Montag, 17. Juni 2013
Kurze Anmerkung
Da dies ein Work in Progress ist, können sich Veränderungen ergeben, die in zuvor veröffentlichten Teilen nicht verbessert werden. Ich habe den Antagonisten von Andreas Held jetzt in Robert Jonas umgetauft, da ich den Namen viel passender finde. In den neuen Teilen heißt er noch Robert Jonas, in den alten wird er weiterhin unter seinem alten Namen erwähnt, da ich ihn sonst in jedem Blog-Eintrag austauschen müsste.

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00100001 - Eisbär
“Oh, mein Gott!” sagte der Taxifahrer, ein übergewichtiger, glatzköpfiger Asiate, der mit einem weißen Hemd und mit Blue Jeans bekleidet war. “Sie sind es. Sie sind es wirklich. Robert Jonas. Dass ich das noch erleben darf. Ich habe alle Ihre Bücher gelesen, und wissen Sie was? Sie sind ein Genie. Ich finde tatsächlich immer einen Parkplatz, wenn ich unterwegs bin. Ich kriege jede Frau, und soll ich Ihnen mal ein Geheimnis verraten? Ich werde bald meinen ersten Roman veröffentlichen. Toll, nicht wahr?”

“Positives Denken”, sagte Robert. “Das ist die halbe Miete. Der Rest ist Wissen. Nur wer den Matrix-Code kennt, wird zum neuen Menschen.”

“Ich bin ein neuer Mensch”, sagte der Taxifahrer. “Ich wollte schon immer Buchautor werden. Schreibend den Lebensunterhalt verdienen. Mein großer Traum. Statt dessen fahre ich Taxi. Aber das lässt mir viel Zeit. Hauptsächlich tagsüber. Ich schreibe und schreibe und schreibe, aber glauben Sie, irgendein Verlag hätte sich für mein Manuskript interessiert? Ich sage Ihnen was: Es gibt einen Unterschied zwischen Job und Beruf. Beruf kommt von Berufung. Es ist das, was wir im Leben wirklich machen wollen, wozu wir uns berufen fühlen. Das kann das gleiche sein, mit dem wir auch unser Geld verdienen. Aber das muss nicht sein. Ich habe mich damit abgefunden. Mein Job ist Taxifahrer, aber mein Beruf ist Autor - auch wenn ich bisher nichts veröffentlicht habe.”

“Gar nichts? Nicht mal in Literaturzeitschriften und so?” fragte Andreas.

“Gar nichts”, antwortete der Taxifahrer. “Nur im Internet. In der Lemuria-Schreibstube. Und jetzt kommt das merkwürdige: Jahrelang hat sich niemand für mich interessiert. Kein Verlag, kein Literaturagent, niemand. Dann habe ich Ihre Bücher gelesen, Herr Jonas. Verschlungen habe ich sie. Und, was soll ich sagen? Plötzlich war alles ganz anders. An einen Verlag habe ich geschrieben, und der hat das Manuskript sofort genommen.”

“War das vielleicht ein Druckkostenzuschussverlag?” fragte Andreas.

“Sehr witzig.”

“Ich meine es ernst. Die sind nicht unbedingt sofort als solche zu erkennen.”

“Nein.”

“Sind Sie sich da sicher?”

“Ja. Ich habe schon oft Bücher aus diesem Verlag gelesen. Die gibt es in jeder Buchhandlung.”

“Dann darf ich gratulieren”, sagte Robert Jonas. “Dann ist es ein seriöser Verlag.”

“Das will ich hoffen”, sagte der Taxifahrer. “Beim selben Verlag sind nämlich auch Ihre Bücher erschienen.”

“Dann kann er gar nicht so seriös sein”, entgegnete Andreas und erhielt von Robert einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.

“Hey!” beschwerte er sich. “Ich dachte, die Zeiten
wären vorbei.”

“Dann benimm dich anständig”, zischte Robert.

“Die Herren kennen sich schon länger?” fragte der Taxifahrer.

“Alte Schulkameraden”, sagte Robert.

“Ah ja.” Der Taxifahrer nickte.

“Darf ich fragen, wo Sie herkommen?” fragte Andreas.

“Aus Heidelberg.”

Mit allem hatte er gerechnet. China, Japan, Philippinen, Vietnam. Nur damit nicht. Heidelberg.

“Sie sind überrascht, nicht wahr? Ich mag zwar nicht so aussehen, aber ich bin Deutscher. Durch und durch. Meine Eltern haben mich adoptiert. Aus irgendeinem südostasiatischen Land. Ich weiß nicht mehr genau, woher. Die Leute gucken immer so schön bescheuert, wenn ich meinen roten Pass mit dem goldenen Adler zeige.” Er lachte. “Ich sage dann immer, willkommen im 21. Jahrhundert. Die Zeiten, dass alle Deutschen Germanen waren, sind vorbei - wenn es sie überhaupt jemals gegeben hat.”

“Und was hat Sie von Heidelberg in diese Stadt verschlagen?” fragte Robert. Nur, um das Gespräch aufrechtzuerhalten.

“Die Liebe”, sagte der Taxifahrer. “Eine echte Chinesin. Naja, die Liebe zu der Frau hielt leider nicht lang. Aber die Liebe zur Stadt blieb bestehen. Jetzt will ich nicht mehr weg.”

Andreas war einen Blick auf die Hände, die der Fahrer auf das Steuer gelegt hatte. Tatsächlich: Es fehlte ein Finger. Robert hatte Recht gehabt. Aller Skepsis zum Trotz. War er wirklich so etwas wie ein Uri Geller? Andreas wurde unheimlich.

“Sie fragen sich sicher, warum ich an der rechten Hand nur vier Finger habe", sagte der Taxifahrer. "Kleiner Unfall mit der Kreissäge. Das kommt davon, wenn man alles selber machen will und keine Handwerker ins Haus lässt.”

Andreas starrte Robert verdutzt an. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Konnte Robert wirklich das, was er vorgab zu können? Oder war es nur ein kleiner Trick gewesen? Aber wenn es ein Trick war: Wie hatte er es nur gemacht? Er hätte sich praktisch alles mögliche ausdenken können, aber der Taxifahrer hatte genau die Eigenschaften, die er selber ihm angedichtet hatte. Nein, es war unmöglich, dass Robert ihn betrogen hatte. Andererseits war es aber auch unmöglich, dass sich Menschen in dieser Welt bewegen konnte wie in einem luziden Traum. Das widersprach allem, woran Andreas glaubte - jedem logischen, vernünftigen Denken. Nein, dafür musste es eine logische Erklärung geben. Aber welche?

“Quod erat demonstrandum”, sagte Robert triumphierend. “Ich habe es dir ja gesagt. Wir können diese Welt beeinflussen. Das kannst du auch. Probier es aus.”

“Meinst du?”

“Ja. Jetzt gleich. Probier es aus.”
Sie fuhren gerade eine Hauptverkehrsstraße entlang. Vor ihnen erhob sich das Schloss, das im Dunkeln angeleuchtet wurde. Gleich würde das Taxi in den Stadttunnel hinein fahren, um dann in der Nähe des Hauptbahnhofs wieder herauszukommen.

“Wenn wir aus dem Tunnel draußen sind”, sagte Andreas.

“Wie du willst. Wenn wir aus dem Tunnel draußen sind, denkst du an etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Etwas, das du hier in dieser Stadt niemals antreffen würdest.”

“Und dann?”

Er holte aus seiner Manteltasche einen Notizblock und einen Bleistift heraus. “Schreib es hier auf. Verrate mir nicht, was es ist. Und erwarte nicht zu viel. Es ist ein Experiment. Wenn es nicht funktioniert, gut. Das ist beim ersten Mal vielleicht die Regel. Wenn es aber funktioniert, wirst du verblüfft sein. Und dann wirst du ganz allein derjenige sein, der das verursacht hat.”

Andreas überlegte kurz, und dann fiel ihm das Abwegigste ein, was seiner Meinung nach überhaupt möglich war. Zumindest wäre er sehr überrascht, in dieser Stadt ein Exemplar zu sehen. Er schrieb auf den Notizblock nur ein einziges Wort: Eisbär. Dann riss er den Zettel ab und faltete ihn zusammen.

“So”, sagte Robert. “Jetzt schließ die Augen, halte den Zettel zusammengefaltet in der Hand und denke an nichts anderes als an das, was du auf den Zettel geschrieben hast.”

Andreas tat wie ihm geheißen, und schon sah er vor seinem geistigen Auge einen Eisbären durch die nächtliche Stadt stapfen. Sein weißes Fell glänzte im Licht der Straßenlaternen wie ein vergletscherter Alpenberg bei Vollmond. Die Passanten blieben stehen und starrten das Tier verdutzt an, doch der Bär schien sich daran nicht zu stören. Satt und zufrieden tappte er weiter, immer die Hauptstraße entlang.

“Du kannst deine Augen öffnen”, sagte Robert.
Andreas schlug die Augen auf. Genau im richtigen Moment, denn auf der Überholspur fuhren jetzt zwei schwarze Lieferwagen am Taxi vorbei. Sie trugen die Aufschrift “POLARBÄR - KÜHLELEMENTE” - und über dem Firmenlogo war ein riesiger Eisbär abgebildet, der die Hälfte des Lieferwagens bedeckte. In der Dunkelheit wirkte es fast, als würden zwei Eisbären durch die Stadt marschieren. Es waren zwar keine echten Eisbären, aber die hatte Andreas auch nicht wirklich erwartet. So war seine Verblüffung umso größer.

“Siehst du die Wagen?” fragte er Robert. “Die mit den Eisbären.” Und er reichte seinem alten Schulkameraden den Zettel.

Robert faltete ihn auf, betrachtete ihn und murmelte:
“Donnerwetter. Du scheinst ja richtig Talent zu haben.
Beim ersten Mal funktioniert es selten.”

“Vielleicht war es nur Zufall”, sagte Andreas.

“Unsinn”, entgegnete Robert. “So etwas wie Zufall gibt es nicht. Das ist die Grundregel, die Regel Nummer eins, die Konstante in meinem Weltbild - quasi das, was die Lichtgeschwindigkeit in der Relativitätstheorie ist. Es gibt keine Zufälle. Merk dir das. Wenn du das erst einmal verinnerlicht hast, wirst du merken, wie extrem seltsam diese Welt ist, weil du für jeden scheinbaren Zufall auf einmal eine Erklärung brauchst - und sei sie auch noch so abwegig. Es gibt keine Zufälle. Keinen einzigen.”

“Du glaubst also, ich habe dafür gesorgt, dass diese Eisbär-Wagen genau in diesem Moment vorbei gefahren sind?”

“So ist es.”

“Aber wie ist es möglich?”

“Du musst aufhören, die Welt so zu sehen, wie sie dir erscheint. Fang statt dessen an, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Erinnere dich an das merkwürdige Verhalten der Elektronen, an die Atome, die zum überwiegenden Teil aus nichts bestehen. Das alles hier ist eine Illusion, Andi. Sieh das endlich ein. Und in einer Illusion ist alles möglich. Wir müssen es nur zulassen.”

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