Samstag, 6. Juli 2013
00101111 - Overload
Maja ging jetzt mit Robert. Andreas wurde schwindelig. Warum tat die Wahrheit immer so weh? Warum ließ ihn niemand in einer Traumwelt leben? In einer Traumwelt, in der er mit Maja zusammen war? Eine Traumwelt, in der die Mädchen auf ihn standen? Vielleicht auch eine Traumwelt, in der sie ihm halfen, etwas gegen Robert zu unternehmen?

Andreas überlegte sich, ob er sich vielleicht krank melden sollte. An Schule war jetzt sowieso nicht zu denken. Wie sollte er einem Unterricht folgen, in dem vielleicht Maja und Robert aufeinander saßen - das neue Liebespärchen der Schule? Und er war wieder einmal der Gelackmeierte? Er hatte wieder einmal die Arschkarte gezogen - wie so oft zuvor. Der Loser der Schule. Den die anderen immer nur auslachten. Ihm wurde schlecht.

Die ganze Welt fing an, sich zu drehen. Er sah alles, hörte alles, doch er verstand nichts mehr. Es war, als brüllten hunderttausend Stimmen Worte einer fremden Sprache in sein Ohr. Vor seinem Auge nahm er Farben und Formen wahr, aber er konnte sie nicht zuordnen. Er roch den Schweiß der Kinder, das Parfüm, das die Mädchen nahmen, das After Shave der männlichen Teenager, die Hundescheiße, die irgendwo verborgen im Gebüsch lag. Er roch die Rindswürstchen, die Hausmeister in seinem großen Topf kochte, um den Schülern etwas warmes zu bieten. Er roch die frischen Brötchen, die gerade ein Bäcker gebracht hatte. Aber all das wurde ihm zu viel. Er verfiel in alte Verhaltensregeln, fing an, mit den Händen zu flattern, schlug seinen Ringfinger abwechselnd gegen den Daumenknöchel und gegen die Daumenspitze, dann den Zeigefinger gegen die Zunge. Er musste aussehen wie der letzte Depp, aber es kümmerte ihn nicht.

Jetzt wäre am liebsten losgerannt, quer über den Schulhof, und hätte Musik und Nachrichten imitiert, so wie er es damals in der Grundschule getan hatte. Aber er riss sich zusammen. Nein, er hielt es nicht aus. Sein Kopf war voll - voll von Informationen. Voll von Emotionen, die dort nicht hinein gehörten. Gleich würde er platzen, wenn er nicht das Ventil öffnete. Wenigstens einmal Robert anschreien. Maja anschreien. Die Lehrer anschreien. Alles zusammen brüllen. Alles kurz und klein schlagen. Die Emotionen aus seinem Ventil entweichen lassen. Aber es ging nicht. Das Ventil war verstopft, und der Druck in seinem Kopf erhöhte sich wie einem Dampfkessel kurz vor dem Platzen.

Er ging, nein wankte von dannen. Versuchte, im tiefen Schnee nicht auszurutschen. Nur weg von der Schule, weg von den Menschen. Irgendwohin, wo er allein war, wo er sich ganz seinen Gefühlen und Gedanken hingeben konnte. Am besten nach Hause. Die Schule schwänzen. Aber das konnte er auch nicht. Das war nicht erlaubt. Doch wenn er jetzt nicht krank war, was war er dann? Schon bekam er Kopfschmerzen - nicht das erste Mal in solch einer Situation. Allein das würde sicherlich ausreichen, um sich krankschreiben lassen zu können. Aber im Wartesaal sitzen? Bei all den hustenden und schniefenden Menschen und dem chemischen Geruch nach Arztpraxis in der Nase? War es das wert? Er entschied sich für ja.

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Mittwoch, 3. Juli 2013
00101110 - Schwarzwaldstraße 23
“Wir sind da!” sagte Para - nein, Robert. Es war Robert, er war wieder in seiner Welt.

Andreas fühlte sich schon viel besser. Der Ausflug nach Lemuria hatte ihm gut getan - wenn es auch ein sehr kurzer und düsterer Ausflug gewesen war. Aber während er sich langsam wieder an seine eigene Welt gewöhnte und die Welt von Lemuria verblasste, schalt er sich, dass er vor dem Scheitern dieser Mission so viel Angst hatte. Es war doch nichts anderes als ein Online-Rollenspiel - nur eben nicht online, sondern im Kopf. Er hatte sich etwa zwanzig Jahre lang erfolgreich dagegen gewehrt, in der Märchenwelt Zuflucht zu finden. Eskapismus nannten das die Psychologen. Er hatte in einem Buch davon gelesen. Die Eigenschaft, sich in künstliche Science-Fiction- oder Fantasy-Welten zu flüchten, um den Problemen der eigenen Welt zu entkommen. Ja, es war Eskapismus gewesen. Er war vor Robert geflohen. Jetzt war Robert hier, und Lemuria war auch wieder da - als wäre die ganze Zeit dazwischen niemals geschehen. Seine Zeit in Peru, sein Studium, seine Arbeit bei Lemuria Inc. - alles zählte plötzlich nicht mehr. Die Vergangenheit hatte ihn wieder eingeholt. Am liebsten wäre er weggelaufen, aber das traute er sich nicht. Nicht in dieser Gegend.

Robert bezahlte den Taxifahrer, legte ein ordentliches Trinkgeld obendrauf und stieg aus. Die Gegend, in der sie sich befanden, wirkte nicht gerade vertrauenserweckend. Im Gebüsch entdeckte Andreas einen kaputten Einkaufswagen und eine Matratze, die leise vor sich hin schimmelte. Er nahm sogar leichten Schimmelgeruch wahr. Es roch ein wenig nach Champignons. Ein Mülleimer in der Nähe war derart überfüllt, dass die Leute den Müll schon daneben auf die Straße warfen - überwiegend Rotzfahnen, aber auch Joghurtbecher, die bereits ekelhaft stanken. Die Betonplatten wirkten etwas abgenutzt. Zwischen ihnen bahnten sich die ersten Pflanzen ihren Weg ins Freie. Auf einer Betonplatte lag eine zerbrochene Flasche, und eine nach Alkohol stinkende Lache breitete sich aus. Die Wand des Hochhauses 23 war mit Graffiti beschmiert - bis auf ein Bild - oder vielmehr das, was der Künstler dafür hielt - waren alles nichtssagende Tags. Grellbunt und für Andreas unerträglich. Das einzige interessante Graffito hatte jemand neben die große Zahl 23 gesprüht: ein Dreieck und darüber ein angedeutetes Auge - das Auge mit der Pyramide. Da hatte sich jemand einen kleinen Scherz erlaubt.

Das Gebäude selbst lag vollkommen im Dunkeln. Nahezu alle Rollläden waren herunter gelassen, nur an zwei Fenstern, die direkt nebeneinander angebracht waren, schienen sie zu fehlen. Wie tote Augen blickten sie auf die beiden herab. Der Taxifahrer hatte inzwischen zugesehen, dass er Land gewann. Andreas wusste aus der Zeitung, dass diese Gegend nicht ganz ungefährlich - auch wenn um diese Uhrzeit sicherlich kaum jemand auf der Straße war. Wobei, Freitag Nacht war durchaus damit zu rechnen, noch jemanden anzutreffen, dachte Andreas.

Sie gingen die Stufen zum Eingang hinauf. Auf der Eingangstür zeichnete sich das Spinnennetzmuster eines gescheiterten Versuches ab, die Scheibe zu zertrümmern. Robert holte einen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf. Andreas fragte sich nicht, woher er den Schlüssel hatte. Es kam ihm reichlich seltsam vor. Er glaubte nicht, dass Robert oder seine Mutter oder sonst wer in diesem Haus wohnte. Nein, wirklich nicht. Auch im Treppenhaus setzten sich die Graffiti fort, verzierten die hässlichen, braunen Kacheln, die dem Flur etwas Düsteres verliehen. Vor ihm die beiden Aufzugtüren aus ockergelbem Metall. Auch hier hatte jemand mit blauer Farbe sein Tag untergebracht.

Robert drückte auf einen Knopf, und der Aufzug setzte sich laut ratternd in Bewegung. Das Quietschen schien die gesamte Nachbarschaft aufwecken zu können, aber nichts rührte sich im Haus. Es wirkte wie ausgestorben. Robert schwieg, bis der Fahrstuhl endlich kam und das ockergelbe Tor eine klaustrophobisch enge Fahrstuhlkabine freigab. Neben Robert und Andreas passte nicht mehr viel in den Fahrstuhl. Robert drückte auf den Knopf mit der Nummer 23. Die Tür schloss sich mit einem lauten Krach, und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Das Deckenlicht flackerte, während eine mit einer Zahl versehene Lampe nach der anderen aufleuchtete. Unerträglich langsam und gemächlich. 1, 2, 3...

“Was wollen wir im 23. Stock?” fragte Andreas.
“Abwarten”, knurrte Robert. Der sonst so redselige Esoteriker war auf einmal verstummt. So als hätte die düstere Aura des Hochhauses ihn dazu verleitet. Andreas fing schon an, die Bewohner von Schwarzwaldstraße 23 zu bedauern. Vor allem diejenigen in den oberen Stockwerken. Er fragte sich, was das für Leute waren, die hier wohnten, und sofort spukten Bilder in seinem Gehirn. Kopfkino. Schon dutzendfach gesehen in Deutschland, deine Teenies oder We Are Family oder das Ehepaar, das ihm gestern in der U-Bahn begegnet war.

Der Aufzug quietschte und ratterte. Schon glaubte Andreas, das Drahtseil würde reisen, und die gesamte Fahrstuhlkabine würde dem Gesetz der Schwerkraft folgend nach unten rasen. Auch das hatte er in Filmen gesehen. Er hatte aber auch gesehen, dass das nicht möglich war, weil in diesem Fall sofort ein Sicherheitsmechanismus griff, der die Erfindung des Aufzugs überhaupt möglich gemacht hatte - damals, als Elisha Graves Otis den modernen Fahrstuhl erfunden hatte. Er hatte dem staunenden Publikum einen Aufzug präsentiert, dessen Seil plötzlich riss. Die Anlage konnte sich daraufhin selbst bremsen. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte sich nie irgend jemand in einen Fahrstuhl hinein getraut. Auch konnten sich die Türen nicht schließen, wenn etwas dazwischen war. Dafür sorgte eine Lichtschranke. Es gab so viel Ammenmärchen über Aufzüge. Die einzige Gefahr war doch, in einem steckenzubleiben. Warum...
Pling. Die Anlage sprang auf 23. Die Türen öffneten sich und gaben den Blick frei auf eine Finsternis.

Sie gingen hinaus, Robert betätigte den Lichtschalter, und wenig später erhellten surrende Neonröhren den Gang.

“Nun”, sagte Robert. “Fällt dir hier etwas auf?”

Die Wände waren weiß. Komplett weiß. Das war aber auch neben der Deckenbeleuchtung das einzige, was zu sehen war. Es gab hier keine Graffiti, und was das Seltsamste war: Es gab hier noch nicht einmal Türen.

“Dieses Stockwerk und all die anderen Stockwerke darunter und darüber werden nicht benutzt”, sagte Robert. “Das ganze Haus oberhalb des fünften Stockwerks ist nur Kulisse.”

“Aber warum sollte jemand ein Hochhaus bauen, wenn die oberen Stockwerke nicht benutzt werden?”

“Das ist ja das seltsame. Dieses Haus erfüllt nicht wirklich einen Zweck. Es sollte einfach gebaut werden, um als Kulisse zu dienen oder als Suizid-Plattform für Lebensmüde. Oder... ach, ich weiß auch nicht. Und es gibt noch mehr Häuser von der Sorte. Viel mehr. Es gibt Krankenhäuser, wo in den oberen Stockwerken nichts ist. Es ist, als wollte uns jemand verarschen.”

“Aber wer?”

“Die Schöpfer dieser Simulation. Wenn wir sterben, werden wir wie sie, und wenn sie inkarnieren, werden sie wie uns. Wir sind die Avatare, durch die sie erleben. Sie und wir, das ist das selbe. Am Ende verarschen wir uns nur selbst. Das ist auch nicht anders als bei einem Computerspiel, das dich in fremde Welten versetzt, aber am Ende sind es nur Nullen und Einsen. Unser Universum ist genauso - mit dem Unterschied, dass es die wenigsten wissen. Dafür steht ihnen ihre Religion oder die Naturwissenschaften im Weg.”

Sie bogen um die Ecke, und Andreas erblickte die einzigen fünf Türen im gesamten Stockwerk. Sie waren - ungewöhnlich für Wohnungstüren - allesamt direkt nebeneinander, und anstelle von Namensschildern oder Wohnungsnummern waren sie mit Symbolen versehen:

Drei waagerechte, parallele Linien in Wellenform. Wasser.

Drei senkrechte, parallele Linien in Wellenform. Luft.

Drei gerade, waagerechte parallele Linien. Erde.

Eine stilisierte Flamme. Feuer.

Und eine Symbol-Tafel, auf der nichts, aber auch gar nichts abgebildet war. Die Leere, der unendliche Äther. Andreas fragte sich, ob dies die Türen waren, zu denen die geheimnisvollen Schlüssel passten.

“Gibt es diese Türen auch in jedem Stockwerk?” fragte Andreas.

“Nein, nur hier”, antwortete Robert.

“Und was hat es damit auf sich?”

“Das sind Portale zu anderen Welten. Aber sie lassen sich angeblich nur öffnen, wenn in jeder der Türen ein Schlüssel steckt.”

“Hast du es schon mal ausprobiert?”

“Nein.”

“Warum probierst du es nicht aus?”

“Lieber nicht.”

“Warum nicht?”

“Die Zeit ist noch nicht gekommen. Ich habe noch nicht alle Schlüssel.”

“Langweiler.”

“Hey, sieh dich vor. Ich warne dich. Ich darf dich daran erinnern, was ich alles in der Schule mit dir angestellt habe.”

“Klingt so gar nicht nach neuer Mensch.”

Robert sah zu Boden. “Du hast Recht”, sagte er. “Fällt es dir nicht auch manchmal schwer, erwachsen zu sein?”

“Erwachsen? Ich bin nie erwachsen geworden.”

“Ich auch nicht. Jedenfalls nicht so richtig. Ich spiele erwachsen. Ich tue so, als wäre ich es, aber es ist alles nur Maskerade. Und diese Welt hier ist auch Maskerade. Dieses Haus spielt Hochhaus. Unzählige Projektionen spielen Menschen. Diese ganz Welt ist mehr Sein als Schein. Du erinnerst dich an dieses Doppelspaltexperiment und an die Elektronen?”
Andreas nickte.

“Was mit diesen Elektronen auf der Mikroebene passiert, das geschieht auch auf der Makroebene. Schrödingers Katze gibt es tatsächlich. Wie ist die Welt, wenn niemand hinsieht? Wenn niemand hinsieht ist sie so, wie dieser Flur: Leer. Es gibt nichts. Und das, was es gibt, verhält sich äußerst merkwürdig. Erst wenn ich anfange zu beobachten, wird die Welt zu dem, was wir kennen. Ein Elektron hört auf, sich merkwürdig zu verhalten und tut das, was ein Elektron zu tun hat, wenn es beobachtet wird. Verstehst du, was ich meine? Die Naturgesetze funktionieren wie ein Uhrwerk. Normalerweise klappt alles ganz tadellos, und niemand kommt dahinter, dass etwas nicht stimmt. Doch manchmal kommen Dinge zum Vorschein, die wir als Fehler in der Matrix bezeichnen. Nehmen wir zum Beispiel die Elektronen. Oder die Tatsache, dass es bisher niemandem gelungen ist, die Quantenphysik mit der Relativitätstheorie in Einklang zu bringen, obwohl es konkrete Anwendungen für beide Theorien gibt. Vieles, das geschieht, dürfte eigentlich gar nicht geschehen. Und es geschieht trotzdem. Es gibt die erstaunlichsten Zufälle, für die es keine rationale Erklärung gibt.”

Er wandte sich zum Gehen. “Wir sollten besser los. Die Nacht ist kurz, und ich wollte dir noch das Sundari-Projekt zeigen.”

“Was ist das Sundari-Projekt?”

“Darauf wollte ich eben hinaus. Die erstaunlichsten Zufälle. Wusstest du, dass in China ein 270 Millionen Jahre alter Stein gefunden wurde, auf dem man chinesische Schriftzeichen entdeckt hat? Die Wissenschaft geht davon aus, dass der Stein natürlich entstanden ist. Und das tollste ist: Die chinesischen Schriftzeichen lauten, wenn man sie ins Deutsche übersetzt: ‘Die Kommunistische Partei Chinas bricht zusammen’.”

“Interessant. Aber was hat das jetzt mit dem Sundari-Projekt zu tun?”

Robert drückte auf den Aufzug-Knopf, und beide beobachteten sie, wie sich der Fahrstuhl vom Erdgeschoss aus langsam in Bewegung setzte. Sogar noch durch die Fahrstuhltür hindurch war das Knattern und Quietschen des Aufzugs zu hören.

“Hast du noch nie einen erstaunlichen Zufall erlebt? Eine Synchronizität? Etwas, das gar nicht passieren kann?”

“Ich habe mal in Berlin Bekannte getroffen. Ein befreundetes Pärchen. Damals, während meines Studiums.”

“Das ist ein gutes Stichwort. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass du überall immer nur die gleichen Gesichter siehst? Diese Stadt, in der du wohnst, hat 600.000 Einwohner. Und trotzdem siehst du ständig immer wieder die selben Gesichter, richtig?”

“Ich weiß es nicht. Ich kann mir keine Gesichter merken.”

“Und wie hast du dann das befreundete Pärchen erkannt?”

“Wenn ich jemanden gut kenne, dann erkenne ich ihn wieder, wenn ich ihn sehe. Aber es sind nicht die Gesichtszüge. Eher die Frisur, die Brille, das Gesamtbild, die Größe, Figur, das alles.”

“Also gut, ich sage es dir: Es heißt immer, Deutschland hat achtzig Millionen Einwohner. Aber in Wirklichkeit sind es viel, viel weniger.”

“Das ist doch nur wieder so eine Verschwörungstheorie.”

“So wie Schwarzwaldstraße 23.”

Der Aufzug kam, und die Türen öffneten sich ratternd. Wieder ging es in die klaustrophobisch enge Kabine. Das Deckenlicht flackerte nervös.

“Was wissen wir schon von dieser Welt?” sagte Robert, als sie nach unten fuhren. “Wir wissen nur, was wir selber sehen. Wir wissen nicht einmal, ob der Rest der Welt just in diesem Moment außerhalb des Aufzugs überhaupt existiert. Wenn ein Elektron schon verrückt spielen kann, wenn es nicht beobachtet wird, was kann der Rest der Welt alles anstellen? Wenn es eine komprimierte künstliche Welt ist, existiert nur das, was gerade beobachtet wird. Der Rest existiert einfach nicht - erst wenn wir unseren Blick darauf richten. Dabei kann es geschehen, dass ein falscher Speicherstand geladen wird. Das nennen wir dann einen Fehler in der Matrix. Das Gefühl, im falschen Film zu sein. Oder ein unglaublicher Zufall. Aber es gibt ein Mittel dagegen. Ein Mittel, um vielleicht das größte Rätsel des Universums zu entschlüsseln.”

Er machte eine Pause. Andreas wartete darauf, dass er eine Antwort geben würde, doch nichts dergleichen geschah. Das Licht an der Anzeige bewegte sich langsam die Zahlenskala hinunter. Robert schwieg.

“Dieses Mittel ist das Sundari-Projekt?” fragte Andreas.

Robert nickte. “Die totale Überwachung.”

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Mittwoch, 3. Juli 2013
00101101 - Zinut utzaw siwre
“Soso, zu viel wird dir das! Dabei habe ich noch nicht einmal angefangen.”

Er grinste. Bösartig. Robert. Aber ein anderer Robert. Er war wieder nach Lemuria abgedriftet.

Wahrscheinlich schlief er gerade im Taxi, oder dieser Overload hatte dafür gesorgt, dass er der wirklichen Welt entglitten war. Wenn es überhaupt die wirkliche Welt war. Denn jetzt plötzlich kam er sich so vor, als wäre er aus einem Traum aufgewacht, als hätte er die Begegnung mit Robert in der anderen Welt und die nächtliche Taxifahrt nur geträumt.

Währenddessen hatte sich die Welt in Lemuria weitergedreht. Langsam kamen Erinnerungen - zuerst in Gestalt von Fetzen. Geräuschen, Gerüchen, kurz aufblinkenden Bildern. Dann plötzlich glasklar, als wäre er niemals irgendwo anders gewesen - als hätte die Begegnung mit Robert in der anderen Welt niemals stattgefunden, als wäre es nur ein seltsamer Tagtraum gewesen.

Der Robert in dieser Welt - er hieß anders, aber es war Robert. Gegenüber Andreas hatte er sich vorgestellt als Paramesvarakimahimaka Udayadayaluhai, hatte aber hinzugefügt, er könne ihn Para nennen. So würden ihn alle nennen, einschließlich seiner Jünger. Und genau diese Jünger hatten ihn überwältigt. Ihn und Hatana. Sathi hatte sich verstecken können. Er war so klein, dass er durch die Gitterstäbe passte und so unscheinbar, dass er den Tempel auskundschaften konnte. Gerade war er unterwegs, um nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. Einfach war es nicht, denn die Zelle, die normalerweise als eine Art Karzer für unartige Novizen diente und dementsprechend karg eingerichtet war, war Tag und Nacht von Paras Schergen bewacht - wenn nicht sogar von Para selbst.

“Das Feuer ist das, was den Menschen erst zum Menschen macht”, sagte Para - er hörte sich wohl genauso gerne reden wie sein Zwilling in Andreas’ Welt. “Ohne Feuer kann er nicht kochen, nicht braten, nicht grillen, und er muss sein Fleisch und sein Gemüse roh essen. Auch Brot kann er nicht mehr backen. So manches Tier nicht mehr jagen. Feuer ist für den Menschen lebensnotwendig. Was aber ist, wenn er eines Tages kein Feuer mehr hat? Selbst das Licht von Mandira wird dann verlöschen.”

“Du wagst es nicht”, stieß Andreas hervor.

“Was wage ich nicht? Der Plan steht fest. Morgen werde ich das Feuer von Aga für immer löschen - und mit ihm das Feuer in dieser Welt und möglicherweise sogar alle Feuer in allen Welten. Aber bevor es soweit ist, wird mir Aga noch einen letzten Dienst erweisen.” Er grinste. “Und euch beide verbrennen.”

Andreas’ Herz schlug schneller. Am liebsten hätte er Robert - pardon, Para - erwürgt. Doch die Gitterstäbe waren dazwischen, und zwei Leibwächter - beide trugen einen weißen Turban und weiße Gewänder, wie es bei den Na’e Vykati üblich war -, sorgten außerdem dafür, dass niemand ihrem Guru zu nahe kam.

“Was passiert mit der Welt, wenn man den Schöpfer tötet?” fragte Para. “Wird dann auch die Welt verlöschen, oder wird sie frei sein? Was passiert mit dem Traum, wenn der Träumer erwacht? Wird er dann immer noch existieren? Oder zerplatzen wie eine Seifenblase?”

“Die Götter werden dich dafür bestrafen!” zischte Andreas. “Möge Aga dein blöde grinsendes Gesicht verbrennen.”

Doch Para lachte nur. “Deine Götter werden dir auch nicht mehr helfen!”

Damit war Andreas mit Hatana allein. “Nut riw nellos saw?” fragte er. Eine Geheimsprache am Hof von Sundari - nichts weiter als Hochlemurisch, das aus irgendwelchen seltsamen Gründen mit der deutschen Sprache identisch war, rückwärts gesprochen. Er hoffte, dass die Wache sie nicht verstand. Aber die Gefahr war gering. Selbst wer das Prinzip der Geheimsprache erkannt hatte, konnte sie nur verstehen, wenn er sie schreiben konnte, da sich die Aussprache änderte, wenn man ein Wort rückwärts schrieb. Und da es in Lemuria nun mal sehr viele Analphabeten gab und die Wache sicherlich auch dazu gehörte, wähnten sich Andreas und Hatana auf der sicheren Seite.

“Ithas fua netraw”, sagte Hatana. “Tsi nut uz saw ßiew re.” Er sprach es als Zinut utzaw siwre aus. Andreas verstand es sofort. Jetzt also ruhte all seine Hoffnung auf Sathi.

Er erwiderte nichts. Es war sehr anstrengend, rückwärts zu sprechen. Auch wenn er ein Talent dazu hatte, mit dem er aber in seiner eigenen Welt immer nur auf Unverständnis stieß. Rückwärts sprechen, das war brotlose Kunst, hatte sein Vater immer gesagt, wenn er bei Tisch damit angefangen hatte. Niemand sonst konnte es verstehen. Erst in Lemuria hatte er angefangen, dieses Talent zu pflegen. Da man sowohl Hoch- als auch Niederlemurisch in ganz Lemuria sprach und verstand, hate der Königshof diese Geheimsprache entwickelt, die vor allem gegenüber Analphabeten sehr wirkungsvoll war.

Er setzte sich in Ermangelung einer Sitzgelegenheit auf den Boden und schwieg. Hatana sah ihn an, gab aber ebenfalls keinen Ton von sich. Andreas blickte hinüber zum Mann mit dem weißen Turban, der sie stets im Blick behielt. Es musste wohl unglaublich langweilig für ihn sein, dachte Andreas. Schließlich konnte der Wächter noch nicht einmal lesen, und Radio und Fernsehen waren in dieser Welt auch noch nicht erfunden, geschweige denn Computer und Internet.

Da er gerade nichts besseres zu tun hatte, beschloss er zu schlafen. Und noch während einschlief, nahm er sich vor, in seiner eigenen Welt möglichst schnell herauszufinden, welche Auswirkungen das Geschehen in Lemuria auf sein eigenes Leben hatten und ob er es riskieren konnte, im Feuer von Aga verbrannt zu werden.

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Montag, 1. Juli 2013
00101100 - Sozialer Brennpunkt
Sie nahmen sich ein Taxi, das draußen vor dem Carpe Diem stand - so als hätte es auf die beiden gewartet. Andreas wunderte das nicht mehr. Seitdem er Robert wieder gesehen hatte, hatte er schon so viel Seltsames erlebt, dass er glaubte, nichts könne ihn mehr schocken. Rationalität und Logik hatte er schon in der Konrad-Adenauer-Halle an der Garderobe abgegeben und seitdem nicht wieder geholt. Naturwissenschaftlich war davon absolut nichts zu erklären - es sei denn, über irgendwelche obskuren Irrwege der Quantentheorie. Was auch immer. Robert spürte, wie ihm der Kopf langsam rauchte, wie er nicht mehr aufnahmefähig war. Alles, was auf ihn einprasselte, war auf einmal zu viel. Er hatte jetzt das, was er einen Overflow nannte. Zu viele Eindrücke, zu viele Informationen auf einmal.

Der Taxifahrer war diesmal ein Türke, und er hörte türkische Musik auf volle Lautstärke. Und Robert tat so, als müsse er ihn übertönen. Robert hörte sich gerne reden. Das war schon in der Schule so. Robert interessierte es nicht im geringsten, ob es Andreas es hören wollte oder nicht.

“Ich möchte dir etwas interessantes zeigen”, sagte er, als er Taxifahrer losfuhr. Robert hatte ihm eine Adresse genannt. Schwarzwaldstraße 23. Andreas wusste, dass die Schwarzwaldstraße im Süden der Stadt lag. Soziales Brennpunktviertel nannte sich so etwas in den Medien. Hochhäuser, Wohnblocks, Slums. Was nur hatte Robert dort zu suchen?
Doch Andreas gelang es nicht, darüber nachzudenken. Hämmernder Kopfschmerz überfiel ihn. Die Musik plärrte irgendwelche orientalischen Weisen. Gnadenlos übersteuert wie der ständig laufende Fernseher in einer Dönerbude. Dazu Roberts Gelaber. Andreas wollte einfach nur noch nach Hause.

“Stell dir vor, das Leben wäre ein Film”, philosophierte Robert. “Da gibt es einen Protagonisten, einen Gegenspieler, einen Gefährten oder eine Gefährtin und einen Mentor. In deinem Film wäre ich wohl dein Mentor.”

Oder mein Gegenspieler, dachte Andreas, aber er wagte nicht, es zu sagen.

“Wie auch immer - diese Leute, das sind die Hauptfiguren. Dann gibt es die Nebenfiguren, das sind all die anderen Leute, denen du in deinem Leben begegnest und die eine Sprechrolle haben. Die Frau im Blumenladen. Der Typ am Kiosk, an dem du deine Zeitung kaufst. Der Bäcker um die Ecke. Du grüßt sie, du kaufst bei ihnen ein, du lernst sie vielleicht sogar ein wenig kennen. Aber wirst du sie jemals zum Essen einladen? Wirst du mit ihnen Weihnachten feiern? Wirst du ihnen gar deine intimsten Geheimnisse anvertrauen?”

Er machte eine bedeutungsschwangere Pause, in die Andreas normalerweise mit einer Antwort reingeplatzt wäre, da er Schwierigkeiten hatte, rhetorische Fragen als solche zu erkennen. Doch diesmal hatte er keine Nerven dafür. Er wusste, dass Robert die Frage wahrscheinlich gleich selbst beantworten würde.

“Nein, würdest du nicht. Weil sie Nebenfiguren sind. Sie sind nicht interessant für dich. Es ist dir vollkommen schnuppe, was für einen Charakter sie haben, was für einen Hintergrund sie haben, wie sie die Menschen geworden sind, die sie sind. Das ist alles unerheblich. Sie sind Nebenfiguren. Aber es geht noch nebensächlicher. Statisten, Komparsen, die Welt ist voll davon. Und jetzt erinnere dich mal an meinen Vortrag und was ich über MP3 und JPG und Schrödingers Katze und diesen ganzen anderen Krempel erzählt habe - dass, wer immer auch diese Simulation geschaffen hat, dass derjenige möglichst sparsam mit Ressourcen umgeht. Wenn diese Welt eine Illusion ist, dann ist es doch logisch, dass nicht jeder, der wie ein Mensch aussieht, auch ein Mensch ist.”

Andreas sah überrascht auf. Die Kopfschmerzen waren für einen kurzen Moment verflogen. Meinte dieser Typ wirklich, was er sagte? Sprach er manchen Menschen ihre Menschlichkeit ab? War das nicht menschenfeindlich?

Robert grinste. “Komm schon. All die Menschen in der U-Bahn. In der Warteschlange. Im Supermarkt an der Kasse. Glaubst du wirklich, dass all diese Menschen geboren wurden? Dass sie alle ein Leben leben - so wie du es tust? Menschen, die du einmal siehst und dann nie wieder? Woher weißt du, dass es so ist? Wäre es nicht viel logischer, wenn es wesentlich weniger Menschen auf der Erde gäbe - wenn die ganzen Menschen, die du siehst, eine Illusion wären?”

“Was weißt du über Black Eyed People?” fragte Andreas.

“Wie kommst du denn jetzt darauf?”

“Was weißt du darüber?”

“Nicht viel. Wir haben in der Gesellschaft des Neuen Menschen ab und zu mit ihnen zu tun. Niemand weiß, was sie wirklich sind. Nur eines ist klar: Sie sind keine Menschen. Und auch das Jenseits schweigt sich bisher über sie aus. Ich mag dieses Thema nicht. Es ist mir unheimlich.”

Eine Lüge? Aber warum sollte Robert in diesem Zusammenhang lügen? Warum nur hatte Andreas diese Probleme zu erkennen, wann jemand die Wahrheit sagt und wann nicht?

Der Taxifahrer bog jetzt auf die Hauptstraße ab, die hier durch einen Tunnel führte.

“Diese Welt ist eine Illusion”, sagte Robert. “Eine gut gemachte, eine perfekt gemachte, aber eben eine Illusion, und es gibt Orte auf dieser Welt, an denen man es sehen kann. Orte, die normalerweise kein Mensch betritt und kein Mensch zu sehen bekommt. Orte, an die niemand freiwillig hingehen würde. Wie zum Beispiel Krankenhäuser. Die sind so riesig, dass man sich darin verirren kann. Ich habe selber mal aus einem kaum herausgefunden. Aber was ist, wenn nicht hinter jeder Tür tatsächlich auch ein Patient liegt?”

“Du bist wahnsinnig”, entgegnete Andreas. “Die Krankenhäuser sind häufig überfüllt.”

“Das mag sein”, sagte Robert. “Wir fahren auch nicht zu einem Krankenhaus. Wir fahren zu einer Art Portal zur Anderswelt. In alten Zeiten glaubten die Menschen, diese Portale seien in Höhlen zu finden oder in Erdlöchern. Später vermutete sie an heiligen Orten, wo sich Ley-Linien kreuzen. Was auch immer. Dort entstanden zunächst Heilige Haine oder Tempel - und dann kam die Kirche und machte die Heiligen Haine und Tempel platt und errichtete dort Gotteshäuser. Viele Orte, an denen heute eine Kirche steht, sind uralte magische Kultorte, an denen sich in früheren Zeiten das Jenseits offenbart hat. Solche geheimnisvollen Plätze gibt es in allen Kulturen. Jerusalem, Mekka, Bodhgaya, Varanasi. Alle Religionen, die wir kennen, beruhen auf Offenbarungen aus dem Jonaseits. Die Religionen sind nur deshalb verschieden, weil jede Kultur die Offenbarungen anders interpretiert hat. Aber wenn wir alle Religionen miteinander vergleichen, dann kommen wir zu einem gemeinsamen Kern, zu einer Art Ur-Religion, in der sich der Wille des Schöpfers widerspiegelt.”

Andreas hatte genug. Er wollte einfach nur noch nach Hause. Er hätte erst gar nicht zu diesem Vortrag gehen sollen. Dieser Robert war komplett durchgeknallt. Wer weiß, wohin er ihn führen wollte. Das ganze war ihm schon jetzt viel zu unheimlich. Der Taxifahrer, der Eisbär, Dinge, die niemals hätten geschehen dürfen. Er sehnte sich in seine heile Welt nach Lemuria. Jetzt ein Schäferstündchen mit Sundari - nein, sie war auch schon in seine Welt vorgedrungen - in Gestalt einer eher distanzierten Vorgesetzten. Ihm wurde wieder schwindelig, und die Kopfschmerzen meldeten sich zurück.

“Ich bitte dich”, sagte er. “Tu mir bitte einen Gefallen. Was immer du mir zeigen willst: Sei bitte jetzt ruhig und erkläre es mir dann, wenn wir dort sind. Mir wird das alles ein bisschen zu viel.”

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Samstag, 29. Juni 2013
00101010 - 42
Robert beendete seine Erzählung und sah Andreas schweigend an.

“Und weiter?” sagte Andreas.

“Wie weiter?”

“Was ist jetzt der Sinn von alldem? Was hat es mit diesen Schlüsseln auf sich? Was ist das Sundari-Projekt? Was ist der Sinn des Lebens? Wie schaffe ich es, mein Leben in den Griff zu kriegen - so wie du? Wie kann ich zum neuen Menschen werden? Und wie lautet die Antwort auf die Frage aller Fragen?”

Robert lächelte. “Du meinst nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest?”

“Ja.”

“Hast du schon mal was von außerkörperlicher Wahrnehmung gehört?”

“Wie kommst du jetzt darauf?”

“Du erwartest, dass ich auf alle Fragen eine Antwort habe? Vielleicht habe ich das. Aber denk daran, dass unsere Sprache nur für Dinge gemacht wurden, die in unserer Welt existieren. Unsere Sinne sind auf diese Welt ausgerichtet - wir sind Wesen dieser Welt, die vergessen haben, woher wir kommen. Niemand kann unsere eigentliche Heimat beschreiben oder in Worte fassen. Ich kann dir den Sinn des Universums nicht erklären. Du musst es selber spüren. Ich kann dir den Weg dorthin zeigen. Durch Meditation. Ich kann dir sagen, dass diese Welt eine Illusion ist. Ich kann dir von den Astralebenen berichten - wie es dort aussieht. Aber am besten ist, du erlebst selber das Abenteuer, das dich in andere Sphären bringt.”

“Was sind das für Sphären?”

“Glaubst du diese Welt ist die einzige?”

Andreas dachte an die Welt Lemuria. “Ich weiß nicht. Ist es möglich, dass wir Menschen auch Welten erschaffen können?”

“Warum nicht? Wir tun es jede Nacht in unseren Träumen. Wir tun es in unserer Phantasie. Wenn wir ins Kopfkino gehen, wenn wir uns alternative Realitäten ausdenken. Geschichten. Romane. Ganze Welten.”

“Glaubst du, dass es diese Welten dann auch wirklich gibt? Dass sie real werden?”

“Was verstehst du unter Realität? Hast du immer noch nichts begriffen? Hast du nicht dieses Auto mit dem Eisbären in diese Welt geholt? Und wie ist es mit dem Taxifahrer, der nur vier Finger hat? Brauchst du einen weiteren Beweis? Achte darauf, wer als nächstes diese Bar betritt. Ich sage, es ist eine langbeinige Blondine. Auf ihrem engen Top stehen chinesische Schriftzeichen. Das Top ist silberfarben, die Schriftzeichen schwarz. Sie trägt einen karierten Minirock. Ich könnte sie flachlegen, wenn ich wollte. Sie würde mir keinen Korb geben, aber ich werde sie nicht fragen.”

Andreas blickte zur Bar, doch nichts geschah. “Diesmal liegst du falsch”, sagte er.

“Warte noch einen Augenblick.”

In diesem Moment kam die Blondine herein. Sie war groß, sogar größer als Robert. Ihre Füße steckten in roten Stöckelschuhen. Die langen Beine mündeten in einem karierten Minirock. Darüber das silberne Top mit den chinesischen Schriftzeichen. Die blonde Löwenmähne reichte ihr bis weit den Rücken hinunter. Sie kam mit einigen Freundinnen. Die Gruppe setzte sich an einen der freien Tische, die inzwischen zahlreicher geworden waren. Die Bar und auch die Disco waren dabei, sich zu leeren.

“Was ist Realität?” fragte Robert. “Horch in dich hinein. Versuche, die Antwort zu finden. Du fragst nach einem Sinn des ganzen hier? Es ist ein Spiel. Ein kreatives Spiel Gottes. Da Gott das einzige ist, was es überhaupt gibt, muss er sich immer wieder mit sich selbst beschäftigen, und denkt sich immer wieder was neues aus - ein stetiger Quell sprudelnder Kreativität - und da wir alle Teile Gottes sind, sind wir ebenso kreativ. Wir erfinden uns und die Welt ständig neu - in jedem Jahrhundert. Und wir müssen es tun, um den alten Herrn nicht zu langweilen. Es ist wie in Träumen. So lange wir nicht merken, dass wir träumen, macht der Traum mit uns, was er will. Aber sobald wir es wissen, können wir mit dem Traum machen, was wir wollen. Das nennt man luzider Traum, und in dem, was du Realität nennst, gilt es genauso - mit dem Unterschied, dass wir Träume nur allein träumen - aber hier teilen wir die Illusionen mit Milliarden von Menschen und noch wesentlich mehr Tieren, Pflanzen, Pilzen, Einzellern, außerirdischen Lebensformen, Engeln, Geistern und Dämonen.”

“Und was ist das Sundari-Projekt?”

“Auch das kann man nicht erklären”, sagte Robert. “Man muss es gesehen haben. Komm mit. Ich zeige es dir.”

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Freitag, 28. Juni 2013
00101001 - Ein Netz aus Menschen
Auf dem Weg nach San Francisco führte ihn das Schicksal in eine Bar. Robert hatte nicht groß nachgedacht. Er war einfach nur seinem Instinkt gefolgt, und er erhoffte sich weitere Hinweise darauf, wo denn der Schlüssel des Wassers zu finden sei. Also ging er an die Theke, bestellte sich einen Bourbon und fragte den Wirt: “Schon mal was von magischen Schlüsseln gehört?”

“Magische Schlüssel?” fragte der Wirt. “Was soll denn das sein?”

“Hören Sie, ich weiß, dass es fünf davon gibt - über die ganze Welt verteilt. Einer davon ist verschollen, und in San Francisco soll es einen geben, einen Chinesen, der weiß, wo er ist.”

“Ah”. Das Gesicht des Wirtes hellte sich auf. “Sie meinen bestimmt Michael Lee. Der hat lauter so esoterisches Zeugs.”

“Wo finde ich ihn?”

“In Chinatown. Warten Sie, ich schreibe Ihnen die Adresse auf.”

Roberts Aufmerksamkeit fiel auf einen Mann, der neben ihm saß. Er war etwas jünger und schien komplett mit sich selbst beschäftigt zu sein. Eine Begleitung schien er nicht zu haben. Schweigend kritzelte er mit einem Kugelschreiber auf ein eng beschriebenes Blatt Papier. Es sah aus wie ein Stammbaum oder eine technische Skizze - ein Gewirr von Kästen, Balken und Linien - wie eine überdimensionierte Mind Map, die jemand geschrumpft hatte, so dass sie auf ein normales Blatt Papier passte.

“Hey, sir!” sagte er.

“Bemühen Sie sich nicht”, entgegnete der Wirt. “Der redet mit niemandem. Asperger-Syndrom.”

Der junge Mann wedelte mit dem Kugelschreiber blitzschnell hin und her. Seine Gedanken waren voll und ganz auf das Blatt Papier gerichtet.

“Was für ein Syndrom?”

“Asperger.”

“Was ist das?”

“So was wie Autismus.”

“Sie meinen Rain Man?”

“Erwähnen Sie bloß nicht diesen Film.”

Sofort war der Junge aus seinen Gedanken gerissen. Er blickte auf und starrte Robert mit Augen an, die irgendwie tot und emotionslos wie die Augen eines Roboters wirkten. Er sprach schnell, laut und monoton.

“Und es geht los!” murmelte der Wirt.

“Wissen Sie, was das ist? Asperger-Syndrom? Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, wie man sich fühlt, wenn man nicht dazu gehört? Wenn alle Leute in deinem Seminar zur Party eingeladen sind - nur du nicht? Wenn alle Jungs Frauen finden - nur du nicht? Wenn du niemanden findest, mit dem du reden kannst, weil sich wirklich niemand für das interessiert, was du zu sagen hast? Ich habe mit zwölf Jahren die Relativitätstheorie begriffen, aber wie Menschen funktionieren, habe ich nie begriffen. Menschen funktionieren nicht logisch - sie funktionieren emotional. Sie können sich instinktiv in ihr Gegenüber hinein versetzen. Ich kann das nicht. Menschen merken, was andere Menschen fühlen. Ich nicht. Die Menschen verstehen mich nicht, und ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freunde. Keinen einzigen. Wissen Sie, wie es ist, wenn man sich so fühlt? Wenn man sich immer fragt, ob man sich richtig verhalten hat oder ob man wieder in ein Fettnäpfchen getreten ist, weil man die ungeschriebenen Spielregeln dieser Welt nicht versteht, wenn sie dir aber auch niemand erklärt, weil jeder sie für selbstverständlich hält? Wenn man noch nicht einmal weiß, ob das, was dir jemand gesagt hat, ironisch gemeint war oder nicht? Wenn man anders ist?”

“In meiner Klasse war einer wie du”, sagte Robert. “Jedenfalls so ähnlich.”

“Alle meine Freunde sind wie ich”, entgegnete der junge Mann.

“Ich denke, du hast keine Freunde.”

“Habe ich auch nicht. Jedenfalls keine richtigen. Ich habe sie alle über das Internet kennen gelernt. Chatrooms, Foren, Newsgroups, das übliche halt. Ich hätte nie gedacht, dass ich Freunde oder sogar vielleicht Mädchen haben kann. Aber über das Internet habe ich welche kennen gelernt. Das Internet ist ein Segen für Leute wie mich.”

“Du bist ein Nerd”, sagte Robert und lachte dabei. Aber es war ein freundliches Lachen, kein bösartiges. Er hatte selber schon genügend Menschen wie diesen jungen Mann kennen gelernt, auch wenn er sich selber nicht dazu zählte.

“Mag sein, aber ein Nerd mit einer Idee. Das Internet basiert auf einer ganzen Menge von Menschen mit guten Ideen. Ich weiß nicht, wie viele davon Nerds waren. Aber es waren lauter Verrückte, die diese Sache voran getrieben haben. Vannevar Bush. Ted Nelson. Tim Berners-Lee. Larry Page und Sergey Brin. Aber das alles war gestern. In Zukunft wird niemand mehr das Haus verlassen, wenn er es nicht will. Wir werden alles im Internet machen: Arbeiten, einkaufen, Leute kennen lernen und Kontakt halten, Bücher lesen, Musik hören, Filme gucken, sogar mit dem Finger auf der Landkarte verreisen. Wir haben unseren Pager, unseren Kalender, alles im Internet - und zwar mit einem Programm, einem ganzen System, das ich entwickelt habe. Wir brauchen ein soziales Netzwerk, mit dem man Freunde finden und Kontakte pflegen kann - ein Netzwerk, in dem jeder Mensch auf der Erde registriert ist, und alle Menschen können Kontakte zu anderen pflegen, können schreiben, wo sie gerade sind und was sie gerade tun, und jeder Mensch auf der ganzen Welt kann es lesen. Er kann angeben, ob es ihm gefällt oder auch nicht gefällt, und er kann die Aktionen seiner Mitmenschen kommentieren - ganz gleich ob du in Amerika, Europa oder Australien bist. Und das alles” - er zeigte auf den Zettel vor sich - “befindet sich auf diesem Papier. Lemuria - ein zweites Leben, eine zweite Welt, in der sich jeder Mensch unabhängig von Alter, Geschlecht, Rasse, Nationalität, sexuelle Orientierung, Behinderung und Religionszugehörigkeit bewegen kann - ein Netz, das in völliger Meinungsfreiheit existiert, das dem Frieden und der Völkerverständigung dient, ein Netz, das das Wissen der gesamten Welt enthält - nicht nur das wissenschaftliche, sondern auch das zwischenmenschliche Wissen. Lemuria wird den Menschen dienen und die Türen zu einer besseren Zukunft öffnen.”

“Klingt gut”, sagte Robert. “Aber wie willst du das finanzieren? Mitgliedsgebühren? Oder Werbung?”

“Werbung. Nur Werbung. Wir sammeln Daten und verkaufen sie an die Werbewirtschaft. Wir sorgen dafür, dass die Werbung dort ankommt, wo sie auf fruchtbaren Boden fällt. Was soll ein japanischer Stubenhocker mit einer Werbung einer amerikanischen Outdoor-Firma? Der neueste Star Trek-Film kann nur Leute glücklich machen, die Science-Fiction mögen. In Lemuria geben die Menschen einfach ihre Hobbys und Interessen an, das Netzwerk sammelt über eine Suchmaschine Daten, wonach sie suchen, welche Musik sie hören, welche Bücher sie bestellen, welche Videos sie sich anschauen, daraus erstellen wir ein Profil, und anhand dieses Profils wird Werbung geschaltet. So sind die werbenden Unternehmen sicher, dass nur diejenigen ihre Werbung bekommen, die sich auch dafür interessieren. So profitiert jeder davon. Die Nutzer, die völlig kostenlos einen Service bekommen, den es bisher noch nicht gibt. Die Werbetreibenden, die jetzt direkt ihre Zielgruppe ansprechen können. Und ich werde damit Geld verdienen.”

“Und was macht dich so sicher, dass ich dir diese Idee nicht klaue?”

Er zeigte Robert das Blatt Papier. “Kannst du das lesen? Kannst du das interpretieren?”

Robert versuchte, aus dem Gewirr aus Balken, Kästen und unleserlicher Schrift schlau zu werden, aber es war ein Ding der Unmöglichkeit.

“Kannst du nicht, was? Aber ich kann. Ich bin dir tausend Schritte voraus. Das ganze Netzwerk ist schon programmiert, sofern es möglich ist. Das einzige, was ich jetzt brauche ist genügend Startkapital und leistungsfähige Server, um es online zu bringen, ohne dass das gesamte Rechenzentrum der University of California in die Knie geht.”

“Das heißt, wenn ich in den Server investiere, kannst du morgen schon damit online gehen?”

“Natürlich brauche ich auch Mitarbeiter”, sagte der Mann. “Programmierer, Vertriebsmitarbeiter und einen Geschäftsmann, der bereit ist zu investieren.”

“Ich bin Geschäftsmann”, sagte Robert. “Mein Name ist Robert Jonas. Ich bin Inhaber einer erfolgreichen Handelskette für Computer-Zubehör.”

“Peter Mason.” Er gab ihm die Hand. “Ich bin Student der University of California.”

“Es freut mich, dich kennen zu lernen. Aber erklär mir mal genauer, was du eigentlich willst.”

“Weißt du, wo das Internet ursprünglich her kommt?”

“Vom ARPANET, ein Netzwerk von Computern mehrerer Universitäten hier in den Vereinigten Staaten.”

“Ja, der Körper, aber nicht die Seele. Jules Verne ist der eigentliche geistige Erfinder des Internet - so wie er vieles erfunden hat. Aber dann vor allem Vannevar Bush. Schon 1945 veröffentlichte er einen Text mit dem Titel As We May Think. Die Wissenschaft war schon damals sehr kompliziert geworden. Bush war der Ansicht, dass das menschliche Gehirn nicht linear, sondern assoziativ funktioniert. Ebenso muss das Wissen assoziativ miteinander verknüpft sein. So kann man Pfade bilden, über die man per Knopfdruck von einem Dokument zum nächsten wechseln könnte. Wenn ich also ein Wort finde und das nicht verstehe, klicke ich es an, komme zur Erklärung und auch zu weiterführendem Wissen, stoße dort auf ein weiteres Wort, das ich nicht verstehe undsoweiter. Wenn man die einzelnen Dokumente jetzt über eine Weiterentwicklung der Mikrofotografie verkleinert, lässt sich die Encyclopedia Britannica in einer Streichholzschachtel unterbringen und das gesamte relevante Wissen der Welt in einem Schreibtisch. So dachte man 1945, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Internet war damals noch nicht mal erfunden.”

“Beeindruckend.”

“Ja. Dann kam Ted Nelson und erfand den Hypertext, ein Textgewebe bestehend aus Textblöcken und den Verknüpfungen dazwischen, den Links. Es war Tim Berners-Lee, der den Hypertext ins Internet brachte und somit das World Wide Web erfand, den größten Hypertext der Welt. Aber die Geschichte ist längst noch nicht zu Ende. Zuerst haben wir Computer miteinander verbunden, dann Seiten und Texte, später kamen noch Bilder, Musik und Videos dazu, und jetzt werden wir die Menschen selber in einem riesigen Hypertextgewebe miteinander verbinden. Lemuria wird die Welt revolutionieren. Wir werden miteinander kommunizieren, wo wir gehen und stehen. Die Welt über unsere Mobiltelefone immer griffbereit. Ich sage dir, wenn uns das gelingt, was mir vorschwebt, werden wir die Welt in zehn Jahren nicht mehr wiedererkennen.”

“Cool. Lass uns die Welt verändern.”

“Ja, und jetzt kommt der Clou: Wenn wir erst einmal Daten von allen Menschen und zugleich das gesamte Wissen auf der Erde gesammelt haben, müssen wir es analysieren. Das kann kein Mensch leisten. Dazu brauchen wir eine künstliche Intelligenz. Und die kann dann anhand der Daten die Zukunft voraussagen - genau wie die Psychohistoriker bei Isaac Asimov.”

Robert kannte Isaac Asimov zwar nicht, zog es aber vor zu nicken und so zu tun, als wäre ihm der Name ein Begriff. Nur so konnte er sich Masons Respekt verdienen.

“Ich mache dir einen Vorschlag: Ich schau mir dein Projekt etwas genauer an, und wenn es was taugt, steige ich bei dir ein. Du hast die Idee, ich habe das Geld. Lass uns doch eine Firma gründen. Es darf aber nie jemand erfahren, dass ich daran beteiligt bin. Und noch eine Frage: Warum nennst du das ganze Lemuria?”

“Xanadu gab es schon”, antwortete Mason. “Shangri-La klang mir zu esoterisch, Atlantis zu platt, Kasskara kennt keine Sau, und Mu hört sich Scheiße an.”

Robert nahm sich ein Hotel in Berkeley und ließ sich von Mason in die Wunderwelt von Lemuria einführen. Vor ihm tat sich eine Welt auf, die imstande war, die richtige Welt abzulösen. Eine virtuelle Welt in den unendlichen Weiten des Netzes, in dem bald jeder mit allem und jedem verknüpft sein würde - ein Netz aus Computern und Menschen.

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Donnerstag, 27. Juni 2013
00101000 - Der Aufstieg des Robert J.
Nur wenige Wochen später starb Roberts Arbeitgeber. Es war ein seltsamer Unfall, und Robert beteuerte, nichts damit zu tun zu haben - außer dass ihm der Unfall im Nachhinein betrachtet gerade recht gekommen war. Bei klarstem Wetter an hellichtem Tag war Bernhard ohne Gegenverkehr auf einer einsamen Landstraße gegen einen Baum gerast. Er war sofort tot. Bernhards Bruder Martin erbte den Laden, konnte aber nicht so richtig was damit anfangen und verpachtete ihn daher an Robert. Dieser erwies sich als ebenso tüchtiger wie erfolgreicher Geschäftsmann.
Kaum hatte er den Laden übernommen, brummte er derart, dass er ihn schließlich dem Besitzer abkaufen konnte. Und nicht nur das: Nach wenigen Monaten eröffnete er die erste Zweigstelle. Dann kam eine weitere hinzu, dann ein Mega-Store, und je länger er in dem Unternehmen arbeitete, desto mehr wuchs es. Selbst die Dot-Com-Blase überstand die Firma unbeschadet. Auch wenn Robert keine Ahnung von BWL hatte: Was er anpackte, gelang ihm auch, und das Geld investierte er weiter.

Währenddessen wuchs auch die Gesellschaft des Neuen Menschen, und da er immer mehr Seminare anbot, um sein Wissen weiterzuvermitteln, verdiente er auch damit Geld. Die Gesellschaft wurde zum zweiten Standbein. Bald fing er an, seine Erfahrungen in einem Buch niederzuschreiben. Sofort interessierte sich ein Verlag dafür, und das Buch wurde zum Bestseller. Gleichzeitig baute Robert auch einen Internet-Versandhandel für Computerzubehör auf.

Doch der Deal mit Luzifer lastete schwer auf seinen Schultern. Er musste unbedingt die fünf Schlüssel finden, und so finanzierte er eine Expedition nach Kenia und eine weitere zum Mount Everest. An ersterer nahm er selber teil, die zweite überließ er lieber erfahrenen Bergsteigern, die den Auftrag hatten, auf dem Gipfel nach einem Schlüssel zu suchen. Sie fanden ihn auch. Allerdings verlief die Expedition in Kenia nicht ganz so erfolgreich. Selbst die Anthropologen, die Robert mitgenommen hatte, konnten nicht mit Sicherheit sagen, wo genau der Mensch das Feuer erfunden hatte. Dann eines Tages entdeckte einer der Anthropologen per Zufall den Schlüssel am Ufer des Turkana-Sees nahe der Grenze zu Äthiopien. Er musste noch nicht einmal danach graben. Der Schlüssel lag glitzernd im Licht der Morgensonne direkt an der Küste, so als hätten die sanften Wellen ihn angespült. Auch wenn Robert seinen Expeditionsteilnehmern erklärt hatte, er sei auf der Suche nach den ersten Menschen, brach er sofort die Expedition ab und kehrte nach Deutschland zurück. In der Zwischenzeit war auch das Team vom Mount Everest erfolgreich. Zwei Schlüssel hatte Robert also schon. Als nächstes brach er in die USA auf. Er fand den Schlüssel auf einer Zwei-Tages-Expedition in den Grand Canyon und wieder zurück. Er war nicht weit vom Bright Angels Trail entfernt unter einem kleinen Felsen verborgen. Fast schon zu einfach. Die beiden letzten Schlüssel dagegen sollten sich als harte Nüsse erweisen: Für den Tempelberg brauchte er eine Sondergenehmigung, und die würde er als Nicht-Muslime nicht so einfach bekommen.
Glücklicherweise waren allerdings in die Gesellschaft des Neuen Menschen auch Muslime eingetreten, und einer von ihnen erklärte sich dazu bereit, die Behörden von einer Grabungsexpedition am zweitheiligsten Ort der Muslime zu überzeugen - leider zunächst ohne Erfolg. Noch schwieriger war allerdings der fünfte Schlüssel, der Schlüssel des Wassers, zu dem Robert gar keinen Anhaltspunkt besaß.

Mit den drei Schlüsseln in der Tasche reiste Robert in Richtung San Francisco, wo er sich weitere Hinweise auf das größte Rätsel erhoffte. Dass der Schlüssel jetzt, da er die Geschichte Andreas erzählte, nur einen Meter von ihm entfernt war, ahnte er nicht im geringsten.

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Mittwoch, 26. Juni 2013
00100111 - Faust
Eines Tages stand ein Mann in Roberts Wohnung, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er war groß gewachsen, hatte kurze, glatte, schwarze Haare und durchdringende schwarze Augen - nicht komplett schwarz, wie man sie manchmal bei Dämonen im Fernsehen sieht. Nur die Pupille und die Regenbogenhaut waren schwarz. Aber das allein reichte aus, um Robert einen eiskalten Schauer über den Rücken zu jagen. Hinzu kam, dass der Fremde einen Anzug trug, der ihn aussehen ließ wie ein Missionar der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Der Mann lächelte.

“Wie sind Sie hier reingekommen?” fragte Robert, bevor der Eindringling noch irgend etwas sagen konnte.

“Die Tür stand offen”, sagte der Fremde.

“So ein Blödsinn. Die Tür steht niemals offen!”
“Wirklich nicht?”

Er blickte zur Wohnungstür. Und tatsächlich: Sie stand so weit offen, dass er auf den Flur hinaus schauen konnte.

“Was wollen Sie hier?” fragte Robert.

“Die Frage ist eher, was du willst, Robert”, sagte der Fremde.

“Sind wir jetzt schon per du oder was?”

“Dort, wo ich herkomme, sind alle per du.”

“Aus England?”

“Nein. Ich komme von außerhalb der Höhle.”

Robert wusste nicht, was ihn mehr verdutzte - dass der Fremde wusste, wie wichtig für ihn das Höhlengleichnis in den vergangenen Jahren geworden war, oder dass er tatsächlich behauptete, aus der Ideenwelt zu kommen. Und so setzte er sich. Der Mann war ihm unheimlich.

Auch der Mann setzte sich und blickte ihn mit seinen schwarzen Augen an, als wollte er ihn hypnotisieren. Robert hatte den Eindruck, dass mit dem Mann etwas nicht stimmte, aber er wusste nicht genau, was.

“Wer sind Sie?” fragte Robert.

Der Mann lächelte. “Dort, wo ich herkomme, gibt es keine Namen. Aber, da ihr Menschen Namen braucht: Ich bin derjenige, der Licht in die Dunkelheit der Unkenntnis bringt, der Lichtbringer oder auf Lateinisch: Luzifer.”

“Der Teufel.”

Luzifer lachte. “Das ist, was die Christen denken. Die Christen irren sich. Es gibt kein Gut und Böse. Das ist schon in dieser Welt schwierig. Gut und Böse ist Ansichtssache, und es kommt darauf an, welche moralischen Werte ihr habt. Die Menschenopfer der Azteken waren für die Christen böse, aber für die Azteken gut - umgekehrt war die Eroberung des Aztekenreich durch Cortez für die Azteken böse, doch die Spanier waren der Ansicht, dass sie etwas gutes tun, wenn sie den Eingeborenen den christlichen Glauben aufzwingen. Sie glaubten sich selbst im Recht und dass sie etwas gutes getan haben. Genau wie die Attentäter vom 11. September, die sich selbst als gut angesehen hatten aber von den meisten Menschen als böse verteufelt wurden. Und wenn es bei euch schon kein Gut und Böse gibt, bei uns gibt es das erst recht nicht. Deshalb kann ich nicht der Teufel sein.”

“Was bist du dann?”

“In alten Zeiten nannte man Wesen wie mich Götter. Aber ihr musstet dann ja nur noch einen Gott haben. Also hat man uns - je nach Zusammenhang - zu Geistern, Engeln oder Dämonen degradiert. Letztendlich bin ich eine Seele wie du - nur bin ich eben nicht inkarniert und habe deshalb einen größeren Einblick in die Schöpfung als du momentan.”

“Und woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?”

“Weißt du was? Ich bin gar nicht darauf angewiesen, dass du mir glaubst. Das ist mir egal. Du bist derjenige, der auf der Suche ist. Du willst wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält.”

“Und was ist es?”

“Du fragst dich, was der Sinn des Lebens ist? Ich sage es dir: Erfahrungen sammeln. Seelen inkarnieren als Menschen, Tiere, Pflanzen, Pilze, Einzeller oder als außerirdisches Leben oder aber als Götter, Engel oder Dämonen, um Erfahrungen zu sammeln. Um nichts anderes geht es hier. Und wenn sie genug Erfahrungen gesammelt haben, sterben sie, arbeiten ihr Leben auf den Astralebenen auf und gehen dann zurück zur Erde. Vollkommen freiwillig und nach einem Plan, den sie sich selbst vor der Geburt zurecht gelegt haben. Hier wird niemand belohnt oder bestraft. Die Welt ist ein Computerspiel - oder besser: ein Multiple Users Dungeon -, und du bist nichts weiter als ein Avatar, der von deiner Seele gesteuert wird - und diese Seele sitzt außerhalb der Höhle, versetzt sich in dich hinein und schaut zu - ist gleichzeitig du und dann doch wieder nicht.”

“Und das ist alles? Das ist der ganze Trick? Wesen, die etwas erleben wollen und deshalb diese Erde geschaffen haben?”

“Nein, das ist nur der Anfang. Es wird noch viel toller. Die Schöpfung ist so bunt, so vielfältig und phantasievoll, wie du es dir in deinen kühnsten Träumen nicht ausmalen kannst. Es gibt hier Dinge, die so unglaublich sind, dass sie dein kleines, menschliches Gehirn sprengen würden, falls du ihnen begegnest. Und für dich hat das Abenteuer gerade erst begonnen - wenn du mit mir einen Pakt schließt.”

“Der Pakt mit dem Teufel, klar.”

“Ich bin nicht der Teufel”, sagte Luzifer. “Trotzdem biete ich dir einen kleinen Deal an. Du verkaufst mir deine Seele und bekommst dafür ein Leben, um das dich viele beneiden werden. Was du anpackst, wird dir gelingen. Du wirst keinen Fehlschlag mehr erleiden. Du darfst machen, was du willst, erleben, was du willst, du wirst reich und berühmt, ein gefeierter Star, Gründer einer Religionsgemeinschaft, Bestsellerautor, erfolgreicher Geschäftsmann, ebenso erfolgreicher Liebhaber - alles, was du willst.”

“Aber ich verkaufe dir meine Seele.”

“So ist es.”

“Und wenn ich sterbe? Was geschieht mit meiner Seele?”

Luzifer lachte. “Du glaubst doch nicht etwa diese Faust-Geschichte? Ich habe dir doch gesagt, ich bin nicht der Teufel. Es gibt auch keine Hölle. Nach deinem Tod ist deine Seele frei. Ich rede von der Zeit vor deinem Tod. Du verkaufst mir deine Seele. Im übertragenen Sinne. Das heißt, du widmest dich voll und ganz dieser Sache.”

“Welcher Sache?”

Luzifer grinste. Roberts Herz schlug schneller. Nervös spielte er mit seinen Fingern.

“Eigentlich sind es drei Sachen. Nummer eins: Das, was ich dir zeigen werde, gibst du weiter - und zwar an möglichst viele Menschen. Jeder soll spüren, wie es ist, sein Leben wirklich frei gestalten zu können. Jeder soll die Wahrheit über diese Welt erfahren. Jeder soll diese Höhle, die ihr Realität nennt, verlassen können.”
Er machte eine Pause. Robert nickte. Das erschien ihm annehmbar.

“Nummer zwei: Du wirst das gesamte Wissen dieser Welt sammeln - und zwar wirklich das gesamte. Nicht nur das wissenschaftliche Wissen, auch das religiöse, esoterische, sogar das private. Wer ist mit wem befreundet? Wer hält sich gerade wo auf? Wer tut gerade in diesem Augenblick was? Ich will, dass du ein Netzwerk aufbaust, das die gesamte Welt umfasst - in all ihren Facetten. Und dass du eine künstliche Intelligenz erfindest, die diese Daten auswertet und somit ausrechnen kann, was die Zukunft bringt.”

“Das kann ich nicht.”

Luzifer grinste. “Das sollst du auch nicht allein. Du erhältst Hilfe aus Amerika. Du wirst es erfahren, sobald es soweit ist. Und jetzt zum dritten Punkt, und der ist wesentlich komplizierter: Es gibt auch andere Welten, und früher waren sie durch Portale miteinander verbunden. Doch vor vielen Jahrhunderten, als die Menschheit noch jung war, verschlossen Dämonen die Portale und versteckten die Schlüssel. Insgesamt gibt es fünf Schlüssel. Nur wer alle Schlüssel besitzt, kann alle Portale wieder öffnen. Ein einziger Schlüssel nutzt nichts. Finde diese Schlüssel für mich.”

“Wo sind sie versteckt?”

“Der Schlüssel des Feuers ist in Kenia vergraben - an der Stelle, an der erstmals ein Mensch Feuer machte. Der Schlüssel der Erde liegt auf dem Grund des Grand Canyon. Der Schlüssel der Luft befindet sich auf dem Gipfel des Mount Everest, dem höchsten Berg der Welt. Und der Schlüssel des Einen Gottes, des unendlichen Äthers, liegt am heiligsten Ort der Welt - auf dem Tempelberg in Jerusalem. Der Schlüssel des Wassers ist ein Problem. Er war ursprünglich an der Quelle des Ruvenzori in Afrika versteckt, an der wahren Quelle des Nil. Allerdings hat ihn dort jemand gefunden und in den Mannheimer Wasserturm gebracht. Doch seit einigen Jahren ist er auch dort nicht mehr zu finden. Er ist weg.”

“Und ich soll quasi durch die ganze Welt vom tiefsten Canyon bis zum höchsten Berg - ganz zu schweigen davon, dass niemand wirklich weiß, wo der Mensch das erste Mal Feuer gemacht hat und wo der Schlüssel des Wassers zu finden ist - ganz zu schweigen davon, dass die Muslime sicherlich nicht sehr begeistert sein werden, wenn ich anfange, auf dem Tempelberg zu graben. Was ist, wenn ich das alles nicht schaffe? Wenn ich versage? Oder wenn ich mich weigere?”

“Du wirst dich nicht weigern, und du wirst nicht versagen. Aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass es doch der Fall sein sollte, platzt unser Deal - und du verlierst alles, was du durch diesen Deal gewonnen hast. Du wirst einsam und allein sterben und zumindest in diesem Leben keinen Fuß mehr auf die Erde kriegen. All dein Wissen, das du dir angeeignet hast, wird verloren sein. Also, Deal?”

“Deal.”

Die beiden standen auf, und Luzifer schüttelte Robert die Hand. Dann drehte er sich um, und von einem Moment zum anderen war er verschwunden, als hätte ihn jemand einfach ausgeknipst. Dafür lag ein leichter Geruch nach Schwefel im Raum.

Andreas war geneigt, Robert kein Wort von dem zu glauben, was er ihm berichtete. Doch die Geschichte mit den Schlüsseln machte ihn stutzig. Er überlegte sich, ob er Robert erzählen sollte, dass er den Schlüssel des Wassers hatte, aber er entschied sich dagegen. Er traute Robert nicht. Schließlich wusste er nicht, was Robert mit den Schlüsseln anstellen würde, wenn er sie mal eines Tages alle gesammelt hätte. Dass Robert auch plötzlich in Lemuria im Feuertempel aufgetaucht war, trug nicht gerade dazu bei, seinen alten Klassenkameraden vertrauenswürdiger erscheinen zu lassen. Auch die Geschichte mit Luzifer war ihm unheimlich. Doch Robert hatte ihm noch viel mehr zu erzählen.

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Dienstag, 25. Juni 2013
00100110 - Der Weg aus der Höhle
Robert brach sein Studium nicht wirklich ab. Er verzichtete lediglich darauf, an Unterrichtsveranstaltungen teilzunehmen. Aber er blieb eingeschrieben und meldete sich am Ende des Semesters sogar brav zurück, zahlte auch seinen Semesterbeitrag für das Studentenwerk. Sein Studentenausweis bot ihm nämlich einiges an Vorteilen. Zum einen war das Essen in der Mensa wirklich günstig und auch nicht so schlecht, wie viele Studenten behaupteten. Aber was viel wichtiger war: Als Student hatte er unbegrenzten Zugang zu allen Bibliotheken der Universität. Längst hatte er angefangen, die Physik zu verlassen und über den Tellerrand hinauszublicken. Er las Bücher über Religionen, über Theologie, über Psychologie und Wahrnehmung, aber er lieh sich auch Bücher aus dem Giftschrank der Universität aus. Esoterische Bücher, Bücher mit Geheimwissen, Bücher, die versuchten, die Welt zu erklären. So richtig weiter kam er damit nicht. Denn was immer er auch las, nichts konnte ihn überzeugen. Am Ende blieb er so dumm wie vorher.

Doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass etwas mit der Welt nicht stimmte, dass sie vorgab, etwas zu sein, was sie nicht war. Also fing er an, die Philosophen zu lesen und stieß dabei auf Plato und sein Höhlengleichnis:

Die Welt ist eine Höhle, in der die Menschen auf eine Höhlenwand blicken. Der Eingang befindet sich hinter ihrem Rücken, aber die Menschen sind gefesselt und somit unfähig, zum Eingang zu blicken. Vor dem Höhlenportal aber brennt ein Feuer, und dieses Feuer wirft die Schatten der Menschen, die draußen sind, auf die Höhlenwand. Die Menschen im Inneren dagegen glauben, die Schatten seien die eigentliche Welt. Sie glauben, die Schatten lebten - ja, sie selber seien ebenfalls Schatten. Die Welt ist nur ein Abbild der rein geistigen Ideenwelt. Was wir als Realität betrachten, ist nur ein müder Abklatsch dessen, was tatsächlich die Realität ist.

Robert nahm sich vor aufzustehen, sich umzudrehen und zum Ausgang der Höhle zu blicken. Doch seine Fesseln konnte er nicht abstreifen. Die Bücher, die er las, waren ebenfalls von Menschen geschrieben, die versuchten, das, was sich an der Höhlenwand abspielte zu interpretieren, die versuchten, den Ausgang zu finden, die versuchten, das Geheimnis der Schatten zu ergründen, aber sie verloren sich in endlosen und sich widersprechenden Phantasien. Wer oder was wirklich die Schatten verursachte, wusste niemand.

Als nächstes reiste Robert nach Indien, versuchte, mit fernöstlicher Weisheit und mit Meditation das Geheimnis zu ergründen, aber auch das führte zu nichts.

Wieder zurück in Deutschland kaufte sich Robert ein Modem und holte sich bei der Universität einen kostenlosen Internetzugang, für den er nur die Telefongebühren für das Einwählen in das Netz der Universität zahlen musste. Abends ab 21 Uhr, wenn der Telefontarif für das Ortsgespräch am günstigsten war, wählte er sich mit dem Modem ins Internet ein. Er lauschte dem Knacken und Zischen des kleinen Geräts unter seinem Schreibtisch, bis er endlich im Netz war.

Ihm eröffnete sich eine neue Welt, die überwiegend aus Texten bestand. Wenn eine Seite viele Bilder und Grafiken aufwies, brauchte sie ewig zum Laden. Und auch wenn das Modem manchmal Robert aus dem Internet rauswarf, schreckte ihn das nicht ab. Hier lag es also direkt vor seiner Nase, das Wissen der gesamten Welt - wenn auch nur rudimentär archiviert.
Es gab damals noch kein Wikipedia, kein Google, kein Facebook und erst recht kein Lemuria. Die sozialen Netzwerke der damaligen Zeit hießen Newsgroups, und dorthin, ins Usenet, verschlug es Robert. Ganze Abende klickte er sich durch die Diskussionsforen, die sich mit Physik, Religion oder Esoterik beschäftigten, und schnell gelang es ihm, eine Community mit all den Internet-Nerds aufzubauen. Er gewann Freunde aus ganz Deutschland, diskutierte mit ihnen im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt, und so entstand ganz nebenbei eine kleine, verschworene Gemeinschaft, die sich schließlich den ursprünglich ironisch gemeinten Namen “Gesellschaft des Neuen Menschen” gab.

Die Gesellschaft gab sich zunächst eine eigene Newsgroup, dann auch eine Website mit Diskussionsforum und wurde immer beliebter. Schließlich gründete Robert auch eine eigene Regionalgruppe für Heidelberg. In dieser Zeit begannen die Offline-Aktivitäten der Gesellschaft. Aus einer lose organisierten Gruppe wurde ein Verein, und Robert ließ sich zum Ersten Vorsitzenden wählen.

Doch während er sich mit der Frage aller Fragen befasste, vernachlässigte er alles andere. Er studierte nicht, er verdiente kein Geld, und so kam es, wie es kommen musste: Robert verpasste die Zwischenprüfung und wurde exmatrikuliert. Gleichzeitig ging ihm das Studienkapital aus, das ihm seine Eltern zum Studieren zur Verfügung gestellt hatten. Er hatte es als Tagesgeld bei der Sparkasse angelegt und davon gezehrt, bis die Ersparnisse aufgebraucht waren. Jetzt brauchte er einen Job - und zwar dringend.

Er ging hinaus auf die Straße, einmal um die Ecke und nahm sich vor, gleich im erstbesten Laden, an dem er vorbeikam, nach einen Job zu fragen. Es war ein Fachhändler für Computerzubehör, und er hatte Glück, weil erst vor kurzem eine Aushilfskraft gekündigt hatte, um mit einem Startup-Unternehmen im Internet Geld zu verdienen. Er bekam den Job. Im kleinen Computerladen verdiente er nicht viel, aber es reichte, um sich sein Leben zu finanzieren.

Mit seinen Forschungen kam er allerdings immer noch nicht weiter. Die Suche nach der Wahrheit blieb ergebnislos - bis etwas geschah, das sein Leben für immer verändern würde.

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Montag, 24. Juni 2013
00100101 - Doppelspaltexperiment
Mit dem Ende der zehnten Klasse trennten sich die Wege von Robert und Andreas - für Andreas zum Glück. Robert war es egal. Er stürzte sich in das Leben. Und das bedeutete: Mädchen. Während Andreas weiterhin kein Glück in der Liebe hatte, entwickelte sich Robert zum Mädchenschwarm. Er wusste nicht, warum, aber ihre Herzen schienen ihm nur so zuzufliegen. Hätte ihn jemand, zum Beispiel Andreas, nach dem Trick, nach dem Geheimnis seines Erfolgs gefragt, er hätte nur die Schultern gezuckt.
Doch von seinen späteren Erfolgen war Robert noch weit entfernt. Oft genug kassierte er Körbe. Oft genug fand er keinen Parkplatz. Und da er sich, vor allem nachdem er 18 geworden war, ins Nachtleben stürzte, wurden auch seine Leistungen in der Schule schlechter. Er wurde ein Lebemann. Mädchen, Partys und Alkohol bestimmten sein Leben. Trotzdem schaffte er sein Abitur. Zwar nicht unbedingt mit dem besten Notenschnitt, aber er war intelligent genug, nicht völlig unterzugehen.

Nach der Schule kam er als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr. Dort gefiel es ihm außerordentlich gut - so gut, dass er schon mit dem Gedanken spielte, sich als Zeitsoldat zu verpflichten. Doch er entschied sich dagegen, weil er in der Bundeswehr keinen Sinn mehr sah. Der Kalte Krieg war vorbei, und neue Aufgaben für NATO und Bundeswehr waren noch nicht in Sicht. Einer seiner Kameraden sagte, dass nach dem alten Blocksystem bald ein neues kommen werde, dass der Islam der neue Feind des Westens werden würde. Niemand schenkte ihm so recht Beachtung. Auch nicht als dieser Kamerad behauptete, in nicht allzu ferner Zukunft werde es einen Terroranschlag geben, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte. Einen Terroranschlag mit mehreren tausend Toten. Robert lachte ihn aus, doch am 11. September 2001, als er die Bilder vom einstürzenden World Trade Center im Fernsehen sah, dachte er zurück an seinen Kameraden, und als dann die ersten Zeitsoldaten in den Krieg nach Afghanistan abgezogen wurden, war er richtig froh, dass er nicht diesen Weg gegangen war.
Nachdem sein Dienst bei der Bundeswehr beendet war, nahm er in Heidelberg ein Physikstudium auf. Nicht dass er sich besonders dafür interessiert hätte. Er hatte nur in der Schule in Mathematik und Physik die besten Noten gehabt und war deshalb zur der Ansicht gelangt, dass ihm das wohl am meisten läge. Allerdings hatte er Unrecht. Der erfolgsverwöhnte Student musste sein gewohntes Alkohol-und-Frauen-Leben sausen lassen. Tag und Nacht brütete er über mathematische Formeln. In der Mathematik-Vorlesung verstand er oft nur Bahnhof. In den Physik-Vorlesungen dagegen blühte er auf. Ihm erschloss sich eine höchstinteressante Welt, die ihn immer mehr faszinierte - die Welt der Naturwissenschaften. Bis eines Tages in ihm alle Sicherungen durchbrannten.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er etwas vom Doppelspaltexperiment gehört hatte. Der Professor erklärte es nicht nur seinen Studenten. Er führte es selber durch. Er jagte tatsächlich Elektronen durch den Doppelspalt. Er ließ die Studenten live an den ebenso sensationellen wie merkwürdigen Ergebnissen teilhaben. Und an der Stelle, an der die Elektronen, wenn sie beobachtet wurden, ein Doppelspaltmuster zeichneten, nachdem sie zuvor unbeobachtet noch ein Inteferenzmuster gebildet hatten, stand Robert auf und sagte: “Es reicht mir! Merkt ihr denn nicht, dass wir alle verarscht werden?”

“Junger Mann, zügeln Sie sich!” sagte der Professor streng. “Ich habe nicht vor, irgendwen, wie Sie es sagen, zu verarschen. Das hier ist ein Naturphänomen.”

“Ein Naturphänomen, das uns an der Nase herum führt!” sagte Robert. “Entweder sind die Elektronen intelligent, oder sie werden von einer intelligenten Macht gesteuert. Woher sollen sie sonst wissen, dass sie beobachtet werden?”

“Jetzt beruhigen Sie sich wieder”, sagte der Professor.
“Lassen Sie mich meine Ausführungen zu Ende bringen. Noch haben Sie nichts von der Kopenhagener Deutung gehört.”

“Ich habe genug gehört!” schnaubte Robert. “Ich kann unter diesen Umständen nicht weiter studieren. Das widerspricht allem, was ich bisher gelernt habe.”

“Dann haben Sie bisher aber nicht viel gelernt. Die Welt ist voller Rätsel, und die Physik ist dabei, sie zu lösen.”

“Auch die Physik wird irgendwann an Grenzen stoßen - wenn nicht hier, dann irgendwo anders. Wir werden niemals restlos das Universum erklären können. Wann immer wir glauben, unserem Ziel ein großes Stück näher gekommen zu sein, passiert irgend etwas unglaubliches, so wie dieses Doppelspaltexperiment, was diese Welt viel mysteriöser und unbegreiflicher erscheinen lässt als noch zuvor.”

Mit diesen Worten stand er auf, verließ den Hörsaal, knallte die Tür hinter sich zu und ward nie mehr gesehen.

Andreas wagte zu bezweifeln, dass dieser Dialog tatsächlich so stattgefunden hatte, wie Robert ihn schilderte. Aber was er glaubte, war, dass dieses Experiment Robert dazu bewogen hatte, sein Studium abzubrechen.

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