Montag, 10. Juni 2013
00011100 - Im Tempelbezirk
“Das ist wirklich bedenklich”, sagte Sathi. “Das ist sogar viel schlimmer, als ich dachte.”

“Warum das?”

“Weil deine Welt deine Schwachstelle ist. Hier bist du ein Held, dort bist du ein Schwächling. Wenn sie dich dort erwischen, hast du gegen sie keine Chance.”

“Aber dann hätten sie mich töten können in der U-Bahn. Warum haben sie es nicht getan?”

“Keine Ahnung. War vielleicht nur ein Schuss vor den Bug.”

“Aber warum? Ich habe doch nichts getan.”

“Sie glauben, dass du der Schöpfer von Lemuria bist, dass du hier alles und uns alle erfunden hast - auch unsere Götter.”

“Aber wenn ich das alles erfunden habe, existiert es nur in meiner Phantasie, und das heißt, dass sie nicht in meine Welt kommen können. Sie können nicht wirklich werden.”

“Bist du dir da ganz sicher? Was weißt du schon von deiner Welt?”

Andreas dachte kurz an Robert Jens und seinen Vortrag, der wahrscheinlich noch am Laufen war, denn die Zeit in Lemuria verging anders als in seiner eigenen Welt.

Sie kamen an die Reihe. Der Wachsoldat trug einen eisernen Brustpanzer, ein rot-gelb-gestreiftes Oberteil und einen Helm, der mit einer roten Feder verziert war. Die Beine waren ebenfalls gepanzert. Ein wenig erinnerte er Andreas an die Schweizergarde - aber nur ein wenig.

“Guten Tag, die Ausweispapiere bitte!”

Andreas reichte ihm das Geleit- und Empfehlungsschreiben von Königin Sundari. Der Wächter staunte nicht schlecht und sah Andreas mit einem Blick an, den er als ehrfurchtsvoll interpretierte. Im Gegensatz zu seiner eigenen Welt hatte er hier durchaus empathische Fähigkeiten. Doch Staunen und Ehrfurcht waren nur von kurzer Dauer. Schnell fasste sich der Wachmann wieder und sagte: “Ihr werdet bereits erwartet. Wir haben den Auftrag, euch unverzüglich zur Bruderschaft zu bringen.”

Aus einer Seitentür, die in ein Wachgebäude zu führen schien, kam zwei weitere Wächter, deren Uniformierung sich nicht von der des ersten unterschied. Der Wachmann, der Andreas und seine Begleiter kontrolliert hatte, sagte: “Bringt sie unverzüglich zum Obersten Feuerpriester.”

“Zu Befehl”, sagten die beiden anderen wie aus einem Mund. Und zu Andreas, Sathi und Hatana: “Kommt mit!” Etwas ruppig und nicht gerade freundlich.
Als sie aus dem Tor heraustraten, fanden sie sich in einer Stadt in der Stadt wieder - doch das Innere des Tempelbezirks unterschied sich fundamental von dem, was draußen war. Keine engen Gassen, sondern weiträumige, ebene Promenaden aus Schotter prägten das Stadtbild. Alle, die sich hier aufhielten, sofern sie nicht zu den Wachen gehörte, trugen entweder das weiße Gewand der Pilger, das rote Gewand der Mönche oder das gelbe Gewand der Priester. Schwarze Gebäude, die allesamt niedriger als die Mauer des Tempelbezirks waren, säumten rechts und links die Promenade. An den Rändern waren Altäre aufgestellt, auf den Feuer brannten. Vor ihnen aber erhob sich das größte Feuer von allen, das auf einer Art Pyramide in einer riesigen goldenen Schale brannte. Davor aber erhob sich ein Gebäuderiegel, vor dem wiederum eine schwarze Mauer den Weg versperrte. Der Wächter hielt genau darauf zu.

Die Straßen waren voller Pilger - allesamt Männer im Alter zwischen 20 und 50 Jahren. Keine Kinder, keine Greise, keine Frauen - nur Männer. Sie alle trugen einen Pilgerstab und eine Pilgertasche. Manche waren zu Fuß unterwegs, andere auf Knien. Wieder andere maßen die gesamte Strecke mit ihrer Körperlänge ab, indem sie sich auf den Boden legten, wieder aufstanden, zwei Schritte gingen und sich dann wieder hinlegten. Einige waren zügig unterwegs, andere hatten Gebete murmelnd die Handflächen aneinander gelegt und den Kopf gesenkt. An jedem Altar stand ein Priester, der, die Kapuze seines Gewandes über den Kopf gezogen, lautstark Stellen aus den Heiligen Schriften von Lemuria rezitierte. Es roch nach Feuer und nach Weihrauch.

Endlich hatten sie den Eingang des Heiligtums erreicht. Der Wächter führte sie weiter in einen Hof. Dann durchquerten sie eine kleine Säulenhalle, bevor sie in einem weiteren Hof standen. Ein paar Treppen hinauf, dann ein paar Treppen hinunter, bis sie auf eine Galerie traten, auf der sie einen Hof umrundeten. Andreas sah hinab und erschauerte. Dort lagen Leichen. Die Toten waren kaum älter als zwanzig und trugen die Gewänder von Novizen. Allesamt abgeschlachtet - einige durch einen Stich in den Bauch, anderen hatte man den Kopf abgeschlagen, der einige Schritte weiter auf dem Steinfußboden lag - den Blick in weite Ferne gerichtet und leblos wie die Köpfe von Schaufensterpuppen. Kein Zweifel: Hier hatte ein Gemetzel stattgefunden, und das war noch nicht so lange her.

Doch Andreas schien der einzige zu sein, der merkte, dass etwas nicht stimmte. Die anderen gingen weiter, als wäre nichts gewesen, und die Wächter führten sie weiter in eine große Halle.

Über einem Altar prangte hier ein überlebensgroßes Bild des Gottes Aga. Es erinnerte Andreas nicht nur ein wenig an den Teufel: Der Gott des Feuers war schwarz, hatte Hörner auf dem Kopf, einen Pferdefuß und einen Schwanz. Doch im Gesicht hatte er menschliche und im Gegensatz zum Teufel geradezu freundliche Züge. Er lächelte, während um ihn herum die Flammen züngelten.

Doch unterhalb des Altars bot sich ein ähnliches Bild wie noch zuvor im Hof: Hunderte von Mönchen lagen dem Gott des Feuers zu Füßen - sie alle abgeschlachtet, als wäre eine Armee von Wahnsinnigen ins Allerheiligste des Feuertempels eingedrungen. Die Toten pflasterten wie regungslose Puppen den Boden. Blut sammelte sich an den Stellen, die noch nicht von Leichen bedeckten waren. Ein Bild des Grauens.

Jetzt blieb das, was geschehen war, auch seinen Begleitern nicht verborgen. “Na’e Vykati”, sagte Hatana, und seine Hand glitt zum Schwert.

“Ganz recht”, sagte eine Stimme.

Andreas sah auf. Unter dem Götzenbild stand ein Hohepriester in einer schwarzen Mönchskutte - die Kapuze so weit herunter gezogen, dass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Ein bisschen erinnerte er Andreas an den Imperator aus Star Wars.

“Wir sind die Na’e Vykati, und wir haben diesen Tempel besetzt.” Die Stimme kam Andreas bekannt vor.

Der Hohepriester zog die Kapuze vom Kopf, und dann erkannte er ihn. Dieser Mann war niemand anderes als Robert Jens.

“Hallo, Bahadura”, sagte er grinsend. “Oder soll ich besser Andreas sagen?”

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