Donnerstag, 13. Juni 2013
00011111 - Der Matrix-Code
Es wurde spät. Sehr, sehr spät. Schon waren beinahe die letzten Zuhörer gegangen, als sich Robert immer noch angeregt mit jemandem unterhielt, der einfach nicht verschwinden wollte. Andreas hatte bislang am Ausgang gewartet und beobachtet, wie sich Roberts Publikum nach und nach in alle Winde zerstreute. Irgendwie hatte er sich nicht getraut, sich Robert und dem anderen Mann, der wohl um die 60 Jahre alt sein mochte, zu nähern. Dieser Mann hatte weißes Haar, doch er wirkte noch sehr jung und agil, so dass ihn Andreas auf sechzig schätzte - aber oft lag er daneben. Also hatte das nicht viel zu sagen.

Langsam schlich er sich an die beiden heran - möglichst ohne aufzufallen und ohne Robert zu drängen. Dann überkam ihn plötzlich eine Niedergeschlagenheit, die ihn immer wieder überfiel, ihm fast den Atem raubte. Wie so häufig in derartigen Fällen fühlte er sich einsam und wertlos - und auch ein wenig überfordert von der Situation, die ihn erwartete. Dort stand ausgerechnet der Mann, dem er noch vor wenigen Tagen von allen Menschen am allerwenigsten hatte begegnen wollen. Und was das seltsame war: Er hatte seine Meinung geändert. Hauptsächlich aus Neugier. Aber da war noch etwas anders. Er fühlte sich magisch zu seinem alten Peiniger hingezogen. Nicht sexuell. Das nun wirklich nicht. Aber vielleicht hatte er Antworten auf seine Fragen, und davon hatte Andreas viele.

Plötzlich sah ihn Robert. “Andi!” rief er. “Ich hatte dich ganz vergessen. Es hat mich gefreut, Herr Dr. Krause, wir können über Ihren Ansatz gerne mal in Ruhe diskutieren. Ein alter Schulfreund wartet auf mich. Warten Sie, ich gebe Ihnen meine Karte. Dann können Sie mir mailen. Ich bin auch auf Lemuria. So, Herr Dr. Krause, ich darf Ihnen noch einen schönen Abend wünschen. Entschuldigen Sie, aber ich muss mich jetzt verabschieden. Auf wiedersehen und schönen Gruß an die werte Gattin.” Und zu Andreas gewandt: “Freut mich, dass du so lange auf mich gewartet hast. Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es ist bestimmt eine Menge seitdem passiert, und wir haben uns sicher viel zu erzählen. Komm mit, ich hol mal ganz schnell meinen Mantel, dann können wir los.”

“Robert, das ist nicht der Grund, warum ich hier bin”, sagte Andreas. “Ich will mit dir nicht über alte Zeiten reden und auch nicht, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen ist. Wir waren während der Schulzeit nie gute Freunde, falls du dich erinnerst.”

Robert hielt in der Bewegung inne und sah Andreas mit einem Blick an, den dieser nicht interpretieren konnte. “Ich weiß. Deswegen wollte ich mit dir reden. Es ist mir in den letzten Jahren klar geworden, was für ein Riesenarschloch ich damals war. Nicht nur dir gegenüber. Aber vor allem dir gegenüber. Ich meine, mich hat damals deine Art gestört, das, wie du warst. Dabei konntest du gar nichts dafür. Ich habe viele Leute kennen gelernt, die sind wie du. Und ich kann mich nur aufrichtig entschuldigen. Es tut mir leid, wie ich dich damals behandelt habe. Das ganze Mobbing und so. Und ich hoffe, du verzeihst mir.”

Andreas schwieg.

“Andi, bitte verzeih mir. Komm, wir gehen heute Abend aus und machen einen drauf.”

“So läuft das nicht. Du kannst nicht nach so vielen Jahren kommen und sagen: Es tut mir leid! Weißt du, was Mobbing mit einem Menschen anstellen kann? Weißt du das? Wie das ist, wenn man einsam ist, weil man sich nicht mehr traut, auf andere Menschen zuzugehen? Weil man sich für einen Versager hält?”

“Was hältst du davon, wenn ich dir sage, dass ich das heute Nacht wieder gutmachen werde?”

“Zehn Jahre in einer einzigen Nacht?”

“Eine Nacht, die dein Leben verändern wird.”

“Komm schon, du hast vielleicht ein paar Bestseller geschrieben, aber du bist nicht Gott.”

“Ich bin ein Teil von Gott. Und du auch. Wir alle. Alles, was du hier siehst. Gott ist allgegenwärtig. Er umgibt uns. Selbst hier ist er, in diesem Zimmer. Du siehst ihn, wenn du fernsiehst oder aus dem Fenster guckst. Du kannst ihn spüren, wenn du zur Arbeit gehst oder in die Kirche und wenn du deine Steuern zahlst.”

“Es wird auch nicht besser, wenn du Morpheus aus Matrix zitierst”, sagte Andreas.

“Ich bin Morpheus”, sagte Robert. “Und ich war einst Neo. Der Film wurde hergestellt, um die Menschheit auf etwas vorzubereiten, das wir die allgemeine Bewusstseinserweiterung nennen.”

“Bullshit”, entgegnete Andreas.

“Bullshit? Hast du noch nie das Gefühl gehabt, mit der Welt stimmt etwas nicht?”

“Manchmal denke ich, mit der Welt stimmt etwas nicht. Manchmal denke ich, mit mir stimmt etwas nicht.”

“Mag ja sein. Aber als ich das erste Mal von diesem Doppelspaltexperiment gehört habe, von diesen Elektronen, die sich nicht dabei beobachten lassen, wie sie sich seltsam verhalten, wurde mir klar, dass wir nach Strich und Faden verarscht werden.”

“Das hast du schon im Vortrag gesagt.”

“Ja, und ich habe angefangen zu lesen. Ich habe sehr viel gelesen. Ich habe mich mit Leuten getroffen, die so ähnlich tickten wie ich - einige von ihnen waren sehr wie du. Wir haben geforscht - mit Methoden, bei denen sich jedem Naturwissenschaftler die Zehnnägel nach oben stellen würden. Magie. Geisterbeschwörung. Automatisches Schreiben. Alles mögliche. Wir wollten wissen, was die Welt im Innersten zusammen hält - wir haben unsere Seelen an den Teufel verkauft - an den Teufel der Geheimwissenschaften. Wir sind nahe vor dem Durchbruch. Wir sind dabei, einen neuen Menschen zu schaffen. Wie Neo.”

“Klingt nach Scientology.”

“Vergiss Scientology. Die machen den Menschen unfrei. Wir machen ihn frei. Wer den Matrix-Code kennt, der kann sein Leben beeinflussen wie einen luziden Traum.”

Robert bewegte sich in Richtung Garderobe, um seinen Mantel zu holen, und Andreas folgte ihm.

“Ich glaube schon, dass jemand sein Leben beeinflussen kann - je nachdem, welche Einstellung er hat. Wer positiv denkt, wird viel positives erleben und vielleicht auch mehr Erfolg haben. Das ist eine Art Self Fulfilling Prophecy.”

“Ich habe seit Jahren keinen Korb mehr von einer Frau gekriegt”, sagte Robert.

“Ich auch nicht, aber das liegt daran, dass ich keine angebaggert habe.”

“Das habe ich durchaus”, entgegnete Robert. “In jeder Stadt. Es stimmt, was ich im Vortrag über die Parkplatzsuche gesagt habe. Ich finde überall einen Parkplatz. Ich habe mehrere Unternehmen gegründet. Alle erfolgreich. Ich habe an der Börse spekuliert. Immer habe ich gewonnen, nie verloren. Das geht weit über das hinaus, was man alleine mit positivem Denken erreichen kann.”

“Ich glaube dir nicht.”

Sie traten nach draußen auf die Straße. Es hatte zu regnen angefangen. Die Lichter der Autos und die Neonlichter an den Häusern spiegelten sich auf der nassen, schwarzen Fahrbahn. Wann immer ein Fahrzeug durch eine Pfütze fuhr, erzeugte es ein rauschendes Geräusch, das für Andreas zum Regen dazu gehörte.

“Wann hast du zum ersten Mal gemerkt, dass mit der Welt etwas nicht stimmt?” fragte Robert.

Andreas überlegte, ob er ihm von Lemuria erzählen sollte. Schon oft hatte er sich gefragt, welche der beiden Welten die richtige war, doch dann hatte er sich für diese entschieden. Lemuria war eine Scheinwelt, die er immer für etwas gehalten hatte, das er sich eingebildet hatte, aber momentan war er sich nicht mehr sicher.

“Mit mir stimmt etwas nicht”, sagte Andreas. “Ob es an der Welt liegt, weiß ich nicht.”

“Klar liegt es an der Welt. Es gibt ganz wenige Menschen wie du, die können das spüren. Das Problem ist nur, dass euch das so belastet, dass ihr ganz andere Probleme habt, die für euch vordergründig wichtiger sind.”

“Was meinst du?”

“Ich rede von Autisten.”

“Ich bin doch kein Autist.”

Robert schwieg. Dann zückte er sein Handy, um ein Taxi zu bestellen. Wenig später sagte er: “Komm, wir warten hier.”

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