen. Die beiden wollten seine Tante Ursula besuchen, die Schwester seiner Mutter, die dort wegen ihres Autismus lebte. Es gab dort Menschen, die apathisch in weite Ferne blickten und sich kaum bewegten.

“Was ist mit ihnen?” hatte Andreas gefragt.

“Sie leben in ihrer eigenen Welt”, sagte die Mutter. “Sie sind in eine Fantasiewelt geflüchtet und haben dabei den Bezug zur Realität verloren - und jetzt sind sie dort.”

“Meinst du, sie sind dort glücklich?”

“Das weiß keiner.”

“Nein”, sagte Andreas an Sathi gewandt. “Ich darf meine Welt nicht verlieren. Niemals.”

“Vielleicht hast du sie schon längst verloren und merkst es nur nicht?”

“Was willst du überhaupt, Sathi?”

“Dir helfen. Dir geht es schlecht, ich bin da. Also, Maja ist jetzt mit Robert zusammen. Das muss in diesem Alter noch nichts heißen. Wenn in deinem Alter zwei miteinander gehen, dann kann es sein, dass nach wenigen Wochen schon wieder alles vorbei ist. Das ist ganz normal.”

“Und was mache ich bis dahin? Ich meine, ich kann doch nicht die ganze Zeit krank sein.”

“Du musst lernen zu unterscheiden, was du ändern kannst und was nicht. Du musst das ändern, was du ändern kannst und das akzeptieren, was du nicht ändern kannst.”

“Na, tolle Wurst.”

“Kopf hoch. Es wird schon wieder. Und wenn du es nicht mehr aushältst, dann besuche Sundari. Sie wartet auf dich.”

“Aber was das schlimmste ist, ist gar nicht der Liebeskummer. Viel schlimmer ist: Maja hat mich verraten. Sie wollte mir helfen im Krieg gegen Robert. Sieht so ihre Hilfe aus?”

Sathi lächelte verschmitzt. “Vielleicht”, sagte er. “Sieh es doch mal so: Maja wollte dir im Krieg gegen Robert helfen. Vielleicht hat sie es ja getan. Glaubst du wirklich, sie verbündet sich mit Robert gegen dich? Robert hat jetzt ganz andere Sachen im Sinn. Der Krieg ist ihm jetzt nicht mehr wichtig. Die Liebe hat den Krieg besiegt - wie so oft in der Geschichte. Du wirst sehen: So lange die beiden zusammen ist, wird Robert Ruhe geben - oder dich zumindest nicht mehr ganz so penetrant nerven. Das ist Majas Art, den Konflikt zwischen euch zu lösen.”

Und Sathi hatte Recht. Auch wenn es Andreas wehtat, die beiden miteinander zu sehen: Die nächste Zeit gab Robert Ruhe, und auch die anderen Schulkameraden schienen sich auf einen stillschweigenden Waffenstillstand geeinigt zu haben und belästigten ihn vorerst nicht mehr.

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