Mittwoch, 26. Juni 2013
00100111 - Faust
Eines Tages stand ein Mann in Roberts Wohnung, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er war groß gewachsen, hatte kurze, glatte, schwarze Haare und durchdringende schwarze Augen - nicht komplett schwarz, wie man sie manchmal bei Dämonen im Fernsehen sieht. Nur die Pupille und die Regenbogenhaut waren schwarz. Aber das allein reichte aus, um Robert einen eiskalten Schauer über den Rücken zu jagen. Hinzu kam, dass der Fremde einen Anzug trug, der ihn aussehen ließ wie ein Missionar der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Der Mann lächelte.

“Wie sind Sie hier reingekommen?” fragte Robert, bevor der Eindringling noch irgend etwas sagen konnte.

“Die Tür stand offen”, sagte der Fremde.

“So ein Blödsinn. Die Tür steht niemals offen!”
“Wirklich nicht?”

Er blickte zur Wohnungstür. Und tatsächlich: Sie stand so weit offen, dass er auf den Flur hinaus schauen konnte.

“Was wollen Sie hier?” fragte Robert.

“Die Frage ist eher, was du willst, Robert”, sagte der Fremde.

“Sind wir jetzt schon per du oder was?”

“Dort, wo ich herkomme, sind alle per du.”

“Aus England?”

“Nein. Ich komme von außerhalb der Höhle.”

Robert wusste nicht, was ihn mehr verdutzte - dass der Fremde wusste, wie wichtig für ihn das Höhlengleichnis in den vergangenen Jahren geworden war, oder dass er tatsächlich behauptete, aus der Ideenwelt zu kommen. Und so setzte er sich. Der Mann war ihm unheimlich.

Auch der Mann setzte sich und blickte ihn mit seinen schwarzen Augen an, als wollte er ihn hypnotisieren. Robert hatte den Eindruck, dass mit dem Mann etwas nicht stimmte, aber er wusste nicht genau, was.

“Wer sind Sie?” fragte Robert.

Der Mann lächelte. “Dort, wo ich herkomme, gibt es keine Namen. Aber, da ihr Menschen Namen braucht: Ich bin derjenige, der Licht in die Dunkelheit der Unkenntnis bringt, der Lichtbringer oder auf Lateinisch: Luzifer.”

“Der Teufel.”

Luzifer lachte. “Das ist, was die Christen denken. Die Christen irren sich. Es gibt kein Gut und Böse. Das ist schon in dieser Welt schwierig. Gut und Böse ist Ansichtssache, und es kommt darauf an, welche moralischen Werte ihr habt. Die Menschenopfer der Azteken waren für die Christen böse, aber für die Azteken gut - umgekehrt war die Eroberung des Aztekenreich durch Cortez für die Azteken böse, doch die Spanier waren der Ansicht, dass sie etwas gutes tun, wenn sie den Eingeborenen den christlichen Glauben aufzwingen. Sie glaubten sich selbst im Recht und dass sie etwas gutes getan haben. Genau wie die Attentäter vom 11. September, die sich selbst als gut angesehen hatten aber von den meisten Menschen als böse verteufelt wurden. Und wenn es bei euch schon kein Gut und Böse gibt, bei uns gibt es das erst recht nicht. Deshalb kann ich nicht der Teufel sein.”

“Was bist du dann?”

“In alten Zeiten nannte man Wesen wie mich Götter. Aber ihr musstet dann ja nur noch einen Gott haben. Also hat man uns - je nach Zusammenhang - zu Geistern, Engeln oder Dämonen degradiert. Letztendlich bin ich eine Seele wie du - nur bin ich eben nicht inkarniert und habe deshalb einen größeren Einblick in die Schöpfung als du momentan.”

“Und woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?”

“Weißt du was? Ich bin gar nicht darauf angewiesen, dass du mir glaubst. Das ist mir egal. Du bist derjenige, der auf der Suche ist. Du willst wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält.”

“Und was ist es?”

“Du fragst dich, was der Sinn des Lebens ist? Ich sage es dir: Erfahrungen sammeln. Seelen inkarnieren als Menschen, Tiere, Pflanzen, Pilze, Einzeller oder als außerirdisches Leben oder aber als Götter, Engel oder Dämonen, um Erfahrungen zu sammeln. Um nichts anderes geht es hier. Und wenn sie genug Erfahrungen gesammelt haben, sterben sie, arbeiten ihr Leben auf den Astralebenen auf und gehen dann zurück zur Erde. Vollkommen freiwillig und nach einem Plan, den sie sich selbst vor der Geburt zurecht gelegt haben. Hier wird niemand belohnt oder bestraft. Die Welt ist ein Computerspiel - oder besser: ein Multiple Users Dungeon -, und du bist nichts weiter als ein Avatar, der von deiner Seele gesteuert wird - und diese Seele sitzt außerhalb der Höhle, versetzt sich in dich hinein und schaut zu - ist gleichzeitig du und dann doch wieder nicht.”

“Und das ist alles? Das ist der ganze Trick? Wesen, die etwas erleben wollen und deshalb diese Erde geschaffen haben?”

“Nein, das ist nur der Anfang. Es wird noch viel toller. Die Schöpfung ist so bunt, so vielfältig und phantasievoll, wie du es dir in deinen kühnsten Träumen nicht ausmalen kannst. Es gibt hier Dinge, die so unglaublich sind, dass sie dein kleines, menschliches Gehirn sprengen würden, falls du ihnen begegnest. Und für dich hat das Abenteuer gerade erst begonnen - wenn du mit mir einen Pakt schließt.”

“Der Pakt mit dem Teufel, klar.”

“Ich bin nicht der Teufel”, sagte Luzifer. “Trotzdem biete ich dir einen kleinen Deal an. Du verkaufst mir deine Seele und bekommst dafür ein Leben, um das dich viele beneiden werden. Was du anpackst, wird dir gelingen. Du wirst keinen Fehlschlag mehr erleiden. Du darfst machen, was du willst, erleben, was du willst, du wirst reich und berühmt, ein gefeierter Star, Gründer einer Religionsgemeinschaft, Bestsellerautor, erfolgreicher Geschäftsmann, ebenso erfolgreicher Liebhaber - alles, was du willst.”

“Aber ich verkaufe dir meine Seele.”

“So ist es.”

“Und wenn ich sterbe? Was geschieht mit meiner Seele?”

Luzifer lachte. “Du glaubst doch nicht etwa diese Faust-Geschichte? Ich habe dir doch gesagt, ich bin nicht der Teufel. Es gibt auch keine Hölle. Nach deinem Tod ist deine Seele frei. Ich rede von der Zeit vor deinem Tod. Du verkaufst mir deine Seele. Im übertragenen Sinne. Das heißt, du widmest dich voll und ganz dieser Sache.”

“Welcher Sache?”

Luzifer grinste. Roberts Herz schlug schneller. Nervös spielte er mit seinen Fingern.

“Eigentlich sind es drei Sachen. Nummer eins: Das, was ich dir zeigen werde, gibst du weiter - und zwar an möglichst viele Menschen. Jeder soll spüren, wie es ist, sein Leben wirklich frei gestalten zu können. Jeder soll die Wahrheit über diese Welt erfahren. Jeder soll diese Höhle, die ihr Realität nennt, verlassen können.”
Er machte eine Pause. Robert nickte. Das erschien ihm annehmbar.

“Nummer zwei: Du wirst das gesamte Wissen dieser Welt sammeln - und zwar wirklich das gesamte. Nicht nur das wissenschaftliche Wissen, auch das religiöse, esoterische, sogar das private. Wer ist mit wem befreundet? Wer hält sich gerade wo auf? Wer tut gerade in diesem Augenblick was? Ich will, dass du ein Netzwerk aufbaust, das die gesamte Welt umfasst - in all ihren Facetten. Und dass du eine künstliche Intelligenz erfindest, die diese Daten auswertet und somit ausrechnen kann, was die Zukunft bringt.”

“Das kann ich nicht.”

Luzifer grinste. “Das sollst du auch nicht allein. Du erhältst Hilfe aus Amerika. Du wirst es erfahren, sobald es soweit ist. Und jetzt zum dritten Punkt, und der ist wesentlich komplizierter: Es gibt auch andere Welten, und früher waren sie durch Portale miteinander verbunden. Doch vor vielen Jahrhunderten, als die Menschheit noch jung war, verschlossen Dämonen die Portale und versteckten die Schlüssel. Insgesamt gibt es fünf Schlüssel. Nur wer alle Schlüssel besitzt, kann alle Portale wieder öffnen. Ein einziger Schlüssel nutzt nichts. Finde diese Schlüssel für mich.”

“Wo sind sie versteckt?”

“Der Schlüssel des Feuers ist in Kenia vergraben - an der Stelle, an der erstmals ein Mensch Feuer machte. Der Schlüssel der Erde liegt auf dem Grund des Grand Canyon. Der Schlüssel der Luft befindet sich auf dem Gipfel des Mount Everest, dem höchsten Berg der Welt. Und der Schlüssel des Einen Gottes, des unendlichen Äthers, liegt am heiligsten Ort der Welt - auf dem Tempelberg in Jerusalem. Der Schlüssel des Wassers ist ein Problem. Er war ursprünglich an der Quelle des Ruvenzori in Afrika versteckt, an der wahren Quelle des Nil. Allerdings hat ihn dort jemand gefunden und in den Mannheimer Wasserturm gebracht. Doch seit einigen Jahren ist er auch dort nicht mehr zu finden. Er ist weg.”

“Und ich soll quasi durch die ganze Welt vom tiefsten Canyon bis zum höchsten Berg - ganz zu schweigen davon, dass niemand wirklich weiß, wo der Mensch das erste Mal Feuer gemacht hat und wo der Schlüssel des Wassers zu finden ist - ganz zu schweigen davon, dass die Muslime sicherlich nicht sehr begeistert sein werden, wenn ich anfange, auf dem Tempelberg zu graben. Was ist, wenn ich das alles nicht schaffe? Wenn ich versage? Oder wenn ich mich weigere?”

“Du wirst dich nicht weigern, und du wirst nicht versagen. Aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass es doch der Fall sein sollte, platzt unser Deal - und du verlierst alles, was du durch diesen Deal gewonnen hast. Du wirst einsam und allein sterben und zumindest in diesem Leben keinen Fuß mehr auf die Erde kriegen. All dein Wissen, das du dir angeeignet hast, wird verloren sein. Also, Deal?”

“Deal.”

Die beiden standen auf, und Luzifer schüttelte Robert die Hand. Dann drehte er sich um, und von einem Moment zum anderen war er verschwunden, als hätte ihn jemand einfach ausgeknipst. Dafür lag ein leichter Geruch nach Schwefel im Raum.

Andreas war geneigt, Robert kein Wort von dem zu glauben, was er ihm berichtete. Doch die Geschichte mit den Schlüsseln machte ihn stutzig. Er überlegte sich, ob er Robert erzählen sollte, dass er den Schlüssel des Wassers hatte, aber er entschied sich dagegen. Er traute Robert nicht. Schließlich wusste er nicht, was Robert mit den Schlüsseln anstellen würde, wenn er sie mal eines Tages alle gesammelt hätte. Dass Robert auch plötzlich in Lemuria im Feuertempel aufgetaucht war, trug nicht gerade dazu bei, seinen alten Klassenkameraden vertrauenswürdiger erscheinen zu lassen. Auch die Geschichte mit Luzifer war ihm unheimlich. Doch Robert hatte ihm noch viel mehr zu erzählen.

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