Sonntag, 23. Juni 2013
00100100 - Carpe Noctem
Sie erreichten das Carpe Noctem, und der Taxifahrer ließ sie aussteigen. Robert zahlte die Fahrt und fügte noch ein ansehnliches Trinkgeld bei. Dann betraten sie den Club. Der Türsteher schien sie noch nicht einmal zu beachten, als sie die Tür öffneten. Laute, hämmernde Industrial-Musik schallte ihnen entgegen.

“Und du bist sicher, dass du hier mit mir reden willst?” fragte Andreas.

Robert nickte, während er für beide den Eintritt in den Club bezahlte.

“Du solltest wissen, dass ich bei dieser lauten Musik niemandem zuhören kann. Ich kann schlecht filtern und dich nur schwer verstehen.”

“Keine Angst!” schrie Robert, und schon wurden sie von der wabernden Menschenmenge verschluckt, die zu den lauten Beats tanzte. Lichter und Laser, die in Andreas’ Augen schmerzten, blitzten und zuckten durch den dunklen Raum. Es roch nach Trockeneis und nach dem Schweiß der Menschen. Auf einem etwas erhöhten Podest über der Masse schwebte ein DJ und machte sich an seinem Laptop zu schaffen, der seine einzige Ausrüstung zu sein schien. Auf einem weiteren Podest tanzten zwei Gogo-Girls, deren einzige Kleidungsstücke schwarze Tanga-Bikinis waren. Robert und Andreas machten einen großen Bogen um die Tanzfläche, auf der sich Männer und Frauen tummelten, die allesamt jünger als Robert und Andreas sein mochten. Obwohl kein bestimmter Kleidungsstil vorzuherrschen schien, vermutete Andreas die Partygänger mit schwarzer Kleidung in der Überzahl. Da waren Frauen in hautengen Lack- und Lederkostümen - aber auch solche, die einen Minirock und ein enges Top trugen. Einige waren geschminkt, viele davon weiß im Gesicht. Andere sahen ganz normal aus - wie die Frauen, denen Andreas täglich auf der Straße begegnete. Die Bässe der Musik fuhren Andreas durch den gesamten Körper, so dass es beinahe schmerzte. Während die beiden einen großen Bogen um die Tanzfläche machten, achtete Andreas darauf, dass es nicht zu einem Körperkontakt mit einem der schwitzenden Leiber kam.

Sie passierten die Bar und fanden sich dahinter in einem geräumigen Bereich wieder, der mehr an ein Restaurant als an einen Club erinnerte. Frauen in engen Lederkostümen flitzten zwischen der Bar und den Tischen hin und her und brachten Bier und Cocktails zu den feiernden Gesellschaften.

Die beiden setzten sich an den einzigen freien Tisch - irgendwie hatte Robert geahnt, dass hier noch ein Tisch frei sein würde. Hier war auch die Musik nicht mehr ganz so laut. Nur noch ein dumpfes Wummern im Hintergrund. Dafür tönten die Unterhaltungen der Nachbartische umso lauter durch den Raum. Andreas musste sich nach vorne beugen, um Robert zu verstehen. “Warum in Gottes Namen sind wir ausgerechnet hier und nicht woanders?”

“Ich wusste nicht, dass es diesen Club überhaupt gibt”, sagte Robert. “In jeder Stadt dieser Größe gibt es einen Laden mit diesem Namen. Ich habe ihn deswegen auf gut Glück einfach genannt.”

“Und wenn es ein Schwulenclub gewesen wäre?”

“Dann wäre es eben ein Schwulenclub gewesen. Wir haben wirklich besseres zu tun, als uns um die Klientel in diesem Laden zu kümmern. Ob Homo oder Hetero, wen kümmert es, wenn es hier um viel bedeutendere Dinge geht?”

“Du bist doch hoffentlich nicht Homo, oder?”

“Was, wenn ich es wäre? Du solltest langsam mal deine Vorurteile abbauen. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass du anfängst, eigenständig zu denken. Stell alles in Frage, nimm nichts als selbstverständlich. Frag dich bei allem, was du weißt, woher du es weißt und ob es auch wirklich stimmt. Vieles, was du bislang für selbstverständlich gehalten hast, beruht auf Lügen und Irrtümern. Lass dir von niemandem vorschreiben, was du glauben sollst und was nicht. Nicht von der Kirche, nicht vom Staat, nicht von der Wissenschaft. Lerne, auf deinen Bauch zu hören. Er hat meistens recht.”

“Du bist gut. Auf den Bauch hören. Ich. Der verkopfteste Mensch weit und breit.”

“Ich werde dir jetzt meine Geschichte erzählen”, sagte Robert. “Wie ich der geworden bin, der ich bin. Ich denke, allein dadurch wirst du schon viel von dem erfahren, was du wissen musst. Also hör gut zu.”

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