Sonntag, 23. Juni 2013
00100011 - Reich und berühmt
Instinktiv griff Andreas nach seinem Schlüssel. Er war noch da. Inzwischen unter den ganzen Schlüsseln an seinem Schlüsselbund für alle sichtbar und doch versteckt. Das Taxi fuhr gerade in den Norden der Stadt, wo es die besten Clubs gab. Sagten zumindest viele, denn Andreas selber mochte eigentlich keine Clubs. Die Musik war zu laut, das Licht zu grell, und es waren viel zu viele Menschen unterwegs. Wenn er in einem Club war, fühlte er sich schon nach wenigen Minuten, als müsste sein Hirn zerspringen.

“Wenn wirklich das funktionieren würde, was du sagst, dass jeder die Realität manipulieren kann, wenn er nur will und wenn er es gelernt hat, dann müsste ja jeder reich und berühmt werden”, sagte Andreas zu Robert.

“Was spricht dagegen?”

“Naja, es kann nicht jeder reich und berühmt werden.”

“Warum denn nicht?”

“Das würde dem Konzept von reich und berühmt widersprechen. Stell dir mal vor, es wäre jeder reich. Es hätte jeder Geld im Überfluss. Was wäre das Resultat? Es würde alles teurer werden. Die Händler könnten mehr verlangen, weil die Kunden ja mehr bezahlen könnten. Somit würde das Geld an Wert verlieren. Es gäbe eine Inflation, und alle wären wieder arm. Und außerdem: Reichtum kann es nur geben, wenn es Armut auch gibt. Wenn es Armut nicht gibt, dann sind alle gleich. Das Vermögen und das Geld sind gleich verteilt, und das heißt auch, dass es keinen Reichtum mehr gibt. Und: Reichtum und Armut sind relativ. Für die meisten Menschen in Afrika sind wir reich - und zwar wir alle. Auch die Hartz IV-Empfänger. Denn sie müssen nicht verhungern, und sie haben in der Regel ein Dach überm Kopf. In Afrika ist das nicht so selbstverständlich. Umgekehrt sind wir für die Leute in Monaco oder in Dubai alle arm - naja, du vielleicht nicht - aber zumindest ich und unser Kollege Taxifahrer.”

“Aber es kann doch jeder berühmt werden.”

“Auch berühmt ist relativ. International berühmt, bundesweit berühmt, landesweit berühmt - stell dir vor, die Minister in unserem Bundesland kennt in Mecklenburg-Vorpommern niemand. Der Landrat eines Kreises ist schon im Nachbarkreis vollkommen unbekannt. Und dann gibt es Musiker, die nur in ihrer Szene berühmt sind, Wissenschaftler, die sich auf ihrem Gebiet einen Namen gemacht haben, aber wer nicht zumindest das Fach studiert hat, kennt sie nicht. Und dann gibt es die Kassiererin an der Kasse im Supermarkt. Die halbe Stadt kauft dort ein, jeder kennt ihr Gesicht und ihren Namen, da er auf einem Anstecker steht. Ja, die Kassiererin ist auch berühmt, weil viele sie kennen. Aber ist sie auch erfolgreich?”

“Du sagst es selbst. Es kann jeder berühmt werden.”

“Werden vielleicht, aber sein? Wie viele versuchen es? Wie viele Autoren, wie viele Bands, wie viele Schauspieler, wie viele Sportler, wie viele Basispolitiker gibt es? Und wie viele davon sind berühmt? Es kann nicht jeder erfolgreich sein. Denn auch der Misserfolg gehört zum Leben genauso dazu. Wenn jeder Erfolg hat, dann ist das doch nichts besonderes mehr.”

“Und doch bietet das Internet neue Möglichkeiten”, entgegnete Robert. “Es kann nicht nur jeder berühmt werden oder berühmt sein - es ist jeder berühmt.
Jedermann kann das Opfer von Papparazzi werden. Du brauchst noch nicht mal berühmt zu sein. Du musst höllisch aufpassen. Dir jeden Schritt genau überlegen. Wenn sich ein Star daneben benimmt, landet er mit seinem Tritt ins Fettnäpfchen wenig später in den Boulevard-Medien. Wenn sich ein ganz gewöhnlicher Mensch daneben benimmt, kann es sein, dass jemand ein Video von ihm macht und es auf Facebook, YouTube oder Lemuria veröffentlicht. Viele Menschen schauen sich das Video an, und ehe man sich versieht, hat es Millionen Klicks, und du wirst auf der Straße erkannt. Du schnappst dir einen Anwalt und lässt es löschen. Doch das Video ist längst viral geworden. Tausende haben es schon runter geladen. Ist es weg, stehen Tausende bereit, es wieder hochzuladen. Und du kannst nichts dagegen tun. Wenn YouTube das Video sperrt, landet es eben bei Lemuria. Wenn es Lemuria sperrt, wird es bei Vimeo veröffentlicht. Jeder Mensch kann jederzeit zur Berühmtheit werden - ob er will oder nicht. Das ist die neue Zeit. Früher haben Papparazzi Jagd auf Prominente gemacht. Heutzutage jagt jeder jeden.”

“Ist das die schöne neue Welt, die du anpreist?” fragte Andreas.

“Ja und nein”, sagte Robert. “Natürlich wollen viele berühmt sein - viele aber auch nicht. Eben deshalb. Wenn jeder bekommt, was er will, werden längst nicht alle reich und berühmt. Aber jeder wird erfolgreich sein. In dem, was er tut und was er tun will. Das muss kein Bestseller und kein Top 10-Album sein. Es kann auch der ganz alltägliche Erfolg sein. Dass jemand seinen Job gut macht und Anerkennung dafür erhält, dass er aufsteigt auf der Karriereleiter - oder dass er Erfolg hat bei dem einen Menschen, bei dem er Erfolg haben will. Oder dass er immer einen Parkplatz findet.”

“Was hast du denn ständig mit deinen Parkplätzen?” sagte Andreas. “Natürlich findet jeder einen Parkplatz. Die Frage ist nur, wie weit er vom Ziel entfernt ist. Dass jemand wirklich überhaupt keinen Parkplatz im weiten Umkreis findet, ist eher selten. Wenn du deshalb den Leuten sagst, dass sie einen Parkplatz finden werden, und sie finden tatsächlich einen, werden sie denken, dass du oder sie selbst dafür gesorgt haben.”

Robert entgegnete: “Ganz so einfach ist es nicht. Ich sehe, du bist ein Skeptiker. Selbst der Taxifahrer und der Eisbär haben dich nicht überzeugen können. Du glaubst nur das, was du siehst - und selbst das nicht.”

“Glaube mir, ich habe schon seltsame Dinge gesehen”, sagte Andreas und dachte dabei an die Welt Lemuria, aber auch an seinen mysteriösen Schlüssel, der bisher nirgends gepasst hatte. “Aber geglaubt habe ich nichts von alledem.”

“Manchmal fällt es eben schwer, Realität und Nicht-Realität, also Phantasie, Visionen, Träume Wahn, Lügen, Irrtümer und was auch immer auseinanderzuhalten”, sagte Robert. “Und glaube mir: Es ist so beabsichtigt. Es gibt Milliarden von Menschen. Und jeder sieht die Welt komplett anders als die anderen. Jeder interpretiert, erklärt, versucht zu verstehen, indem er seine Erfahrungen nutzt, um das, was er erlebt, zu interpretieren. Aber hat jeder Mensch die gleichen Erfahrungen? Nein, natürlich nicht. Aber da die Erfahrungen das sind, was uns prägt, was uns hilft, das, was wir sehen und hören zu interpretieren, wird jeder von uns die selben Ereignisse anders wahrnehmen.”

“Das ist purer Konstruktivismus”, sagte Andreas.

“Das ist es”, stimmte Robert zu. “Denn ich glaube, dass nicht nur unsere Interpretationen dafür sorgen, dass jeder eine andere Realität erlebt. Wir schaffen uns - jeder für sich - unsere Realität selbst. Und wer das begriffen hat - also nicht nur weiß, sondern es von ganzem Herzen versteht und damit umgehen kann - dem stehen alle Türen offen.”

Andreas musste unwillkürlich an den Schlüssel denken.
“Also es genügt nicht, es zu wissen.”

“Nein, du musst es fühlen, du musst es spüren. Und das kannst du nur, wenn du dein Bewusstsein erweiterst. Und das wiederum kannst du nur durch Meditation und den Erwerb von Wissen, das den meisten Menschen nicht zur Verfügung steht. Es ist kein Geheimwissen. Es ist frei verfügbar. Aber die meisten Menschen ignorieren es - weil sie vielleicht Angst haben oder weil sie nicht wissen, wie weit wir schon vorgedrungen sind auf unserer Suche nach der Wahrheit. Oder weil sie sich nicht öffnen für neues, weil das neue vielleicht ihrem Weltbild widerspricht, weil sie das, was sie zu wissen glauben, nicht kritisch hinterfragen. Der Mensch glaubt, was er glauben will. Daran wird sich nie etwas ändern. Der Mensch ist sogar bereit, eine offensichtliche Lüge zu glauben, die bereits widerlegt wird, sofern diese Lüge gut in sein Weltbild passt.”

“Wenn es wirklich stimmt, was du sagst”, sagte Andreas, “dann lehre mich dein Wissen und zeige mir, wie ich noch mehr Eisbären heraufbeschwören kann, wenn ich will.”

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