Freitag, 14. Juni 2013
00100000 - Topp, die Wette gilt!
Er zündete sich eine Zigarette an. Rot glimmte das andere Ende, als Robert den Stängel in die Hand nahm und den Rauch in die kalte Abendluft hinaus blies.
Andreas beobachtete ihn skeptisch. Dann stellte er fest: “Du bist doch kein Superheld. Dir gelingt nicht alles.”

“Wie kommst du darauf?”

“Ich nehme nicht an, dass du freiwillig und aus Überzeugung rauchst. Die meisten, die rauchen, tun es, weil sie süchtig sind. Und wenn du süchtig bist, dann hast du es trotz deines positiven Denkens und all deiner Fähigkeiten nicht geschafft, dir das Rauchen abzugewöhnen.”

“Punkt für dich”, sagte Robert.

“Wie lang verkaufst du schon ein Erfolgsrezept, das nicht funktioniert?”

“Es funktioniert”, entgegnete Robert. “Ich bin wie Neo. Ich bin ein Herr dieser Welt. Ich kann wie in einem luziden Traum bestimmen, was als nächstes passiert.”

Andreas blickte ihn skeptisch an. Das war äußerst ungewöhnlich, denn er hasste es, seine Gesprächspartner anzuschauen. Das verminderte seine Aufmerksamkeit.

“Du glaubst mir nicht”, stellte Robert fest. “Also gut, also gut. Wie wäre es mit einer Wette?”

“Ich wette nicht.”

“Es geht nicht um Geld.”

“Um was dann?”

“Ich habe dir gesagt, dass ich dein Leben verändern kann - als Entschädigung dafür, dass ich es damals so zur Hölle gemacht habe.”

“Was willst du von mir?”

“Dass du mir verzeihst. Pass auf. Heute Nacht werde ich dich in ein Geheimnis einweihen, das nur wenige kennen. Hast du jemals vom Sundari-Projekt gehört?”

Andreas horchte auf. Wie konnte das nur sein? Erst heute hatte es Lucía ihm gegenüber erwähnt - mehr unbeabsichtigt, aber sie hatte es erwähnt. Lucía, die aussah wie Sundari und auch genauso redete wie sie.

“Du scheinst überrascht. Du hast schon davon gehört. Seltsam, dabei ist das streng geheim.”

“Mir sagt der Name Sundari was, aber ich kann ihn momentan nicht einordnen. Weißt du, woher der Begriff kommt?”

“Von Peter Mason. Genau wie der Name Lemuria auch.”

“Du arbeitest bei Lemuria?”

“Nicht direkt arbeiten. Ich bin Teilhaber. Mir gehören ein Drittel der Lemuria-Aktien. Genau wie Peter Mason. Das restliche Drittel befindet sich im Streubesitz. Also, das Sundari-Projekt ist wie gesagt streng geheim. Aber ich zeige es dir. Und warum? Weil du mich an Mason erinnerst - oder Mason erinnert mich an dich - je nachdem. Ist ja auch egal. Ich wollte mit dir eine Wette abschließen. Wenn du gewinnst, kannst du tun, was du willst. Du kannst abhauen, aber du kannst mir auch ein wenig Gesellschaft leisten und mit mir trinken gehen, aber ich werde dich nie wieder mit meinem Weltbild belästigen, wenn du es nicht willst. Wenn du gewinnst, und wenn es dein Wille ist, dann trennen sich hier unsere Wege. Für immer. Wenn du aber verlierst, bleibst du den ganzen Abend bei mir und hörst, was ich dir zu sagen habe, und ich verspreche dir: Es wird dich für das, was ich dir in der Schule angetan habe, mehr als entschädigen. Du kannst also nur gewinnen.”

Wieder blies er Rauch in die kalte Abendluft. “Und, was sagst du? Gehst du auf die Wette ein?”

“Wir haben bisher nur über den Wetteinsatz gesprochen, aber worauf willst du wetten?”

“Ich wette mit dir folgendes: Ich werde die Realität nur mit meiner Gedankenkraft beeinflussen, und du wirst Zeuge.”

“Klingt nach The Next Uri Geller.”

“Vergiss Uri Geller. Ich werde gleich von zehn rückwärts bis null zählen. Bei null kommt ein Taxi vorgefahren. Ich habe den Taxifahrer nie zuvor in meinem Leben gesehen. Aber er hat meine Bücher gelesen. Er ist ein Schriftsteller, der sich mit dem Taxifahren seinen Lebensunterhalt verdient. Er hat schon diverse Manuskripte an Verlage geschickt. Das alles wird er mir erzählen, ohne dass ich ihn danach frage. Er wird auch erzählen, dass die Verlage die Manuskripte allesamt abgelehnt haben - bis er meine Bücher gelesen hat. Plötzlich konnte er die Realität manipulieren, und schon nachdem er das erste Exposé weggeschickt hatte, wurde es angenommen. Er ist dabei, ein großer Schriftsteller zu werden, und das ist eine seiner letzten Taxifahrten.”

“Ich werde die Wette verlieren”, sagte Andreas. “Denn du hast vor, mich zu täuschen.”

“Nein, wirklich nicht. Kein Trick.”

“Beweis es mir.”

“Nenn mir eine Eigenschaft, die der Taxifahrer haben soll. Irgendeine.”

Andreas überlegte. Es sollte eine Eigenschaft sein, die ungewöhnlich, aber nicht zu abgefahren war, dass es unrealistisch würde. Vor allem aber eine Eigenschaft, auf die Robert nicht so leicht kommen würde, so dass eine Täuschung ausgeschlossen war.

“Ich kann mir eine x-beliebige Eigenschaft ausdenken, und du zauberst mir diesen Taxifahrer herbei - einfach nur durch die Macht der Gedanken?”

“Genauso ist es.”

“Also gut.”

Er ließ seine Blicke über die regennasse Fahrbahn schweifen, bis sie auf der gegenüberliegenden Straße an einem Werbeplakat hängen blieben. Es zeigte Homer Simpson, wie er gerade seine gelbe Pranke in die Höhe hob. Vier Finger. Vier Finger. Ja, das war nicht ganz alltäglich. Ein vierfingriger Taxifahrer - das war ungewöhnlich. Das würde ihn überzeugen. Er grinste.

“Der Taxifahrer hat an einer Hand nur vier Finger. Und er erklärt uns, ohne dass wir fragen, dass er den fünften Finger an einer Kreissäge verloren hat.”

“Gut”, sagte Robert. “Und, wetten wir?”

“Top, die Wette gilt.”

Robert ließ die Zigarette fallen und drückte sie mit seinem Schuh auf dem Straßenpflaster platt. Er zählte von zehn an rückwärts. Als er bei null angekommen war, kam ein schwarzer Mercedes um die Ecke gefahren - auf seinem Dach ein gelbes Taxi-Schild. Es hielt direkt neben Andreas und Robert. Robert stieg hinten ein und sagte: “Fahren Sie uns zum Carpe Noctem. Andreas folgte ihm auf die Rückbank. Dann begann die Fahrt durch die Nacht, und die Wette nahm ihren Lauf.

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