Dienstag, 11. Juni 2013
00011101 - Nova
mercury mailer, 22:36h
Andreas wusste später nicht mehr, was ihn dazu getrieben hatte, den Kontakt mit Robert zu suchen - und er hätte es wohl auch besser bleiben lassen sollen. Denn dann wäre ihm so einiges erspart geblieben. Allerdings hätte er dann wohl auch nicht Nova kennen gelernt. Und er hätte nie erfahren, was es mit dem Sundari-Projekt auf sich hat.
Nova war die blonde Frau, die während des Vortrags neben ihm gesessen hatte. Als er in der Schlange stand, um ein Buch von Robert Jonas zu erstehen, damit er es anschließend signieren lassen konnte - denn nur so war es ihm möglich, den Feind aus vergangenen Tagen wiederzusehen -, als er also dort stand und ungeduldig wartete, bis er an die Reihe kam, sprach sie ihn an. Wohlgemerkt: SIE sprach IHN an. Das war ungewöhnlich - noch viel ungewöhnlicher allein dadurch, dass sie auf ihn so schüchtern gewirkt hatte. Aber hätte sie ihn nicht angesprochen, so hätten sie sich niemals kennen gelernt. Denn Andreas sprach keine Frauen an. Grundsätzlich nicht. Da geriet er immer ins Stammeln und Stottern, er errötete und brachte keine ganzen Sätze zustande. Anders war es, wenn er angesprochen wurde. Dann hatte er normalerweise keine Probleme, lief aber Gefahr, die Frauenwelt mit seinen Fachvorträgen zu vergraulen. Doch diesmal war es anders.
“Und wie hat es dir gefallen?” fragte sie.
“Überhaupt nicht”, entgegnete Andreas wahrheitsgemäß.
“Und doch stehst du in der Schlange für seine Bücher.”
“Ich fand es interessant”, sagte Andreas. “Wenn ich auch einwenden muss, dass Robert Jonas’ Thesen jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren, so hat die Vorstellung, dass wir in einer Art Computerspiel leben, doch einen gewissen Reiz.”
“Ich bin Nova Zillwitz”, sagte sie.
“Andreas. Andreas Held.”
“Was machst du denn beruflich?”
“Ich bin IT-Fachmann und Programmierer.”
“Und was programmierst du?”
“Ich arbeite für Lemuria.”
Andreas las in Novas Gesichtsausdruck eine Mischung aus Überraschung und Respekt, war sich aber - wie immer - überhaupt nicht sicher und rechnete damit, dass es auch das komplette Gegenteil sein konnte.
“Für Lemuria? Ich habe da auch einen Account.”
“Den hat inzwischen jeder. Das ist der Trick bei der Sache.”
“Was denn für ein Trick?”
“Lemuria ist wie Google und Facebook zusammen. Wir sammeln Daten. Und die Leute rücken sie freiwillig heraus.”
“Und was macht ihr mit den Daten?”
“Kennst du die Psycho-Historiker?”
“Isaac Asimov?”
“Ja.”
“Eines meiner Lieblingsbücher.”
“Genau das versuchen wir auch. Die Geschichte der Menschheit, sofern es sich nicht um die Zufälle handelt, die durch Individuen ausgelöst werden, kann voraus berechnet werden. Wer erst einmal genügend Daten gesammelt hat, der kann errechnen, wann die nächste Wirtschaftskrise und wann die nächste Revolution kommt. Wir können aber auch errechnen, ob die Menschen in naher Zukunft eher Puma oder eher Adidas kaufen - ob sie verstärkt im McDonald’s essen gehen oder bei Alnatura einkaufen. Ob der nächste Hollywood-Blockbuster ein Hit wird oder ein Flop. Der einzelne Mensch interessiert uns wenig. Uns interessiert die Menschheit. Und die ist wie ein Schwarm. Wissenschaftler können berechnen, wie sich ein Schwarm bewegen wird. Aber sie können nicht berechnen, wie sich der einzelne Fisch bewegen wird. Unser Ziel ist es, allein mit Hilfe von Mathematik und Computern die Geschichte der Zukunft zu berechnen. Noch können wir das nicht, aber wir arbeiten daran. Das erste Ziel ist es, das gesamte Wissen, das es auf der Welt gibt, zu sammeln. Und damit meinen wir nicht nur das wissenschaftliche Wissen, sondern auch das Wissen über Menschen. Wer wen kennt, wer welche Freunde hat und wie diese Freunde miteinander vernetzt sind. Wer welche Vorlieben hat, wer welche Marken bevorzugt, wer welche Musik gerne hört. Alles. Aber diese Unmenge an Daten kann niemand auswerten. Dazu bedarf es einer Künstlichen Intelligenz. Wir entwerfen diese künstliche Intelligenz. Wir programmieren daran. Zunächst ist es einfach nur ein Chatbot oder eine Suchmaschinenoptimierung. Aber unsere Systeme sind lernfähig und werden intelligenter - und eines Tages werden sie in diesem Wust an Daten Verknüpfungen finden, die den Menschen entgehen - und dann werden sie das entdecken, was hinter dem alltäglichen Chaos steckt, das unser Leben ist. Sie werden entdecken, auf was wir zusteuern - das Paradies oder die Apokalypse.”
Er hatte es wieder getan. Er hatte wieder einer Frau, die ihn angesprochen hatte, einen ewig langen Monolog gehalten - über Dinge, die sicherlich nicht jeden interessierten. Doch Nova schien anders zu sein. Sie sagte nur: “Wow!”
“Und was machst du so beruflich?”
“Ich bin Lehrerin.”
“Lehrerin?”
“Ja. Latein und Informatik.”
“Und deine Schüler sind auch bei Lemuria?”
“Natürlich.”
“Und hast du sie geaddet?”
“Natürlich nicht. Würde ich nie tun. Sie würden meine Freundschaftsanträge auch nie bestätigen wollen. Welcher Schüler gibt schon gerne zu, mit seiner Lehrerin befreundet zu sein? Das ist absolut tabu.”
Ihr Gespräch wurde beendet, da sie jetzt am Verkaufsstand mit den Büchern angekommen war. Nach einigem Zögern entschied sich Andreas für Der Matrix-Code. Er nahm sich vor, das Buch auch zu lesen. Nova kaufte sich Jenseits der Realität und erklärte, die anderen Bücher hätte sie schon.
“Dann bist du ein Fan?” fragte er sie.
“Fan ist zu viel gesagt. Aber ich habe seine Seite geliked. Bei Facebook UND bei Lemuria.”
“Na toll, und ich habe über ihn gelästert. Die ganze Zeit.”
“War nicht ganz unberechtigt”, sagte sie geheimnisvoll. Wieder konnte er ihren Gesichtsausdruck nicht interpretieren, aber er nahm an, dass sie belustigt war. Jedenfalls war sie ihm nicht böse.
“Ich mag deinen Humor.” Das hatten bisher nicht viele über ihn gesagt.
Sie stellten sich an der anderen Schlange an, die sich vor Robert Jonas gebildet hatte, der immer noch fleißig signierte.
“Und was schreibt er so?”
“Tolle Sachen.” Sie lächelte. “Und vor allem: Es stimmt. Seine Bücher können dein Leben verändern.”
“Die Macht des positiven Denkens”, sagte Andreas.
“Ein ganz normaler psychologischer Trick. Wer an sich glaubt, dem gelingen viel mehr Dinge. Dadurch steigt das Selbstbewusstsein, und man wird auch attraktiver für das andere Geschlecht. Da braucht man nicht mit Quantentheorie oder mit irgendeinem Esoterik-Hokuspokus zu kommen.”
“Es ist mehr als Psychologie”, sagte Nova. “Er hat vollkommen recht mit den Parkplätzen. Ich finde immer einen.”
“Und auch jeden Mann, den du haben willst?”
Sie grinste. “Schon. Ich werde ihn aber auch los, wenn ich ihn nicht mehr will.”
“Das heißt, du bist ungebunden?”
“So sieht es aus. Ich genieße meine Freiheit. Du kannst mich gerne anrufen, wenn du willst.”
Sie tauschten Handy-Nummern aus, gaben sich aber auch gegenseitig ihre Lemuria-Namen und fingen dann wieder an, über Lemuria zu reden.
Nova war die blonde Frau, die während des Vortrags neben ihm gesessen hatte. Als er in der Schlange stand, um ein Buch von Robert Jonas zu erstehen, damit er es anschließend signieren lassen konnte - denn nur so war es ihm möglich, den Feind aus vergangenen Tagen wiederzusehen -, als er also dort stand und ungeduldig wartete, bis er an die Reihe kam, sprach sie ihn an. Wohlgemerkt: SIE sprach IHN an. Das war ungewöhnlich - noch viel ungewöhnlicher allein dadurch, dass sie auf ihn so schüchtern gewirkt hatte. Aber hätte sie ihn nicht angesprochen, so hätten sie sich niemals kennen gelernt. Denn Andreas sprach keine Frauen an. Grundsätzlich nicht. Da geriet er immer ins Stammeln und Stottern, er errötete und brachte keine ganzen Sätze zustande. Anders war es, wenn er angesprochen wurde. Dann hatte er normalerweise keine Probleme, lief aber Gefahr, die Frauenwelt mit seinen Fachvorträgen zu vergraulen. Doch diesmal war es anders.
“Und wie hat es dir gefallen?” fragte sie.
“Überhaupt nicht”, entgegnete Andreas wahrheitsgemäß.
“Und doch stehst du in der Schlange für seine Bücher.”
“Ich fand es interessant”, sagte Andreas. “Wenn ich auch einwenden muss, dass Robert Jonas’ Thesen jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren, so hat die Vorstellung, dass wir in einer Art Computerspiel leben, doch einen gewissen Reiz.”
“Ich bin Nova Zillwitz”, sagte sie.
“Andreas. Andreas Held.”
“Was machst du denn beruflich?”
“Ich bin IT-Fachmann und Programmierer.”
“Und was programmierst du?”
“Ich arbeite für Lemuria.”
Andreas las in Novas Gesichtsausdruck eine Mischung aus Überraschung und Respekt, war sich aber - wie immer - überhaupt nicht sicher und rechnete damit, dass es auch das komplette Gegenteil sein konnte.
“Für Lemuria? Ich habe da auch einen Account.”
“Den hat inzwischen jeder. Das ist der Trick bei der Sache.”
“Was denn für ein Trick?”
“Lemuria ist wie Google und Facebook zusammen. Wir sammeln Daten. Und die Leute rücken sie freiwillig heraus.”
“Und was macht ihr mit den Daten?”
“Kennst du die Psycho-Historiker?”
“Isaac Asimov?”
“Ja.”
“Eines meiner Lieblingsbücher.”
“Genau das versuchen wir auch. Die Geschichte der Menschheit, sofern es sich nicht um die Zufälle handelt, die durch Individuen ausgelöst werden, kann voraus berechnet werden. Wer erst einmal genügend Daten gesammelt hat, der kann errechnen, wann die nächste Wirtschaftskrise und wann die nächste Revolution kommt. Wir können aber auch errechnen, ob die Menschen in naher Zukunft eher Puma oder eher Adidas kaufen - ob sie verstärkt im McDonald’s essen gehen oder bei Alnatura einkaufen. Ob der nächste Hollywood-Blockbuster ein Hit wird oder ein Flop. Der einzelne Mensch interessiert uns wenig. Uns interessiert die Menschheit. Und die ist wie ein Schwarm. Wissenschaftler können berechnen, wie sich ein Schwarm bewegen wird. Aber sie können nicht berechnen, wie sich der einzelne Fisch bewegen wird. Unser Ziel ist es, allein mit Hilfe von Mathematik und Computern die Geschichte der Zukunft zu berechnen. Noch können wir das nicht, aber wir arbeiten daran. Das erste Ziel ist es, das gesamte Wissen, das es auf der Welt gibt, zu sammeln. Und damit meinen wir nicht nur das wissenschaftliche Wissen, sondern auch das Wissen über Menschen. Wer wen kennt, wer welche Freunde hat und wie diese Freunde miteinander vernetzt sind. Wer welche Vorlieben hat, wer welche Marken bevorzugt, wer welche Musik gerne hört. Alles. Aber diese Unmenge an Daten kann niemand auswerten. Dazu bedarf es einer Künstlichen Intelligenz. Wir entwerfen diese künstliche Intelligenz. Wir programmieren daran. Zunächst ist es einfach nur ein Chatbot oder eine Suchmaschinenoptimierung. Aber unsere Systeme sind lernfähig und werden intelligenter - und eines Tages werden sie in diesem Wust an Daten Verknüpfungen finden, die den Menschen entgehen - und dann werden sie das entdecken, was hinter dem alltäglichen Chaos steckt, das unser Leben ist. Sie werden entdecken, auf was wir zusteuern - das Paradies oder die Apokalypse.”
Er hatte es wieder getan. Er hatte wieder einer Frau, die ihn angesprochen hatte, einen ewig langen Monolog gehalten - über Dinge, die sicherlich nicht jeden interessierten. Doch Nova schien anders zu sein. Sie sagte nur: “Wow!”
“Und was machst du so beruflich?”
“Ich bin Lehrerin.”
“Lehrerin?”
“Ja. Latein und Informatik.”
“Und deine Schüler sind auch bei Lemuria?”
“Natürlich.”
“Und hast du sie geaddet?”
“Natürlich nicht. Würde ich nie tun. Sie würden meine Freundschaftsanträge auch nie bestätigen wollen. Welcher Schüler gibt schon gerne zu, mit seiner Lehrerin befreundet zu sein? Das ist absolut tabu.”
Ihr Gespräch wurde beendet, da sie jetzt am Verkaufsstand mit den Büchern angekommen war. Nach einigem Zögern entschied sich Andreas für Der Matrix-Code. Er nahm sich vor, das Buch auch zu lesen. Nova kaufte sich Jenseits der Realität und erklärte, die anderen Bücher hätte sie schon.
“Dann bist du ein Fan?” fragte er sie.
“Fan ist zu viel gesagt. Aber ich habe seine Seite geliked. Bei Facebook UND bei Lemuria.”
“Na toll, und ich habe über ihn gelästert. Die ganze Zeit.”
“War nicht ganz unberechtigt”, sagte sie geheimnisvoll. Wieder konnte er ihren Gesichtsausdruck nicht interpretieren, aber er nahm an, dass sie belustigt war. Jedenfalls war sie ihm nicht böse.
“Ich mag deinen Humor.” Das hatten bisher nicht viele über ihn gesagt.
Sie stellten sich an der anderen Schlange an, die sich vor Robert Jonas gebildet hatte, der immer noch fleißig signierte.
“Und was schreibt er so?”
“Tolle Sachen.” Sie lächelte. “Und vor allem: Es stimmt. Seine Bücher können dein Leben verändern.”
“Die Macht des positiven Denkens”, sagte Andreas.
“Ein ganz normaler psychologischer Trick. Wer an sich glaubt, dem gelingen viel mehr Dinge. Dadurch steigt das Selbstbewusstsein, und man wird auch attraktiver für das andere Geschlecht. Da braucht man nicht mit Quantentheorie oder mit irgendeinem Esoterik-Hokuspokus zu kommen.”
“Es ist mehr als Psychologie”, sagte Nova. “Er hat vollkommen recht mit den Parkplätzen. Ich finde immer einen.”
“Und auch jeden Mann, den du haben willst?”
Sie grinste. “Schon. Ich werde ihn aber auch los, wenn ich ihn nicht mehr will.”
“Das heißt, du bist ungebunden?”
“So sieht es aus. Ich genieße meine Freiheit. Du kannst mich gerne anrufen, wenn du willst.”
Sie tauschten Handy-Nummern aus, gaben sich aber auch gegenseitig ihre Lemuria-Namen und fingen dann wieder an, über Lemuria zu reden.
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