Montag, 17. Juni 2013
00100010 - Der Schlüssel
mercury mailer, 22:29h
Andreas mochte Weihnachten. All die Gerüche. Nach Braten, nach Plätzchen, nach frischem Tannengrün, das seine Mutter schon mit dem Adventskranz kurz vor dem ersten Advent ins Haus zu holen pflegte. Er liebte es, an Kerzen zu riechen, die gerade erst gelöscht wurden. Er genoss es, die Tannenzweige anzufassen, mit den Fingern daran entlangzufahren, die Zweige des Weihnachtsbaums durch seine Hände gleiten zu lassen. All die festliche Musik im Radio und auch auf Schallplatte und Kassette. Der Kleine Lord und Drei Haselnüsse für Aschenbrödel im Fernsehen. Die hell erleuchteten, festlich geschmückten Straßen seiner Heimatstadt, wo sich leuchtende Tannengirlanden mit grünen Sternen von Haus zu Haus schwangen, wo es zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts nach Bratwurst, Glühwein und frischen Wachskerzen roch. Er liebte es, Dominosteine im Mund zu zerquetschen, die köstliche Mischung aus Schokolade, Marzipan, Gelatine und Teig aufzusaugen. Er war außer sich, wenn er zum ersten Mal wieder eine Marzipankartoffel in seinem Mund spüren und zwischen Zunge und Gaumen zerdrücken konnte. Doch diesmal war alles anders.
Zwar erlebte er auch dieses Jahr wieder alles, was ihm die vergangenen Jahre so viel Freude bereitet hatte. Aber irgendwie konnte er sich diesmal nicht freuen. Etwas dunkles breitete sich in seiner Seele aus und betrübte ihn. Der Krieg gegen Robert, aber mit den Schulferien begann auch etwas anderes. Sehnsucht.
Auch die geballte Frauenpower hatte bis zum Beginn der Weihnachtsferien nichts gegen Robert ausrichten können. So ziemlich jede Gegenaktion versagte und machte den Peiniger nur noch wütender. Mit dem Ergebnis, dass sich Andreas immer mehr zurückzog, sich aus seiner Welt immer mehr verabschiedete. Er verbrachte viel Zeit in Lemuria und kehrte in seine eigene Welt nur noch zurück, um in die Schule zu gehen, um Hausaufgaben zu machen, um Essen zu gehen und um mit seinen Eltern nach Mannheim auf den Weihnachtsmarkt zu fahren. Doch war der Markt früher stets ein Höhepunkt des Jahres gewesen, so kamen ihm diesmal die Stände viel dunkler und düsterer vor. Die Zuckerwatte und die gebrannten Erdnüsse wollten ihm diesmal nicht schmecken.
Am schlimmsten aber war, dass seine Eltern und auch sein Bruder nicht merkten, was mit ihm los war. Immer wieder dachte er an Robert - aber auch an Maja. Er hatte Gefallen an ihr gefunden. Sie war für ihn da - sorgte stets dafür, dass ihm Robert während der Pausen nicht über den Weg lief, war sogar bereit dafür, ihn zu verstecken - wenn nötig, auch in der Mädchentoilette.
Ja, Maja. Er musste oft an sie denken. Selbst hier, auf dem Weihnachtsmarkt, sah er ihr Gesicht überall. Nur wenn er genauer hinsah, entdeckte er, dass es nicht sie war, die er gesehen hatte, sondern ein anderes Mädchen. Er hatte schon über vieles mit ihr geredet, und sie hatte immer ein offenes Ohr für ihn. Ihr konnte er alles anvertrauen - nur eines nicht: Er erzählte ihr nie über Lemuria aus Angst, sie könnte sich über ihn lustig machen.
Allerdings sah er sie nur in der Schule. Bisher hatte sie sich standhaft geweigert, ihn außerhalb des Geländes der Lehranstalt zu treffen - immer unter einem fadenscheinigen Vorwand. Ins Hallenbad konnte sie nicht gehen, da sie eine Wasserallergie hatte. Er schaffte es auch nicht, sie ins Kino auszuführen, weil sie immer etwas anderes vorhatte. Und auch einen Kaffee trinken wollte sie nicht mit ihm - außer in der Schulcafeteria.
An Maja denkend merkte er nicht, dass er von seinen Eltern getrennt wurde. Die Menschenmassen schoben sich derart zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts entlang, dass sie höllisch aufpassten mussten, wenn sie zusammenbleiben wollten.
Als Andreas bemerkte, dass er allein war, geriet er in Panik. All die Fremden, die so dicht an dicht über den Markt schlenderten, dass sie ihn berührten, dass er ihren Schweiß riechen konnte, ihren Mundgeruch, dass er ihr ständiges, unaufhörliches Geplapper hören konnte. Überall spielte Musik, überall andere Gerüche. An jeder Bude gab es viel zu sehen. Räuchermännchen. Weihnachtspyramiden. Holzschnitzereien aus dem Erzgebirge, das damals zur DDR gehörte. Wollsocken. Kinderspielzeug. Kräuterbonbons. Menschen. Gesichter. Immer mehr. Immer mehr.
Tausende Sinneseindrücke prasselten auf ihn ein. Schon hatte er genug, wollte sich zurückziehen, wollte das Ventil öffnen, um Dampf abzulassen. Allein sein. Die Akkus wieder aufladen. Aber all diese Eindrücke. Ein Stand mit stark riechender Seife. Und schon rieb der Gyrosduft vom Stand nebenan seine Nase. Nein, er hatte genug. Er war jetzt nicht mehr aufnahmefähig. Er fürchtete sein Kopf könnte platzen. Gleich tickte er aus, oder er brach zusammen. Eins von beidem. Gleich war es so weit.
Dann war plötzlich, als hätte jemand die Welt angehalten. Was der Mann, der in der Bude stand, verkaufte, war unwichtig, und Andreas konnte sich selber nicht mehr daran erinnern. Er wusste nur, dass er den Stand nie zuvor gesehen hatte. Aber der Mann, der dahinter stand, wirkte magisch auf ihn. Wie aus einer anderen Welt. Er hatte glattes, schwarzes Haar und schwarze Augen. Aber nicht von der Art, wie er sie später in der U-Bahn bei diesem Matrix-Terminator wieder sehen würde. Nein, irgendwie anders. So wie ein Süditaliener schwarze Augen hat. Oder ein Inder. Und diese schwarzen Augen blickten ihn so durchdringend an, dass er die Menschenmassen, die Geräusche und Gerüche um ihn herum vergaß und wie gebannt auf den Mann starrte. Er lächelte.
“Na, Kleiner”, sagte er. “Soll ich dir mal was zeigen?”
Der Weg zum Wasserturm, der sich in der Mitte des Weihnachtsmarktes erhob, war nicht weit. Wortlos führte ihn der Mann dorthin, und Andreas konnte gar nicht anders, als ihm zu folgen. Schon als kleines Kind hatte er sich oft gefragt, was denn wohl im Wasserturm drin wäre. Sein Vater hatte geantwortet: “Wasser, was sonst?”
“Aber warum tun die Wasser in den Turm?”
“Damit jede Wohnung frisches Wasser in der Leitung hat. Wenn keine Wohnung in Mannheim höher liegt als der Wasserturm, dann kann das Wasser in die Leitungen fließen, ohne dass man dazu eine Pumpe braucht. Je höher der Wasserstand im Turm, desto höher steigt das Wasser in der Leitung. Das ist wie beim Gartenschlauch, das du zu einem U formst. Je mehr Wasser du links einfüllst, desto mehr steigt es rechts. Und deswegen haben die einen Turm gebaut, den sie mit Wasser gefüllt haben.”
Der Mann führte ihn zu einer Tür, die Andreas noch nie zuvor gesehen hatte. Er öffnete die Tür knarrend. Die Menschenmassen, die sich am Turm vorbei schoben, schienen keine Notiz von ihm zu nehmen. Vor ihnen führte eine Treppe hinab in die Dunkelheit. Ein bisschen fühlte sich Andreas an “Aladin und die Wunderlampe” erinnert, das er zu Hause als Hörspielkassette besaß.
Langsamen Schrittes ging der seltsame Mann nach unten, ohne auch nur ein Wort zu sagen, und Andreas folgte ihm. Mit einem lauten Knall fiel hinter ihnen die Tür ins Schloss. Ihre Schritte hallten an den feuchten, schimmeligen Wänden, und es roch ein wenig nach Pilzen.
Unten angekommen öffnete sich vor Andreas’ Augen ein kleines Gewölbe. Der Mann entzündete eine Kerze. Ein wenig rutschte Andreas das Herz in die Hose.
Hatten seine Eltern ihn doch immer wieder gewarnt, er solle nicht mit Fremden gehen, und dieser Fremde war ganz und gar unheimlich. Erst jetzt fiel Andreas auf, dass dieser Mann eine Mönchskutte trug - oder trug er sie erst jetzt, und er hatte vorher etwas anderes getragen? Es war wie in einem Traum.
“Wer bist du?” fragte Andreas.
“Ein Freund”, antwortete der Fremde.
“Und wo bin ich hier?”
“Im Heiligtum des Pani, des Gottes des Wassers.”
“Bin ich in Lemuria?”
“Nein, das ist deine Welt.”
Er ging zu einem Tisch, der in der Mitte des Gewölbes aufgestellt war. Die Kerze beleuchtete den Raum nur spärlich, und so konnte Andreas nicht erkennen, ob sich noch weitere Möbelstücke in diesem Keller befanden. Aber eines erkannte er: Auf dem Tisch lag ein Schlüssel.
“Es gibt fünf Elemente”, sagte der Fremde.
“Falsch”, entgegnete Andreas. “Ich habe gelesen, es sind mehr als 100.”
Der Mann ignorierte ihn. “Fünf Elemente”, sagte er beharrlich. “Feuer, Wasser, Erde, Luft und der unendliche Äther.”
“Wasser ist kein Element. Es besteht aus den Elementen Sauerstoff und Wasserstoff. Luft besteht aus Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff, Feuer ist kein Element, sondern ein chemischer Prozess, die Erde besteht aus allem möglichem, und was Äther ist, weiß ich nicht.”
“Ich warne dich!” donnerte der Mann. “Die Welt ist nicht das, was sie zu sein scheint. Ich will dir helfen. Nimm den Schlüssel, der dort liegt!”
“Wozu brauche ich ihn?”
“Das wirst du früh genug erfahren. Trag ihn immer bei dir, aber zeige ihn niemandem und verrate auch niemandem davon. Noch nicht einmal deinen besten Freunden.”
“Ich habe keine Freunde”, sagte Andreas und steckte sich den Schlüssel in die Jackentasche.
“Wenn du eine Tür findest, in die dieser Schlüssel passt, dann gib Acht. Denn dann ist das, was dahinter liegt, für dich bestimmt. Es ist dein Schicksal, deine Bestimmung, die Tür zu öffnen.”
“Was werde ich dort finden?”
“Du wirst es erfahren, sobald die Zeit gekommen ist.”
Aber bisher war die Zeit nie gekommen. Immer wieder hatte Andreas den Schlüssel in verschiedenen Türen ausprobiert - ohne Erfolg. Ihm war auch aufgefallen, dass er den Schlüssel auch immer nur in seiner Welt bei sich tragen konnte. In Lemuria war er bislang immer ohne Schlüssel aufgewacht.
Wie Andreas, nachdem er den Schlüssel genommen hatte, nach draußen gekommen war, wusste er nicht. Er stand plötzlich von einem Moment auf den anderen wieder vor seinen Eltern.
“Mensch, wo warst du?” fragte sein Vater. “Wir haben dich schon überall gesucht.”
Schon hatte Andreas geglaubt, dies alles sei nur ein Tagtraum gewesen. Doch dann fand er in seiner Jackentasche den Schlüssel, den er seitdem immer bei sich trug.
Nach diesem seltsamen Erlebnis auf dem Weihnachtsmarkt war er noch oft zum Wasserturm gegangen, um sich dort umzuschauen. Doch die Tür hatte er nie wieder gefunden.
Zwar erlebte er auch dieses Jahr wieder alles, was ihm die vergangenen Jahre so viel Freude bereitet hatte. Aber irgendwie konnte er sich diesmal nicht freuen. Etwas dunkles breitete sich in seiner Seele aus und betrübte ihn. Der Krieg gegen Robert, aber mit den Schulferien begann auch etwas anderes. Sehnsucht.
Auch die geballte Frauenpower hatte bis zum Beginn der Weihnachtsferien nichts gegen Robert ausrichten können. So ziemlich jede Gegenaktion versagte und machte den Peiniger nur noch wütender. Mit dem Ergebnis, dass sich Andreas immer mehr zurückzog, sich aus seiner Welt immer mehr verabschiedete. Er verbrachte viel Zeit in Lemuria und kehrte in seine eigene Welt nur noch zurück, um in die Schule zu gehen, um Hausaufgaben zu machen, um Essen zu gehen und um mit seinen Eltern nach Mannheim auf den Weihnachtsmarkt zu fahren. Doch war der Markt früher stets ein Höhepunkt des Jahres gewesen, so kamen ihm diesmal die Stände viel dunkler und düsterer vor. Die Zuckerwatte und die gebrannten Erdnüsse wollten ihm diesmal nicht schmecken.
Am schlimmsten aber war, dass seine Eltern und auch sein Bruder nicht merkten, was mit ihm los war. Immer wieder dachte er an Robert - aber auch an Maja. Er hatte Gefallen an ihr gefunden. Sie war für ihn da - sorgte stets dafür, dass ihm Robert während der Pausen nicht über den Weg lief, war sogar bereit dafür, ihn zu verstecken - wenn nötig, auch in der Mädchentoilette.
Ja, Maja. Er musste oft an sie denken. Selbst hier, auf dem Weihnachtsmarkt, sah er ihr Gesicht überall. Nur wenn er genauer hinsah, entdeckte er, dass es nicht sie war, die er gesehen hatte, sondern ein anderes Mädchen. Er hatte schon über vieles mit ihr geredet, und sie hatte immer ein offenes Ohr für ihn. Ihr konnte er alles anvertrauen - nur eines nicht: Er erzählte ihr nie über Lemuria aus Angst, sie könnte sich über ihn lustig machen.
Allerdings sah er sie nur in der Schule. Bisher hatte sie sich standhaft geweigert, ihn außerhalb des Geländes der Lehranstalt zu treffen - immer unter einem fadenscheinigen Vorwand. Ins Hallenbad konnte sie nicht gehen, da sie eine Wasserallergie hatte. Er schaffte es auch nicht, sie ins Kino auszuführen, weil sie immer etwas anderes vorhatte. Und auch einen Kaffee trinken wollte sie nicht mit ihm - außer in der Schulcafeteria.
An Maja denkend merkte er nicht, dass er von seinen Eltern getrennt wurde. Die Menschenmassen schoben sich derart zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts entlang, dass sie höllisch aufpassten mussten, wenn sie zusammenbleiben wollten.
Als Andreas bemerkte, dass er allein war, geriet er in Panik. All die Fremden, die so dicht an dicht über den Markt schlenderten, dass sie ihn berührten, dass er ihren Schweiß riechen konnte, ihren Mundgeruch, dass er ihr ständiges, unaufhörliches Geplapper hören konnte. Überall spielte Musik, überall andere Gerüche. An jeder Bude gab es viel zu sehen. Räuchermännchen. Weihnachtspyramiden. Holzschnitzereien aus dem Erzgebirge, das damals zur DDR gehörte. Wollsocken. Kinderspielzeug. Kräuterbonbons. Menschen. Gesichter. Immer mehr. Immer mehr.
Tausende Sinneseindrücke prasselten auf ihn ein. Schon hatte er genug, wollte sich zurückziehen, wollte das Ventil öffnen, um Dampf abzulassen. Allein sein. Die Akkus wieder aufladen. Aber all diese Eindrücke. Ein Stand mit stark riechender Seife. Und schon rieb der Gyrosduft vom Stand nebenan seine Nase. Nein, er hatte genug. Er war jetzt nicht mehr aufnahmefähig. Er fürchtete sein Kopf könnte platzen. Gleich tickte er aus, oder er brach zusammen. Eins von beidem. Gleich war es so weit.
Dann war plötzlich, als hätte jemand die Welt angehalten. Was der Mann, der in der Bude stand, verkaufte, war unwichtig, und Andreas konnte sich selber nicht mehr daran erinnern. Er wusste nur, dass er den Stand nie zuvor gesehen hatte. Aber der Mann, der dahinter stand, wirkte magisch auf ihn. Wie aus einer anderen Welt. Er hatte glattes, schwarzes Haar und schwarze Augen. Aber nicht von der Art, wie er sie später in der U-Bahn bei diesem Matrix-Terminator wieder sehen würde. Nein, irgendwie anders. So wie ein Süditaliener schwarze Augen hat. Oder ein Inder. Und diese schwarzen Augen blickten ihn so durchdringend an, dass er die Menschenmassen, die Geräusche und Gerüche um ihn herum vergaß und wie gebannt auf den Mann starrte. Er lächelte.
“Na, Kleiner”, sagte er. “Soll ich dir mal was zeigen?”
Der Weg zum Wasserturm, der sich in der Mitte des Weihnachtsmarktes erhob, war nicht weit. Wortlos führte ihn der Mann dorthin, und Andreas konnte gar nicht anders, als ihm zu folgen. Schon als kleines Kind hatte er sich oft gefragt, was denn wohl im Wasserturm drin wäre. Sein Vater hatte geantwortet: “Wasser, was sonst?”
“Aber warum tun die Wasser in den Turm?”
“Damit jede Wohnung frisches Wasser in der Leitung hat. Wenn keine Wohnung in Mannheim höher liegt als der Wasserturm, dann kann das Wasser in die Leitungen fließen, ohne dass man dazu eine Pumpe braucht. Je höher der Wasserstand im Turm, desto höher steigt das Wasser in der Leitung. Das ist wie beim Gartenschlauch, das du zu einem U formst. Je mehr Wasser du links einfüllst, desto mehr steigt es rechts. Und deswegen haben die einen Turm gebaut, den sie mit Wasser gefüllt haben.”
Der Mann führte ihn zu einer Tür, die Andreas noch nie zuvor gesehen hatte. Er öffnete die Tür knarrend. Die Menschenmassen, die sich am Turm vorbei schoben, schienen keine Notiz von ihm zu nehmen. Vor ihnen führte eine Treppe hinab in die Dunkelheit. Ein bisschen fühlte sich Andreas an “Aladin und die Wunderlampe” erinnert, das er zu Hause als Hörspielkassette besaß.
Langsamen Schrittes ging der seltsame Mann nach unten, ohne auch nur ein Wort zu sagen, und Andreas folgte ihm. Mit einem lauten Knall fiel hinter ihnen die Tür ins Schloss. Ihre Schritte hallten an den feuchten, schimmeligen Wänden, und es roch ein wenig nach Pilzen.
Unten angekommen öffnete sich vor Andreas’ Augen ein kleines Gewölbe. Der Mann entzündete eine Kerze. Ein wenig rutschte Andreas das Herz in die Hose.
Hatten seine Eltern ihn doch immer wieder gewarnt, er solle nicht mit Fremden gehen, und dieser Fremde war ganz und gar unheimlich. Erst jetzt fiel Andreas auf, dass dieser Mann eine Mönchskutte trug - oder trug er sie erst jetzt, und er hatte vorher etwas anderes getragen? Es war wie in einem Traum.
“Wer bist du?” fragte Andreas.
“Ein Freund”, antwortete der Fremde.
“Und wo bin ich hier?”
“Im Heiligtum des Pani, des Gottes des Wassers.”
“Bin ich in Lemuria?”
“Nein, das ist deine Welt.”
Er ging zu einem Tisch, der in der Mitte des Gewölbes aufgestellt war. Die Kerze beleuchtete den Raum nur spärlich, und so konnte Andreas nicht erkennen, ob sich noch weitere Möbelstücke in diesem Keller befanden. Aber eines erkannte er: Auf dem Tisch lag ein Schlüssel.
“Es gibt fünf Elemente”, sagte der Fremde.
“Falsch”, entgegnete Andreas. “Ich habe gelesen, es sind mehr als 100.”
Der Mann ignorierte ihn. “Fünf Elemente”, sagte er beharrlich. “Feuer, Wasser, Erde, Luft und der unendliche Äther.”
“Wasser ist kein Element. Es besteht aus den Elementen Sauerstoff und Wasserstoff. Luft besteht aus Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff, Feuer ist kein Element, sondern ein chemischer Prozess, die Erde besteht aus allem möglichem, und was Äther ist, weiß ich nicht.”
“Ich warne dich!” donnerte der Mann. “Die Welt ist nicht das, was sie zu sein scheint. Ich will dir helfen. Nimm den Schlüssel, der dort liegt!”
“Wozu brauche ich ihn?”
“Das wirst du früh genug erfahren. Trag ihn immer bei dir, aber zeige ihn niemandem und verrate auch niemandem davon. Noch nicht einmal deinen besten Freunden.”
“Ich habe keine Freunde”, sagte Andreas und steckte sich den Schlüssel in die Jackentasche.
“Wenn du eine Tür findest, in die dieser Schlüssel passt, dann gib Acht. Denn dann ist das, was dahinter liegt, für dich bestimmt. Es ist dein Schicksal, deine Bestimmung, die Tür zu öffnen.”
“Was werde ich dort finden?”
“Du wirst es erfahren, sobald die Zeit gekommen ist.”
Aber bisher war die Zeit nie gekommen. Immer wieder hatte Andreas den Schlüssel in verschiedenen Türen ausprobiert - ohne Erfolg. Ihm war auch aufgefallen, dass er den Schlüssel auch immer nur in seiner Welt bei sich tragen konnte. In Lemuria war er bislang immer ohne Schlüssel aufgewacht.
Wie Andreas, nachdem er den Schlüssel genommen hatte, nach draußen gekommen war, wusste er nicht. Er stand plötzlich von einem Moment auf den anderen wieder vor seinen Eltern.
“Mensch, wo warst du?” fragte sein Vater. “Wir haben dich schon überall gesucht.”
Schon hatte Andreas geglaubt, dies alles sei nur ein Tagtraum gewesen. Doch dann fand er in seiner Jackentasche den Schlüssel, den er seitdem immer bei sich trug.
Nach diesem seltsamen Erlebnis auf dem Weihnachtsmarkt war er noch oft zum Wasserturm gegangen, um sich dort umzuschauen. Doch die Tür hatte er nie wieder gefunden.
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