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Mittwoch, 19. Juni 2013
00110001 - Karbon-Faser
mercury mailer, 00:11h
Das Lemuria-Gebäude war Andreas bestens vertraut. Hier verbrachte er bald mehr Zeit als zu Hause. Doch in der Nacht hatte er es noch nie gesehen. Wie es verträumt im Mondschein da lag - die Halle in der Mitte des Gebäudes hell erleuchtet mit Strom, der am Tage durch die Photovoltaik-Module auf dem Dach gesammelt wurde. Der Rest des Firmensitzes war in tiefes Dunkel getaucht - nur in einem Büro brannte noch Licht. Andreas stellte fest, dass es das Büro der Niederlassungsleiterin war. Lucía Sánchez, die aussah wie Sundari, war also noch wach - und noch bei der Arbeit. Und das mitten in der Nacht am frühen Samstagmorgen.
“Wir sind da.”
“Bei meinem Arbeitgeber. Lemuria.”
“Ach, du arbeitest hier?” Robert grinste. “Dann bin ich ja so was wie dein Chef.”
“Ja, so wie jeder Aktionär der Deutschen Bank Chef von den Bankangestellten ist.”
Robert lachte. “Der war gut.”
“Mal ehrlich, Robert, hast du in diesem Laden wirklich was zu sagen?”
“Und ob. Ich habe das Sundari-Projekt erfunden. Und ich bestimme auch, wer davon erfahren darf und wer nicht. Deshalb kann ich es dir zeigen, ohne dass ich dich am Nachtwächter vorbei schmuggeln muss.”
“Oder an Frau Sánchez.”
“Wer ist Frau Sánchez?”
“Die Niederlassungsleiterin. Sie arbeitet noch. Und ja, sie weiß auch Bescheid über das Sundari-Projekt.”
“Ist ja ‘n Ding.”
“Und du kennst sie nicht?”
“Naja, also ich...”
Seltsam, dachte Andreas, aber er sagte es nicht. Wie Verbrecher schlichen sie auf das Gebäude zu. Abgesehen von einem leichten Wind hörten sie kein Geräusch. An der Drehtür schob Robert eine Scheckkarte ein. Sofort öffneten sich ein Computermonitor, eine Kamera und ein Tastenfeld. Es sah etwa so ähnlich aus wie bei einem Geldautomaten. Andreas kannte das System. Er hatte daran mitprogrammiert.
Auf dem Monitor erschien eine computergenerierte Figur mit der schwarzen Uniform eines Nachtwächters. “Guten Abend, Herr Jonas”, sagte die computergenerierte Stimme so freundlich, wie es irgendwie ging. Leider wirkte die Figur noch ein wenig störrisch. Unglücklicherweise war das Programmierteam bei der Gestaltung mitten im Uncanny Valley gelandet. Der virtuelle Nachtwächter sah schon zu menschenähnlich aus - allerdings nicht menschenähnlich genug, so dass er auf die Benutzer nicht mehr wie eine Maschine und noch nicht wie ein Mensch wirkte und daher für sie unheimlich war.
“Für den Netzhaut-Scan blicken Sie bitte in die Kamera”, sagte der Computer.
Robert tat, wie ihm geheißen, und der Computer sagte: “Vielen Dank. Geben Sie bitte jetzt Ihren persönlichen Türcode ein.”
Roberts Finger huschten nur so über die Tasten. Ein achtstelliger Dezimalcode.
Ein paar bange Augenblicke geschah gar nichts. Dann sagte der Computer: “Vielen Dank, Herr Jonas. Ihnen noch einen angenehmen Abend.”
Der Computer verschwand in der Wand, die wenig später so aussah, als wäre dort nie etwas gewesen. Robert öffnete die Tür, und beide gingen hinein.
Sie hatten den virtuellen Nachtwächter kaum passiert, als ihnen der aus Fleisch und Blut begegnete. “Guten Abend, Herr Held”, sagte er. Robert würdigte er keines Blickes. Dieser strebte ohne Umschweife auf den Aufzug zu, und Andreas folgte ihm.
Wieder allein mit Robert im Aufzug - diesmal in einem, der ihm vertraut war. Und er war auch angenehm groß im Vergleich zu dem Verschlag in der Schwarzwaldstraße 23. Bei Lemuria arbeiteten nicht wenige, die klaustrophobisch veranlagt waren. Also hatte das Unternehmen lieber einen größeren Fahrstuhl gebaut.
Doch jetzt ging es dorthin, wo Andreas noch nie war: Nach unten, in den Keller. Genauer gesagt, in das unterste von fünf Untergeschossen.
Andreas hatte sich nie für die Untergeschosse interessiert. Normalerweise hielten sich dort nur Techniker und Hardware-Spezialisten auf. Wenn überhaupt. Dort waren die ganzen Server gelagert. Auch einige von denen, auf denen die Nutzerdaten gehostet waren. Wer Zugang zu den Festplatten hatte, für den war es auch ein Leichtes, an die Daten heranzukommen. Das gesamte Wissen der Welt. Es lagerte bei Lemuria im Keller hinter dichten Panzerstahl-Türen. Nur war bisher niemand in der Lage, dieses Wissen in seiner Komplexität zu verwerten. Sollte es jemals gelingen, standen der Wissenschaft ungeahnte Möglichkeiten zur Verfügung. Vielleicht konnte man sogar herausfinden, ob es einen Gott gab oder ein Leben nach dem Tod oder was in nächster Zukunft geschehen würde.
Sie gelangten im Keller an eine weitere Sicherheitsschleuse. Wieder musste Robert seine Scheckkarte in einne Schlitz stecken, seine Netzhaut scannen lassen und eine Zahlenkombination eingeben. Diesmal öffnete sich eine Tür von allein - ähnlich wie bei Raumschiff Enterprise - und sie zischte auch genauso wie in der Fernsehserie. Dann gelangten sie in einen langen Gang - etwa zweihundert Meter lang mit glatten Stahlwänden links und rechts, die über drei Stockwerke in die Höhe ragten. Am Ende des Ganges aber befand sich eine weitere Tür. Laut hallten ihre Schritte an den Wänden des Korridors wider, als sie sich darauf zubewegten.
Auch die Tür öffnete sich zischend und gab den Weg frei in einen großen, dunklen Raum. Auf der anderen Seite aber erhob sich eine gewaltige Wand aus Monitoren. Andreas wusste nicht genau, wie viele es waren, aber es mussten Tausende sein, und aus irgendeinem dummen Zufall ergaben die Bilder, die auf ihnen zu sehen waren, zusammengesetzt das Bildnis von Big Brother aus dem 1984 erschienen Film "1984".
“Willkommen im Allerheiligsten des Sundari-Projekts”, sagte Robert. Und während sie sich der riesigen Monitorwand näherten, fuhr er fort: “In jeder der sieben größten Städte Deutschlands gibt es eine Niederlassung von Lemuria. Und in allen sieben Städten gibt es einen Ableger des Sundari-Projekts. Wir wollen später einmal die ganze Welt erreichen, aber das ist momentan noch zu aufwendig.”
Je näher sie der Videoleinwand kamen, desto mehr stellte Andreas fest, dass die Monitore in ständiger Bewegung waren. Manche waren still und starr auf ein Objekt gerichtet - das Schloss, den Fernsehturm, den Hauptbahnhof, das Planetarium - andere wiederum waren in stetiger Bewegung, so als wären die Kameras in Handys eingebaut, und der Besitzer würde sie ständig vor sich her tragen. Vor dieser gewaltigen Videowand aber standen Kästen wie Särge in mehreren Reihen im Raum. Andreas stellte fest, dass es kniehohe Serverschränke waren.
“Es gibt in unserer Stadt Tausende von Kameras”, sagte Robert. “Öffentliche, private und Kameras, die wir selber aufgestellt haben. Dazu kommen Handy-Kameras und diese Kamerabrillen, die wir seit neuestem verkaufen, die Lemunettes. Wir zapfen all diese Kameras an. Dazu kommen Satelliten-Kameras, die auf diese Stadt gerichtet sind. Die Daten aus den Kameras verknüpft mit den Computern, die sich in diesem Raum befinden, ergeben ein ziemlich genaues Bild dieser Stadt. Wir wissen genau, wer sich wo aufhält, wer wo einkauft, wer in welchem Club feiert - ja, sogar ob ein neues Tierbaby im Zoo geboren wird. Wir haben die ganze Stadt im Blick - im Norden bis zum Militärflughafen, im Süden bis zur Autobahn, im Osten bis ins Gebirge und im Westen bis zum Wildpark. Wir sehen alles, die Computer werten es aus und stellen aus diesen Daten eine VR-Umgebung her.”
“Eine VR-Umgebung?”
“Virtuelle Realität.”
Sie hatten die Monitore erreicht. Darunter befand sich ein Areal mit seltsamen Geräten. Ein wenig sahen sie aus wie kreisrunde Laufbänder. An einer Stange hingen zahlreiche Datenanzüge unterschiedlicher Größe, und darüber waren Datenhelme mit Datenbrillen angebracht. All diese Anzüge und Assessoires glänzten schwarz im Schein mehrerer weißer LED-Lampen, die über dem Areal angebracht waren. Andreas kam sich vor wie in einem Science-Fiction-Film.
“Ich wusste gar nicht, dass wir schon so weit sind”, sagte Andreas.
“Streng geheime Forschung”, bemerkte Robert. “Nicht einmal die Mitarbeiter sind darüber informiert, woran sie eigentlich arbeiten. Was hier generiert wird, ist keine künstliche Welt, sondern die echte Welt, wie sie dort draußen existiert. Mit all ihren Bewohnern. Die totale Überwachung zum Wohl der Menschheit.”
“Du willst damit sagen, dass hier eine künstliche Welt erschaffen wird, die die reale Welt abbildet?”
“Eine hundertprozentige Kopie - mit dem Unterschied, dass dich die Leute, die du siehst, nicht bemerken. Du bewegst dich wie ein Geist unter ihnen. Sie können dich nicht sehen. Sie werden vielleicht durch dich hindurch laufen. Es ist ein unheimliches Gefühl. Aber ein ganz besonderes Erlebnis. Komm her.”
Schon hatte er sich einen Datenanzug geschnappt. Er schien Andreas’ Größe zu haben.
“Hier, probier den an.”
“Du spinnst ja.”
“Hey, mir gehört der Laden.”
Andreas griff danach und hielt ihn an seinen Körper. Er hatte leichtes Übergewicht, aber der Anzug schien genau richtig für ihn zu sein.
“Und jetzt zieh dich aus.”
“Bitte?”
“Zieh dich nackt aus. Nur so ist die totale Immersion möglich. Je nackter du bist, desto intensiver die Emotionen.”
“Ich brauche keine intensiven Emotionen. Damit habe ich schon genug Probleme.”
“Bitte wie du willst”, sagte Robert und entledigte sich seinerseits seiner Kleidung. Wenig später stand er, wie Gott ihn schuf, vor Andreas. Dieser bemühte sich, nicht auf die baumelnde Männlichkeit seines alten Schulkameraden zu blicken.
“Zieh bitte den Anzug an”, sagte Andreas.
“Und du deinen. Zieh wenigstens Hose und Pullover aus. Deine Unterwäsche kannst du meinetwegen anbehalten. Der Computer wertet Wetterdaten aus und errechnet anhand dessen Temperatur und Wind. Du wirst es gleich auf der Haut spüren. Aber keine Angst: Wenn es zu kalt ist, simuliert der Anzug Kleidung auf deiner Haut. Dann spürst du die Kälte nur im Gesicht und an den Händen. Du kannst in diesem Anzug nicht erfrieren. Nun zieh ihn schon an.”
Andreas strich mit seiner Hand über den Anzug, begutachtete die Struktur. Es fühlte sich gut an - irgendwie wie ein Fahrradreifen, nur etwas anders. Schwer zu beschreiben. Hart und trotzdem weich. Er nahm ihn in die Hand. Der Anzug hatte kaum Gewicht.
“Toll, nicht wahr?” sagte Robert. “Der Anzug besteht aus Karbon-Faser. Jeder einzelne Millimeter davon kann deine Haut stimulieren. Wenn du den Anzug trägst, fühlst du dich nackt. Außer bei kalten Temperaturen. Dann simuliert der Anzug warme Kleidung, aber das sagte ich bereits.”
Andreas zog seine Jeans und seinen Pullover aus. Auch sein T-Shirt ließ er fallen, bis er mit nacktem Oberkörper vor Robert stand. Jetzt trug er nur noch Unterhose und Socken. Er schlüpfte in den Anzug. Es fühlte sich seltsam an. Tatsächlich: Als wäre er nackt. Und trotzdem war ihm warm.
“Jetzt fehlen nur noch Handschuhe und Datenhelm”, sagte Robert. “Und dann geht es auf das Laufband. Das Laufband steuert jeden deiner Schritte - egal in welcher Richtung - mit einer Bewegung gegen. Du läufst mehrere Kilometer, aber du bewegst dich nicht voran.”
Er zog sich die Handschuhe an, und Andreas machte es ihm nach. Das Gefühl war ähnlich wie beim Anzug. Ihm war, als hätte er gar keine Handschuhe an. Er ballte seine Hände zu Fäusten und lockerte sie wieder, so dass sie flach waren.
“Auch die Handschuhe bestehen aus Karbon-Faser. Der Helm auch - aber die Konsistenz ist eine andere. Der Helm ist gehärtet. Die Datenbrille darin ist hochauflösend. Es gibt im Ohrteil auch Kopfhörer. Aber die brauchen wir nur für die interne Kommunikation. Wir können das, was wir sehen, nicht hören. Abhören ist illegal. Deshalb werden wir uns wie Gehörlose durch die virtuelle Welt bewegen. Pass auf, dass dich kein Auto und keine Straßenbahn überfährt. Das ist alles andere als angenehm. Glaube es mir.”
“Ist das gefährlich?”
“Gefährlich nicht, aber äußerst schmerzhaft. Die Computer setzen die Informationen, die sie bekommen, in taktile Informationen um. Dafür ist der Datenanzug da.”
“Muss das sein?”
“Der Datenanzug wurde nicht für das Sundari-Projekt entwickelt. Der Erfinder ist ein Mann, der mit seiner Fernbeziehung in Peru echten Sex haben wollte. Der Anzug macht das Leben erstaunlich echt. Leider fehlen im Sundari-Projekt noch Geräusche und Gerüche. Aber keine Angst, die werden auch noch kommen.”
“Wir sind da.”
“Bei meinem Arbeitgeber. Lemuria.”
“Ach, du arbeitest hier?” Robert grinste. “Dann bin ich ja so was wie dein Chef.”
“Ja, so wie jeder Aktionär der Deutschen Bank Chef von den Bankangestellten ist.”
Robert lachte. “Der war gut.”
“Mal ehrlich, Robert, hast du in diesem Laden wirklich was zu sagen?”
“Und ob. Ich habe das Sundari-Projekt erfunden. Und ich bestimme auch, wer davon erfahren darf und wer nicht. Deshalb kann ich es dir zeigen, ohne dass ich dich am Nachtwächter vorbei schmuggeln muss.”
“Oder an Frau Sánchez.”
“Wer ist Frau Sánchez?”
“Die Niederlassungsleiterin. Sie arbeitet noch. Und ja, sie weiß auch Bescheid über das Sundari-Projekt.”
“Ist ja ‘n Ding.”
“Und du kennst sie nicht?”
“Naja, also ich...”
Seltsam, dachte Andreas, aber er sagte es nicht. Wie Verbrecher schlichen sie auf das Gebäude zu. Abgesehen von einem leichten Wind hörten sie kein Geräusch. An der Drehtür schob Robert eine Scheckkarte ein. Sofort öffneten sich ein Computermonitor, eine Kamera und ein Tastenfeld. Es sah etwa so ähnlich aus wie bei einem Geldautomaten. Andreas kannte das System. Er hatte daran mitprogrammiert.
Auf dem Monitor erschien eine computergenerierte Figur mit der schwarzen Uniform eines Nachtwächters. “Guten Abend, Herr Jonas”, sagte die computergenerierte Stimme so freundlich, wie es irgendwie ging. Leider wirkte die Figur noch ein wenig störrisch. Unglücklicherweise war das Programmierteam bei der Gestaltung mitten im Uncanny Valley gelandet. Der virtuelle Nachtwächter sah schon zu menschenähnlich aus - allerdings nicht menschenähnlich genug, so dass er auf die Benutzer nicht mehr wie eine Maschine und noch nicht wie ein Mensch wirkte und daher für sie unheimlich war.
“Für den Netzhaut-Scan blicken Sie bitte in die Kamera”, sagte der Computer.
Robert tat, wie ihm geheißen, und der Computer sagte: “Vielen Dank. Geben Sie bitte jetzt Ihren persönlichen Türcode ein.”
Roberts Finger huschten nur so über die Tasten. Ein achtstelliger Dezimalcode.
Ein paar bange Augenblicke geschah gar nichts. Dann sagte der Computer: “Vielen Dank, Herr Jonas. Ihnen noch einen angenehmen Abend.”
Der Computer verschwand in der Wand, die wenig später so aussah, als wäre dort nie etwas gewesen. Robert öffnete die Tür, und beide gingen hinein.
Sie hatten den virtuellen Nachtwächter kaum passiert, als ihnen der aus Fleisch und Blut begegnete. “Guten Abend, Herr Held”, sagte er. Robert würdigte er keines Blickes. Dieser strebte ohne Umschweife auf den Aufzug zu, und Andreas folgte ihm.
Wieder allein mit Robert im Aufzug - diesmal in einem, der ihm vertraut war. Und er war auch angenehm groß im Vergleich zu dem Verschlag in der Schwarzwaldstraße 23. Bei Lemuria arbeiteten nicht wenige, die klaustrophobisch veranlagt waren. Also hatte das Unternehmen lieber einen größeren Fahrstuhl gebaut.
Doch jetzt ging es dorthin, wo Andreas noch nie war: Nach unten, in den Keller. Genauer gesagt, in das unterste von fünf Untergeschossen.
Andreas hatte sich nie für die Untergeschosse interessiert. Normalerweise hielten sich dort nur Techniker und Hardware-Spezialisten auf. Wenn überhaupt. Dort waren die ganzen Server gelagert. Auch einige von denen, auf denen die Nutzerdaten gehostet waren. Wer Zugang zu den Festplatten hatte, für den war es auch ein Leichtes, an die Daten heranzukommen. Das gesamte Wissen der Welt. Es lagerte bei Lemuria im Keller hinter dichten Panzerstahl-Türen. Nur war bisher niemand in der Lage, dieses Wissen in seiner Komplexität zu verwerten. Sollte es jemals gelingen, standen der Wissenschaft ungeahnte Möglichkeiten zur Verfügung. Vielleicht konnte man sogar herausfinden, ob es einen Gott gab oder ein Leben nach dem Tod oder was in nächster Zukunft geschehen würde.
Sie gelangten im Keller an eine weitere Sicherheitsschleuse. Wieder musste Robert seine Scheckkarte in einne Schlitz stecken, seine Netzhaut scannen lassen und eine Zahlenkombination eingeben. Diesmal öffnete sich eine Tür von allein - ähnlich wie bei Raumschiff Enterprise - und sie zischte auch genauso wie in der Fernsehserie. Dann gelangten sie in einen langen Gang - etwa zweihundert Meter lang mit glatten Stahlwänden links und rechts, die über drei Stockwerke in die Höhe ragten. Am Ende des Ganges aber befand sich eine weitere Tür. Laut hallten ihre Schritte an den Wänden des Korridors wider, als sie sich darauf zubewegten.
Auch die Tür öffnete sich zischend und gab den Weg frei in einen großen, dunklen Raum. Auf der anderen Seite aber erhob sich eine gewaltige Wand aus Monitoren. Andreas wusste nicht genau, wie viele es waren, aber es mussten Tausende sein, und aus irgendeinem dummen Zufall ergaben die Bilder, die auf ihnen zu sehen waren, zusammengesetzt das Bildnis von Big Brother aus dem 1984 erschienen Film "1984".
“Willkommen im Allerheiligsten des Sundari-Projekts”, sagte Robert. Und während sie sich der riesigen Monitorwand näherten, fuhr er fort: “In jeder der sieben größten Städte Deutschlands gibt es eine Niederlassung von Lemuria. Und in allen sieben Städten gibt es einen Ableger des Sundari-Projekts. Wir wollen später einmal die ganze Welt erreichen, aber das ist momentan noch zu aufwendig.”
Je näher sie der Videoleinwand kamen, desto mehr stellte Andreas fest, dass die Monitore in ständiger Bewegung waren. Manche waren still und starr auf ein Objekt gerichtet - das Schloss, den Fernsehturm, den Hauptbahnhof, das Planetarium - andere wiederum waren in stetiger Bewegung, so als wären die Kameras in Handys eingebaut, und der Besitzer würde sie ständig vor sich her tragen. Vor dieser gewaltigen Videowand aber standen Kästen wie Särge in mehreren Reihen im Raum. Andreas stellte fest, dass es kniehohe Serverschränke waren.
“Es gibt in unserer Stadt Tausende von Kameras”, sagte Robert. “Öffentliche, private und Kameras, die wir selber aufgestellt haben. Dazu kommen Handy-Kameras und diese Kamerabrillen, die wir seit neuestem verkaufen, die Lemunettes. Wir zapfen all diese Kameras an. Dazu kommen Satelliten-Kameras, die auf diese Stadt gerichtet sind. Die Daten aus den Kameras verknüpft mit den Computern, die sich in diesem Raum befinden, ergeben ein ziemlich genaues Bild dieser Stadt. Wir wissen genau, wer sich wo aufhält, wer wo einkauft, wer in welchem Club feiert - ja, sogar ob ein neues Tierbaby im Zoo geboren wird. Wir haben die ganze Stadt im Blick - im Norden bis zum Militärflughafen, im Süden bis zur Autobahn, im Osten bis ins Gebirge und im Westen bis zum Wildpark. Wir sehen alles, die Computer werten es aus und stellen aus diesen Daten eine VR-Umgebung her.”
“Eine VR-Umgebung?”
“Virtuelle Realität.”
Sie hatten die Monitore erreicht. Darunter befand sich ein Areal mit seltsamen Geräten. Ein wenig sahen sie aus wie kreisrunde Laufbänder. An einer Stange hingen zahlreiche Datenanzüge unterschiedlicher Größe, und darüber waren Datenhelme mit Datenbrillen angebracht. All diese Anzüge und Assessoires glänzten schwarz im Schein mehrerer weißer LED-Lampen, die über dem Areal angebracht waren. Andreas kam sich vor wie in einem Science-Fiction-Film.
“Ich wusste gar nicht, dass wir schon so weit sind”, sagte Andreas.
“Streng geheime Forschung”, bemerkte Robert. “Nicht einmal die Mitarbeiter sind darüber informiert, woran sie eigentlich arbeiten. Was hier generiert wird, ist keine künstliche Welt, sondern die echte Welt, wie sie dort draußen existiert. Mit all ihren Bewohnern. Die totale Überwachung zum Wohl der Menschheit.”
“Du willst damit sagen, dass hier eine künstliche Welt erschaffen wird, die die reale Welt abbildet?”
“Eine hundertprozentige Kopie - mit dem Unterschied, dass dich die Leute, die du siehst, nicht bemerken. Du bewegst dich wie ein Geist unter ihnen. Sie können dich nicht sehen. Sie werden vielleicht durch dich hindurch laufen. Es ist ein unheimliches Gefühl. Aber ein ganz besonderes Erlebnis. Komm her.”
Schon hatte er sich einen Datenanzug geschnappt. Er schien Andreas’ Größe zu haben.
“Hier, probier den an.”
“Du spinnst ja.”
“Hey, mir gehört der Laden.”
Andreas griff danach und hielt ihn an seinen Körper. Er hatte leichtes Übergewicht, aber der Anzug schien genau richtig für ihn zu sein.
“Und jetzt zieh dich aus.”
“Bitte?”
“Zieh dich nackt aus. Nur so ist die totale Immersion möglich. Je nackter du bist, desto intensiver die Emotionen.”
“Ich brauche keine intensiven Emotionen. Damit habe ich schon genug Probleme.”
“Bitte wie du willst”, sagte Robert und entledigte sich seinerseits seiner Kleidung. Wenig später stand er, wie Gott ihn schuf, vor Andreas. Dieser bemühte sich, nicht auf die baumelnde Männlichkeit seines alten Schulkameraden zu blicken.
“Zieh bitte den Anzug an”, sagte Andreas.
“Und du deinen. Zieh wenigstens Hose und Pullover aus. Deine Unterwäsche kannst du meinetwegen anbehalten. Der Computer wertet Wetterdaten aus und errechnet anhand dessen Temperatur und Wind. Du wirst es gleich auf der Haut spüren. Aber keine Angst: Wenn es zu kalt ist, simuliert der Anzug Kleidung auf deiner Haut. Dann spürst du die Kälte nur im Gesicht und an den Händen. Du kannst in diesem Anzug nicht erfrieren. Nun zieh ihn schon an.”
Andreas strich mit seiner Hand über den Anzug, begutachtete die Struktur. Es fühlte sich gut an - irgendwie wie ein Fahrradreifen, nur etwas anders. Schwer zu beschreiben. Hart und trotzdem weich. Er nahm ihn in die Hand. Der Anzug hatte kaum Gewicht.
“Toll, nicht wahr?” sagte Robert. “Der Anzug besteht aus Karbon-Faser. Jeder einzelne Millimeter davon kann deine Haut stimulieren. Wenn du den Anzug trägst, fühlst du dich nackt. Außer bei kalten Temperaturen. Dann simuliert der Anzug warme Kleidung, aber das sagte ich bereits.”
Andreas zog seine Jeans und seinen Pullover aus. Auch sein T-Shirt ließ er fallen, bis er mit nacktem Oberkörper vor Robert stand. Jetzt trug er nur noch Unterhose und Socken. Er schlüpfte in den Anzug. Es fühlte sich seltsam an. Tatsächlich: Als wäre er nackt. Und trotzdem war ihm warm.
“Jetzt fehlen nur noch Handschuhe und Datenhelm”, sagte Robert. “Und dann geht es auf das Laufband. Das Laufband steuert jeden deiner Schritte - egal in welcher Richtung - mit einer Bewegung gegen. Du läufst mehrere Kilometer, aber du bewegst dich nicht voran.”
Er zog sich die Handschuhe an, und Andreas machte es ihm nach. Das Gefühl war ähnlich wie beim Anzug. Ihm war, als hätte er gar keine Handschuhe an. Er ballte seine Hände zu Fäusten und lockerte sie wieder, so dass sie flach waren.
“Auch die Handschuhe bestehen aus Karbon-Faser. Der Helm auch - aber die Konsistenz ist eine andere. Der Helm ist gehärtet. Die Datenbrille darin ist hochauflösend. Es gibt im Ohrteil auch Kopfhörer. Aber die brauchen wir nur für die interne Kommunikation. Wir können das, was wir sehen, nicht hören. Abhören ist illegal. Deshalb werden wir uns wie Gehörlose durch die virtuelle Welt bewegen. Pass auf, dass dich kein Auto und keine Straßenbahn überfährt. Das ist alles andere als angenehm. Glaube es mir.”
“Ist das gefährlich?”
“Gefährlich nicht, aber äußerst schmerzhaft. Die Computer setzen die Informationen, die sie bekommen, in taktile Informationen um. Dafür ist der Datenanzug da.”
“Muss das sein?”
“Der Datenanzug wurde nicht für das Sundari-Projekt entwickelt. Der Erfinder ist ein Mann, der mit seiner Fernbeziehung in Peru echten Sex haben wollte. Der Anzug macht das Leben erstaunlich echt. Leider fehlen im Sundari-Projekt noch Geräusche und Gerüche. Aber keine Angst, die werden auch noch kommen.”
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