Dienstag, 25. Juni 2013
00100110 - Der Weg aus der Höhle
Robert brach sein Studium nicht wirklich ab. Er verzichtete lediglich darauf, an Unterrichtsveranstaltungen teilzunehmen. Aber er blieb eingeschrieben und meldete sich am Ende des Semesters sogar brav zurück, zahlte auch seinen Semesterbeitrag für das Studentenwerk. Sein Studentenausweis bot ihm nämlich einiges an Vorteilen. Zum einen war das Essen in der Mensa wirklich günstig und auch nicht so schlecht, wie viele Studenten behaupteten. Aber was viel wichtiger war: Als Student hatte er unbegrenzten Zugang zu allen Bibliotheken der Universität. Längst hatte er angefangen, die Physik zu verlassen und über den Tellerrand hinauszublicken. Er las Bücher über Religionen, über Theologie, über Psychologie und Wahrnehmung, aber er lieh sich auch Bücher aus dem Giftschrank der Universität aus. Esoterische Bücher, Bücher mit Geheimwissen, Bücher, die versuchten, die Welt zu erklären. So richtig weiter kam er damit nicht. Denn was immer er auch las, nichts konnte ihn überzeugen. Am Ende blieb er so dumm wie vorher.

Doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass etwas mit der Welt nicht stimmte, dass sie vorgab, etwas zu sein, was sie nicht war. Also fing er an, die Philosophen zu lesen und stieß dabei auf Plato und sein Höhlengleichnis:

Die Welt ist eine Höhle, in der die Menschen auf eine Höhlenwand blicken. Der Eingang befindet sich hinter ihrem Rücken, aber die Menschen sind gefesselt und somit unfähig, zum Eingang zu blicken. Vor dem Höhlenportal aber brennt ein Feuer, und dieses Feuer wirft die Schatten der Menschen, die draußen sind, auf die Höhlenwand. Die Menschen im Inneren dagegen glauben, die Schatten seien die eigentliche Welt. Sie glauben, die Schatten lebten - ja, sie selber seien ebenfalls Schatten. Die Welt ist nur ein Abbild der rein geistigen Ideenwelt. Was wir als Realität betrachten, ist nur ein müder Abklatsch dessen, was tatsächlich die Realität ist.

Robert nahm sich vor aufzustehen, sich umzudrehen und zum Ausgang der Höhle zu blicken. Doch seine Fesseln konnte er nicht abstreifen. Die Bücher, die er las, waren ebenfalls von Menschen geschrieben, die versuchten, das, was sich an der Höhlenwand abspielte zu interpretieren, die versuchten, den Ausgang zu finden, die versuchten, das Geheimnis der Schatten zu ergründen, aber sie verloren sich in endlosen und sich widersprechenden Phantasien. Wer oder was wirklich die Schatten verursachte, wusste niemand.

Als nächstes reiste Robert nach Indien, versuchte, mit fernöstlicher Weisheit und mit Meditation das Geheimnis zu ergründen, aber auch das führte zu nichts.

Wieder zurück in Deutschland kaufte sich Robert ein Modem und holte sich bei der Universität einen kostenlosen Internetzugang, für den er nur die Telefongebühren für das Einwählen in das Netz der Universität zahlen musste. Abends ab 21 Uhr, wenn der Telefontarif für das Ortsgespräch am günstigsten war, wählte er sich mit dem Modem ins Internet ein. Er lauschte dem Knacken und Zischen des kleinen Geräts unter seinem Schreibtisch, bis er endlich im Netz war.

Ihm eröffnete sich eine neue Welt, die überwiegend aus Texten bestand. Wenn eine Seite viele Bilder und Grafiken aufwies, brauchte sie ewig zum Laden. Und auch wenn das Modem manchmal Robert aus dem Internet rauswarf, schreckte ihn das nicht ab. Hier lag es also direkt vor seiner Nase, das Wissen der gesamten Welt - wenn auch nur rudimentär archiviert.
Es gab damals noch kein Wikipedia, kein Google, kein Facebook und erst recht kein Lemuria. Die sozialen Netzwerke der damaligen Zeit hießen Newsgroups, und dorthin, ins Usenet, verschlug es Robert. Ganze Abende klickte er sich durch die Diskussionsforen, die sich mit Physik, Religion oder Esoterik beschäftigten, und schnell gelang es ihm, eine Community mit all den Internet-Nerds aufzubauen. Er gewann Freunde aus ganz Deutschland, diskutierte mit ihnen im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt, und so entstand ganz nebenbei eine kleine, verschworene Gemeinschaft, die sich schließlich den ursprünglich ironisch gemeinten Namen “Gesellschaft des Neuen Menschen” gab.

Die Gesellschaft gab sich zunächst eine eigene Newsgroup, dann auch eine Website mit Diskussionsforum und wurde immer beliebter. Schließlich gründete Robert auch eine eigene Regionalgruppe für Heidelberg. In dieser Zeit begannen die Offline-Aktivitäten der Gesellschaft. Aus einer lose organisierten Gruppe wurde ein Verein, und Robert ließ sich zum Ersten Vorsitzenden wählen.

Doch während er sich mit der Frage aller Fragen befasste, vernachlässigte er alles andere. Er studierte nicht, er verdiente kein Geld, und so kam es, wie es kommen musste: Robert verpasste die Zwischenprüfung und wurde exmatrikuliert. Gleichzeitig ging ihm das Studienkapital aus, das ihm seine Eltern zum Studieren zur Verfügung gestellt hatten. Er hatte es als Tagesgeld bei der Sparkasse angelegt und davon gezehrt, bis die Ersparnisse aufgebraucht waren. Jetzt brauchte er einen Job - und zwar dringend.

Er ging hinaus auf die Straße, einmal um die Ecke und nahm sich vor, gleich im erstbesten Laden, an dem er vorbeikam, nach einen Job zu fragen. Es war ein Fachhändler für Computerzubehör, und er hatte Glück, weil erst vor kurzem eine Aushilfskraft gekündigt hatte, um mit einem Startup-Unternehmen im Internet Geld zu verdienen. Er bekam den Job. Im kleinen Computerladen verdiente er nicht viel, aber es reichte, um sich sein Leben zu finanzieren.

Mit seinen Forschungen kam er allerdings immer noch nicht weiter. Die Suche nach der Wahrheit blieb ergebnislos - bis etwas geschah, das sein Leben für immer verändern würde.

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