Mittwoch, 10. Juli 2013
00110011 - Berlin, Alexanderplatz
Obwohl Andreas weiterhin auf dem Boden stand, verschwand dieser plötzlich unter ihm in der Tiefe. Immer höher stieg er empor in den Nachthimmel. Bald sah er die ganze Stadt um sich, dann die Vororte des Speckgürtels und schließlich das gesamte Bundesland. Wenig später lag ihm Deutschland buchstäblich zu Füßen. Von der Nordsee bis zum Bodensee erstreckte sich ein schwarzes Land, das zwischendrin von gelben Lichtflecken durchbrochen war. Im Westen das Ruhrgebiet, in der Mitte das Rhein-Main-Gebiet, im Norden Hamburg und Bremen, im Osten Berlin, und im Süden waren Stuttgart und München deutlich als gelbe Strukturen auf einer ansonsten schwarzen Karte zu erkennen. Doch die Aussicht auf die ganze Republik konnte Andreas nur kurz genießen. Dann ging es wieder nach unten. Mit der Geschwindigkeit eines Formel-Eins-Wagens raste Berlin auf ihn zu. Schon bald konnte er die Seen erkennen, wenig später die Straßen, den Großen Stern, die Straße des 17. Juni, kurz darauf die großen Gebäude wie den Reichstag, das Brandenburger Tor, den Sony-Center oder den Fernsehturm am Alexanderplatz. Auf diesen flogen sie jetzt zu. Die Häuser und auch der Turm wurden größer, schon fiel Andreas’ Blick auf die Weltzeituhr, und wenig später standen sie auf dem Alexanderplatz, direkt neben dem Brunnen der Völkerfreundschaft.

“Das ist wie Google Street View”, bemerkte Andreas.

“Besser als Google Street View”, entgegnete Robert. “Um es mit den Worten von Depeche Mode zu sagen: Let me take you on a trip around the world and back, and you won’t have to move, you just sit still. Und das beste ist: das sind alles Live-Bilder.”

Eine Gruppe Jugendlicher überquerte den Platz. Sie trugen dunkle Kleidung, die Kapuzen ihrer Pullover hatten sie über die Haare gezogen. Sie schienen miteinander zu reden und zu lachen, aber Andreas hörte nicht, was sie sagten.

“Wir sind Geister in dieser Welt”, sagte Robert. “Wir sind hier und doch nicht hier.” Und er ging auf die Jugendlichen zu, machte keine Anstalten, ihnen auszuweichen. Voller Erstaunen sah Andreas, wie Robert wie ein Geist durch sie hindurch ging. Sie schienen noch nicht einmal was gemerkt zu haben. Wie sollten sie auch? Sie gingen durch das ferne Berlin, zig Kilometer von ihnen entfernt.

“Lange Schlangen vor Sehenswürdigkeiten wird es nicht mehr geben”, sagte Robert, und obwohl er jetzt genau auf der anderen Seite des Platzes stand, konnte Andreas ihn deutlich neben sich hören. “Millionen von Menschen können gleichzeitig den Taj Mahal sehen. Millionen von Menschen können gleichzeitig auf dem Teide die Sonne aufgehen sehen - oder in Machu Picchu. Wir können zum Nordpol, zum Südpol, auf den Mount Everest - wohin wir auch wollen. Oder aber wir können Verbrechen verhindern: Morde, Vergewaltigungen, Terroranschläge. Wir können diese Welt zu einer besseren Welt machen.”

“Findest du das richtig? Dass wir alle beobachtet werden, ohne es zu wissen? Wir werden beobachtet bei dem, was wir tun, wenn wir uns unbeobachtet fühlen. Ich finde das unheimlich.”

“Hey, ich rede über den öffentlichen Raum. Nicht über Wohnungen, Toiletten oder Umkleidekabinen. Ich rede über Straßen und Plätze, allenfalls über Bahnhöfe, vielleicht auch über Schulen. Jeder, der in die Öffentlichkeit geht, muss damit rechnen, dass er beobachtet wird.”

“Nein”, sagte Andreas. “Das ist nicht richtig. Stell dir vor, du hättest eine Stalkerin. Egal, wo du auch bist: Sie wird dich immer beobachten. Mir fällt hier weniger Depeche Mode ein als The Police: Every step you take, every move you make, I’ll be watching you. Das ist gruselig.”

“Gruselig oder nicht: Es wird kommen. Du kannst dich nicht dagegen wehren. Jeder Mensch ist ein Prominenter, und jeder wird alles über jeden erfahren können. Das ist doch zum Teil heute schon so.”

“Es gibt Leute, von denen will ich nicht, dass sie alles über mich erfahren.”

“Komm schon, was hast du zu verbergen?”

“Eine ganze Menge. Ich will nicht, dass jeder weiß, was ich einkaufe oder wo ich mich jetzt in diesem Moment gerade aufhalte. Ich will das nicht.”

“Du kannst dich nicht dagegen wehren. Wie ich sagte: Es wird kommen. Big Brother is watching you. Außer dass Big Brother nicht der Staat ist, sondern jedermann. Das nennt man Demokratie.”

“Das nennt man Wahnsinn.”

“Es wird kommen. Wenn es nicht wir machen, machen es andere. Google, Facebook, CIA, FBI, SWR, Mossad, Verfassungsschutz, Volksrepublik China, Nordkorea, die Illuminaten, wer auch immer.”

“Das Sundari-Projekt ist also kein Reisebüro.”

“Wir stellen die Technologie. Was die Menschen damit machen, ist ihre Sache. Dies hier wird die Welt verändern. Jede Erfindung bisher konnte zum Segen oder zum Fluch der Menschheit verwendet werden. Mit dem Sundari-Projekt ist es nicht anders.”

“Du bist wahnsinnig.”

“Nein, realistisch. Früher oder später wird diese Zeit kommen. Besser, du bist schon jetzt darauf vorbereitet. Wir beide gehören einer aussterbenden Spezies an. Wir haben noch die Zeit vor PC, Internet und Mobiltelefon kennen gelernt. Die heutige Generation ist ganz anders. Die jungen Leute wachsen in eine Welt hinein, in der sie mit einem Klick all ihre Freunde über jeden Schritt, den sie tun, informieren können. Und das jederzeit. Und überall. Das hier ist nur die logische Konsequenz, das Ende einer langen Entwicklung. Vielleicht gefällt es dir nicht. Genau so wenig wie es vielleicht den Bauern im 19. Jahrhundert in Mittelengland gefallen hat, als plötzlich Schornsteine in die Höhe wuchsen. Den Fortschritt kannst du nicht aufhalten - ob es dir gefällt oder nicht. Und die Technik wird die Gewohnheiten der Menschen fundamental verändern - wie schon zweimal zuvor in der Geschichte der Menschheit. Ich spreche von der Neolithischen und der Industriellen Revolution. Wir leben in einer der drei spannendsten Zeiten, der bisherigen Menschheitsgeschichte. Sei dir dessen bewusst.”

“Es gibt einen chinesischen Fluch, der heißt: Mögest du in interessanten Zeiten leben”, sagte Andreas.

“Segen oder Fluch - das ist sehr oft Ansichtssache”, entgegnete Robert. “Wie auch immer: Berlin, Alexanderplatz ist nicht das Ende unserer Reise. Mach dich bereit mit einer Begegnung mit dem eigenen Selbst.”

... comment