Donnerstag, 23. Mai 2013
00011011 - Opium für das Volk
Endlich waren sie an den Mauern zum Tempelbezirk angekommen. Direkt vor ihnen erhob sich eine weiß getünchte Mauer von etwa drei Metern Höhe. Links und rechts flanierten die Pilger an der Mauer entlang. Und in der Ferne war ein Tor zu erkennen, das von einem hohen, kunstvoll gestalteten Turm markiert wurde. Vor dem Tor wiederum hatte sich eine lange Schlange gebildet.

“Das ist das Südtor”, erklärte Sathi. “Eines von vier Toren zum Tempelbezirk.”

“Wie groß ist denn der Tempelbezirk?” fragte Andreas.

“Sehr groß”, antwortete Sathi. “Es hat die Größe einer mittleren Stadt. Es gibt dort drinnen sieben Schreine, das sind Kleintempel. Außerdem fünf Tempel, drei Klöster und im Zentrum das große Feuerheiligtum, der Innere Bezirk, wo die Bruderschaft wohnt - also auch noch mal ein Kloster.”

“Schön”, sagte Andreas.

“Du wirkst nicht gerade begeistert.”

“Ich habe es nicht so mit der Religion.”

“Warum nicht?”

“Ich glaube, dass Religion ein Herrschaftsinstrument ist. Ich meine, die verkünden heute die Menschenrechte, die Gleichheit aller Menschen, die Menschenwürde und die Nächstenliebe. Im Mittelalter sah das noch ganz anders aus. Da predigte man die Hölle für all diejenigen, die sich gegen Gottes gewollte Ordnung auflehnten. Die Religion predigt immer das, was den gerade Herrschenden gefällt. Weil man mit dem Glauben die Menschen gefügig machen kann. Das wussten schon die Priester im Alten Ägypten. Es ist mittlerweile bekannt, dass sie etwas anderes predigten, als sie selbst glaubten. Warum? Weil sie ihre Macht nicht verlieren wollten. Religion ist Opium für das Volk. Sie gibt den Menschen eine Hoffnung, die sie niemals erfüllen kann.”

“Inwiefern niemals erfüllen?”

“Die Menschen suchen in ihrem Leben nach einem Sinn. Religion hat zu allen Zeiten den Menschen ein Bedürfnis erfüllt - nämlich das Bedürfnis danach, die grundsätzlichen Fragen des Lebens zu beantworten - wo sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Die moderne Naturwissenschaft hat den Glauben inzwischen verdrängt. Im modernen Weltbild ist kein Platz mehr für Götter. Das Universum könnte auch ohne einen Gott entstanden sein - ein gigantischer Zufall, nichts weiter. Der Sinn des Lebens, wenn es denn einen gibt, ist es, zu überleben und sich zu reproduzieren. Und wenn wir tot sind, gibt es kein ewiges Leben, das auf uns wartet. Wir verwesen einfach, und das war’s dann.”

“Eine sehr fatalistische Einstellung.”

“Eine weit verbreitete Einstellung. In meiner Welt wird der Atheismus zur am weitesten verbreiteten Weltanschauung.”

“Vielleicht gibt es in deiner Welt wirklich keine Götter”, meinte Sathi. “In unserer Welt gibt es sie. Sie existieren wirklich. Wir können mit ihnen reden.”

Sie hatten die Schlange vor dem Tor zum Tempelbezirk erreicht und reihten sich in die Wartenden ein. Das Tor wirkte auf Andreas wie ein Gebäude aus Disneyland - ein quietschbuntes Kaleidoskop von Göttern und dämonischen Fratzen. Da waren Menschen mit Elefantenkopf und mehreren Armen, da waren Dämonen mit Vampirzähnen, die um Feuer tanzten. Und immer wieder Wasser in allen Variationen, an Buddha erinnernde Figuren im Lotossitz, die Darstellungen von Tempeln, von Bauern bei der Reisernte, von Rindern und Vögeln, von Schlangen und Drachen und über allem an der Spitze ein Mann mit einem goldenen Hut und einem langen, weißen Bart.

“Das ganz oben ist Ithara”, sagte Sathi. “Der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Gott des unendlichen Äthers. Er ist der Gott der Juden, Christen und Muslime, der Gott aller Götter. Er hat die anderen vier Hauptgötter geschaffen, den Gott des Feuers Aga, den Gott des Wassers Pani, die Göttin der Erde Prittvi und den Gott der Luft Hava. Daneben gibt es Millionen anderer Götter. In jedem Baum, in jedem Tier, ja in jedem Menschen wohnt ein Gott. Und wenn ein Mensch stirbt, wird dieser Gott frei. Deshalb verehren wir unsere Ahnen.”

“Aha”, sagte Andreas geistesabwesend. Ihn interessierte die lemurische Mythologie nicht besonders. Es erinnerte ihn viel zu sehr an den Vortrag von Robert Jens, den er gerade verschlief.
Nur langsam kamen sie dem Tor näher. Dort standen Wächter mit Säbel im Anschlag, die die Reisenden kontrollierten. Von jedem verlangten sie die Papiere. Das waren meistens Empfehlungsschreiben von Priestern oder Pilgerurkunden, die sie als Wallfahrer zum Feuerheiligtum auswiesen.

“Ich weiß nicht, was in eurer Welt schief läuft”, sagte Sathi. “Ich kann nur sagen, dass das, was ich dir sage, sehr wichtig ist. Weil unsere Welt in Gefahr ist. Die Na’e Vykati. Deswegen sind wir hier.”

“Das sind die, die mich töten wollen”, sagte Andreas.
“Übrigens auch in meiner Welt.”

“In deiner Welt?”

“Ja”, sagte Andreas und erzählte die Geschichte vom Matrix-Terminator.

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