Mittwoch, 12. Juni 2013
00011110 - Wiedersehen
Endlich stand er ihm gegenüber. Endlich sah er in sein beschissenes Gesicht. Er schien ihn noch nicht einmal zu bemerken. Nahm automatisch Andreas’ Buch, zückte seinen Kugelschreiber, schlug die erste Seite auf. Dann sah er Andreas an. Doch er erkannte ihn immer noch nicht. Ein wenig zögerte er, bevor er fragte: “Auf welchen Namen?” Doch Andreas konnte Roberts Gesichtsausdruck nicht interpretieren. Was mochte ihm gerade durch den Kopf gehen? Andreas hatte keinen blassen Schimmer.

“Andreas Held”, sagte er.

Blitzschnell blickte Robert auf. Andreas schloss daraus, dass er sich erschrocken hatte. Robert schien sich unwohl zu fühlen. Er schien nervös zu sein, denn er spielte mit seinen Fingern, was er bisher nicht getan hatte. Und bildete sich nicht gerade Schweiß auf seiner Stirn? War er blasser als sonst? Andreas versuchte, auf alle Einzelheiten zu achten, um dann Rückschlüsse daraus ziehen zu können.

“Du bist es. Ich habe es gleich gedacht, als ich dich gesehen habe. Ich war mir nur nicht sicher. Hör mal, ich muss mit dir reden. Aber nicht hier. Nicht jetzt. Wenn das alles hier vorbei ist, lade ich dich in die Hotelbar in meinem Hotel ein. In Ordnung? Aber jetzt muss ich weiter signieren. Warte auf mich am Ausgang.”

Er signierte Andreas’ Buch nicht. Entweder hatte er es vor lauter Schreck vergessen, oder es war reine Boshaftigkeit - quasi als Fortsetzung von damals, als er ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte. Aber warum wollte er jetzt mit ihm reden? War es die längst überfällige Entschuldigung? Oder war es nur der Anfang eines neuen Streiches? Nein, er war erwachsen geworden. Sie alle waren erwachsen geworden. Das war eine andere Zeit. Nicht mehr 1984. Keine Schulhof-Spielchen mehr.

“Das war seltsam”, sagte Nova, nachdem Robert ihr Buch signiert hatte.

“Kommst du mit?” fragte Andreas.

Nova lächelte. “Sehr gern. Ich würde ihn auch gerne persönlich kennen lernen. Aber ich glaube, ihr beide habt viel zu bereden.”

“Ja, das stimmt. Aber morgen, hast du morgen Zeit?”
Sie nickte - immer noch lächelnd.

“Es ist schon spät. Ich muss nach Hause.”

“Wartet denn zu Hause jemand auf dich?”

“Nur meine Facebook-Freunde im Internet. Aber ich bin müde. Ruf mich an. Wir können uns morgen treffen.”

“Ich hoffe, nicht nur im Internet.”

Sie lachte. “Nein. Es gibt noch ein richtiges Leben.”
Andreas nickte traurig. Das war seit langem wieder das erste Mal, dass er das richtige Leben gespürt hatte - abgesehen von seiner Arbeit, aber auch die fand hauptsächlich im virtuellen Raum statt. Ansonsten gab es für ihn nur Lemuria. Eigentlich gab es NUR Lemuria. Lemuria war sein Leben - und jetzt vielleicht auch Nova.

“Also, Andreas. Man sieht sich.”

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