Freitag, 28. Juni 2013
00101001 - Ein Netz aus Menschen
mercury mailer, 23:15h
Auf dem Weg nach San Francisco führte ihn das Schicksal in eine Bar. Robert hatte nicht groß nachgedacht. Er war einfach nur seinem Instinkt gefolgt, und er erhoffte sich weitere Hinweise darauf, wo denn der Schlüssel des Wassers zu finden sei. Also ging er an die Theke, bestellte sich einen Bourbon und fragte den Wirt: “Schon mal was von magischen Schlüsseln gehört?”
“Magische Schlüssel?” fragte der Wirt. “Was soll denn das sein?”
“Hören Sie, ich weiß, dass es fünf davon gibt - über die ganze Welt verteilt. Einer davon ist verschollen, und in San Francisco soll es einen geben, einen Chinesen, der weiß, wo er ist.”
“Ah”. Das Gesicht des Wirtes hellte sich auf. “Sie meinen bestimmt Michael Lee. Der hat lauter so esoterisches Zeugs.”
“Wo finde ich ihn?”
“In Chinatown. Warten Sie, ich schreibe Ihnen die Adresse auf.”
Roberts Aufmerksamkeit fiel auf einen Mann, der neben ihm saß. Er war etwas jünger und schien komplett mit sich selbst beschäftigt zu sein. Eine Begleitung schien er nicht zu haben. Schweigend kritzelte er mit einem Kugelschreiber auf ein eng beschriebenes Blatt Papier. Es sah aus wie ein Stammbaum oder eine technische Skizze - ein Gewirr von Kästen, Balken und Linien - wie eine überdimensionierte Mind Map, die jemand geschrumpft hatte, so dass sie auf ein normales Blatt Papier passte.
“Hey, sir!” sagte er.
“Bemühen Sie sich nicht”, entgegnete der Wirt. “Der redet mit niemandem. Asperger-Syndrom.”
Der junge Mann wedelte mit dem Kugelschreiber blitzschnell hin und her. Seine Gedanken waren voll und ganz auf das Blatt Papier gerichtet.
“Was für ein Syndrom?”
“Asperger.”
“Was ist das?”
“So was wie Autismus.”
“Sie meinen Rain Man?”
“Erwähnen Sie bloß nicht diesen Film.”
Sofort war der Junge aus seinen Gedanken gerissen. Er blickte auf und starrte Robert mit Augen an, die irgendwie tot und emotionslos wie die Augen eines Roboters wirkten. Er sprach schnell, laut und monoton.
“Und es geht los!” murmelte der Wirt.
“Wissen Sie, was das ist? Asperger-Syndrom? Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, wie man sich fühlt, wenn man nicht dazu gehört? Wenn alle Leute in deinem Seminar zur Party eingeladen sind - nur du nicht? Wenn alle Jungs Frauen finden - nur du nicht? Wenn du niemanden findest, mit dem du reden kannst, weil sich wirklich niemand für das interessiert, was du zu sagen hast? Ich habe mit zwölf Jahren die Relativitätstheorie begriffen, aber wie Menschen funktionieren, habe ich nie begriffen. Menschen funktionieren nicht logisch - sie funktionieren emotional. Sie können sich instinktiv in ihr Gegenüber hinein versetzen. Ich kann das nicht. Menschen merken, was andere Menschen fühlen. Ich nicht. Die Menschen verstehen mich nicht, und ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freunde. Keinen einzigen. Wissen Sie, wie es ist, wenn man sich so fühlt? Wenn man sich immer fragt, ob man sich richtig verhalten hat oder ob man wieder in ein Fettnäpfchen getreten ist, weil man die ungeschriebenen Spielregeln dieser Welt nicht versteht, wenn sie dir aber auch niemand erklärt, weil jeder sie für selbstverständlich hält? Wenn man noch nicht einmal weiß, ob das, was dir jemand gesagt hat, ironisch gemeint war oder nicht? Wenn man anders ist?”
“In meiner Klasse war einer wie du”, sagte Robert. “Jedenfalls so ähnlich.”
“Alle meine Freunde sind wie ich”, entgegnete der junge Mann.
“Ich denke, du hast keine Freunde.”
“Habe ich auch nicht. Jedenfalls keine richtigen. Ich habe sie alle über das Internet kennen gelernt. Chatrooms, Foren, Newsgroups, das übliche halt. Ich hätte nie gedacht, dass ich Freunde oder sogar vielleicht Mädchen haben kann. Aber über das Internet habe ich welche kennen gelernt. Das Internet ist ein Segen für Leute wie mich.”
“Du bist ein Nerd”, sagte Robert und lachte dabei. Aber es war ein freundliches Lachen, kein bösartiges. Er hatte selber schon genügend Menschen wie diesen jungen Mann kennen gelernt, auch wenn er sich selber nicht dazu zählte.
“Mag sein, aber ein Nerd mit einer Idee. Das Internet basiert auf einer ganzen Menge von Menschen mit guten Ideen. Ich weiß nicht, wie viele davon Nerds waren. Aber es waren lauter Verrückte, die diese Sache voran getrieben haben. Vannevar Bush. Ted Nelson. Tim Berners-Lee. Larry Page und Sergey Brin. Aber das alles war gestern. In Zukunft wird niemand mehr das Haus verlassen, wenn er es nicht will. Wir werden alles im Internet machen: Arbeiten, einkaufen, Leute kennen lernen und Kontakt halten, Bücher lesen, Musik hören, Filme gucken, sogar mit dem Finger auf der Landkarte verreisen. Wir haben unseren Pager, unseren Kalender, alles im Internet - und zwar mit einem Programm, einem ganzen System, das ich entwickelt habe. Wir brauchen ein soziales Netzwerk, mit dem man Freunde finden und Kontakte pflegen kann - ein Netzwerk, in dem jeder Mensch auf der Erde registriert ist, und alle Menschen können Kontakte zu anderen pflegen, können schreiben, wo sie gerade sind und was sie gerade tun, und jeder Mensch auf der ganzen Welt kann es lesen. Er kann angeben, ob es ihm gefällt oder auch nicht gefällt, und er kann die Aktionen seiner Mitmenschen kommentieren - ganz gleich ob du in Amerika, Europa oder Australien bist. Und das alles” - er zeigte auf den Zettel vor sich - “befindet sich auf diesem Papier. Lemuria - ein zweites Leben, eine zweite Welt, in der sich jeder Mensch unabhängig von Alter, Geschlecht, Rasse, Nationalität, sexuelle Orientierung, Behinderung und Religionszugehörigkeit bewegen kann - ein Netz, das in völliger Meinungsfreiheit existiert, das dem Frieden und der Völkerverständigung dient, ein Netz, das das Wissen der gesamten Welt enthält - nicht nur das wissenschaftliche, sondern auch das zwischenmenschliche Wissen. Lemuria wird den Menschen dienen und die Türen zu einer besseren Zukunft öffnen.”
“Klingt gut”, sagte Robert. “Aber wie willst du das finanzieren? Mitgliedsgebühren? Oder Werbung?”
“Werbung. Nur Werbung. Wir sammeln Daten und verkaufen sie an die Werbewirtschaft. Wir sorgen dafür, dass die Werbung dort ankommt, wo sie auf fruchtbaren Boden fällt. Was soll ein japanischer Stubenhocker mit einer Werbung einer amerikanischen Outdoor-Firma? Der neueste Star Trek-Film kann nur Leute glücklich machen, die Science-Fiction mögen. In Lemuria geben die Menschen einfach ihre Hobbys und Interessen an, das Netzwerk sammelt über eine Suchmaschine Daten, wonach sie suchen, welche Musik sie hören, welche Bücher sie bestellen, welche Videos sie sich anschauen, daraus erstellen wir ein Profil, und anhand dieses Profils wird Werbung geschaltet. So sind die werbenden Unternehmen sicher, dass nur diejenigen ihre Werbung bekommen, die sich auch dafür interessieren. So profitiert jeder davon. Die Nutzer, die völlig kostenlos einen Service bekommen, den es bisher noch nicht gibt. Die Werbetreibenden, die jetzt direkt ihre Zielgruppe ansprechen können. Und ich werde damit Geld verdienen.”
“Und was macht dich so sicher, dass ich dir diese Idee nicht klaue?”
Er zeigte Robert das Blatt Papier. “Kannst du das lesen? Kannst du das interpretieren?”
Robert versuchte, aus dem Gewirr aus Balken, Kästen und unleserlicher Schrift schlau zu werden, aber es war ein Ding der Unmöglichkeit.
“Kannst du nicht, was? Aber ich kann. Ich bin dir tausend Schritte voraus. Das ganze Netzwerk ist schon programmiert, sofern es möglich ist. Das einzige, was ich jetzt brauche ist genügend Startkapital und leistungsfähige Server, um es online zu bringen, ohne dass das gesamte Rechenzentrum der University of California in die Knie geht.”
“Das heißt, wenn ich in den Server investiere, kannst du morgen schon damit online gehen?”
“Natürlich brauche ich auch Mitarbeiter”, sagte der Mann. “Programmierer, Vertriebsmitarbeiter und einen Geschäftsmann, der bereit ist zu investieren.”
“Ich bin Geschäftsmann”, sagte Robert. “Mein Name ist Robert Jonas. Ich bin Inhaber einer erfolgreichen Handelskette für Computer-Zubehör.”
“Peter Mason.” Er gab ihm die Hand. “Ich bin Student der University of California.”
“Es freut mich, dich kennen zu lernen. Aber erklär mir mal genauer, was du eigentlich willst.”
“Weißt du, wo das Internet ursprünglich her kommt?”
“Vom ARPANET, ein Netzwerk von Computern mehrerer Universitäten hier in den Vereinigten Staaten.”
“Ja, der Körper, aber nicht die Seele. Jules Verne ist der eigentliche geistige Erfinder des Internet - so wie er vieles erfunden hat. Aber dann vor allem Vannevar Bush. Schon 1945 veröffentlichte er einen Text mit dem Titel As We May Think. Die Wissenschaft war schon damals sehr kompliziert geworden. Bush war der Ansicht, dass das menschliche Gehirn nicht linear, sondern assoziativ funktioniert. Ebenso muss das Wissen assoziativ miteinander verknüpft sein. So kann man Pfade bilden, über die man per Knopfdruck von einem Dokument zum nächsten wechseln könnte. Wenn ich also ein Wort finde und das nicht verstehe, klicke ich es an, komme zur Erklärung und auch zu weiterführendem Wissen, stoße dort auf ein weiteres Wort, das ich nicht verstehe undsoweiter. Wenn man die einzelnen Dokumente jetzt über eine Weiterentwicklung der Mikrofotografie verkleinert, lässt sich die Encyclopedia Britannica in einer Streichholzschachtel unterbringen und das gesamte relevante Wissen der Welt in einem Schreibtisch. So dachte man 1945, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Internet war damals noch nicht mal erfunden.”
“Beeindruckend.”
“Ja. Dann kam Ted Nelson und erfand den Hypertext, ein Textgewebe bestehend aus Textblöcken und den Verknüpfungen dazwischen, den Links. Es war Tim Berners-Lee, der den Hypertext ins Internet brachte und somit das World Wide Web erfand, den größten Hypertext der Welt. Aber die Geschichte ist längst noch nicht zu Ende. Zuerst haben wir Computer miteinander verbunden, dann Seiten und Texte, später kamen noch Bilder, Musik und Videos dazu, und jetzt werden wir die Menschen selber in einem riesigen Hypertextgewebe miteinander verbinden. Lemuria wird die Welt revolutionieren. Wir werden miteinander kommunizieren, wo wir gehen und stehen. Die Welt über unsere Mobiltelefone immer griffbereit. Ich sage dir, wenn uns das gelingt, was mir vorschwebt, werden wir die Welt in zehn Jahren nicht mehr wiedererkennen.”
“Cool. Lass uns die Welt verändern.”
“Ja, und jetzt kommt der Clou: Wenn wir erst einmal Daten von allen Menschen und zugleich das gesamte Wissen auf der Erde gesammelt haben, müssen wir es analysieren. Das kann kein Mensch leisten. Dazu brauchen wir eine künstliche Intelligenz. Und die kann dann anhand der Daten die Zukunft voraussagen - genau wie die Psychohistoriker bei Isaac Asimov.”
Robert kannte Isaac Asimov zwar nicht, zog es aber vor zu nicken und so zu tun, als wäre ihm der Name ein Begriff. Nur so konnte er sich Masons Respekt verdienen.
“Ich mache dir einen Vorschlag: Ich schau mir dein Projekt etwas genauer an, und wenn es was taugt, steige ich bei dir ein. Du hast die Idee, ich habe das Geld. Lass uns doch eine Firma gründen. Es darf aber nie jemand erfahren, dass ich daran beteiligt bin. Und noch eine Frage: Warum nennst du das ganze Lemuria?”
“Xanadu gab es schon”, antwortete Mason. “Shangri-La klang mir zu esoterisch, Atlantis zu platt, Kasskara kennt keine Sau, und Mu hört sich Scheiße an.”
Robert nahm sich ein Hotel in Berkeley und ließ sich von Mason in die Wunderwelt von Lemuria einführen. Vor ihm tat sich eine Welt auf, die imstande war, die richtige Welt abzulösen. Eine virtuelle Welt in den unendlichen Weiten des Netzes, in dem bald jeder mit allem und jedem verknüpft sein würde - ein Netz aus Computern und Menschen.
“Magische Schlüssel?” fragte der Wirt. “Was soll denn das sein?”
“Hören Sie, ich weiß, dass es fünf davon gibt - über die ganze Welt verteilt. Einer davon ist verschollen, und in San Francisco soll es einen geben, einen Chinesen, der weiß, wo er ist.”
“Ah”. Das Gesicht des Wirtes hellte sich auf. “Sie meinen bestimmt Michael Lee. Der hat lauter so esoterisches Zeugs.”
“Wo finde ich ihn?”
“In Chinatown. Warten Sie, ich schreibe Ihnen die Adresse auf.”
Roberts Aufmerksamkeit fiel auf einen Mann, der neben ihm saß. Er war etwas jünger und schien komplett mit sich selbst beschäftigt zu sein. Eine Begleitung schien er nicht zu haben. Schweigend kritzelte er mit einem Kugelschreiber auf ein eng beschriebenes Blatt Papier. Es sah aus wie ein Stammbaum oder eine technische Skizze - ein Gewirr von Kästen, Balken und Linien - wie eine überdimensionierte Mind Map, die jemand geschrumpft hatte, so dass sie auf ein normales Blatt Papier passte.
“Hey, sir!” sagte er.
“Bemühen Sie sich nicht”, entgegnete der Wirt. “Der redet mit niemandem. Asperger-Syndrom.”
Der junge Mann wedelte mit dem Kugelschreiber blitzschnell hin und her. Seine Gedanken waren voll und ganz auf das Blatt Papier gerichtet.
“Was für ein Syndrom?”
“Asperger.”
“Was ist das?”
“So was wie Autismus.”
“Sie meinen Rain Man?”
“Erwähnen Sie bloß nicht diesen Film.”
Sofort war der Junge aus seinen Gedanken gerissen. Er blickte auf und starrte Robert mit Augen an, die irgendwie tot und emotionslos wie die Augen eines Roboters wirkten. Er sprach schnell, laut und monoton.
“Und es geht los!” murmelte der Wirt.
“Wissen Sie, was das ist? Asperger-Syndrom? Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, wie man sich fühlt, wenn man nicht dazu gehört? Wenn alle Leute in deinem Seminar zur Party eingeladen sind - nur du nicht? Wenn alle Jungs Frauen finden - nur du nicht? Wenn du niemanden findest, mit dem du reden kannst, weil sich wirklich niemand für das interessiert, was du zu sagen hast? Ich habe mit zwölf Jahren die Relativitätstheorie begriffen, aber wie Menschen funktionieren, habe ich nie begriffen. Menschen funktionieren nicht logisch - sie funktionieren emotional. Sie können sich instinktiv in ihr Gegenüber hinein versetzen. Ich kann das nicht. Menschen merken, was andere Menschen fühlen. Ich nicht. Die Menschen verstehen mich nicht, und ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freunde. Keinen einzigen. Wissen Sie, wie es ist, wenn man sich so fühlt? Wenn man sich immer fragt, ob man sich richtig verhalten hat oder ob man wieder in ein Fettnäpfchen getreten ist, weil man die ungeschriebenen Spielregeln dieser Welt nicht versteht, wenn sie dir aber auch niemand erklärt, weil jeder sie für selbstverständlich hält? Wenn man noch nicht einmal weiß, ob das, was dir jemand gesagt hat, ironisch gemeint war oder nicht? Wenn man anders ist?”
“In meiner Klasse war einer wie du”, sagte Robert. “Jedenfalls so ähnlich.”
“Alle meine Freunde sind wie ich”, entgegnete der junge Mann.
“Ich denke, du hast keine Freunde.”
“Habe ich auch nicht. Jedenfalls keine richtigen. Ich habe sie alle über das Internet kennen gelernt. Chatrooms, Foren, Newsgroups, das übliche halt. Ich hätte nie gedacht, dass ich Freunde oder sogar vielleicht Mädchen haben kann. Aber über das Internet habe ich welche kennen gelernt. Das Internet ist ein Segen für Leute wie mich.”
“Du bist ein Nerd”, sagte Robert und lachte dabei. Aber es war ein freundliches Lachen, kein bösartiges. Er hatte selber schon genügend Menschen wie diesen jungen Mann kennen gelernt, auch wenn er sich selber nicht dazu zählte.
“Mag sein, aber ein Nerd mit einer Idee. Das Internet basiert auf einer ganzen Menge von Menschen mit guten Ideen. Ich weiß nicht, wie viele davon Nerds waren. Aber es waren lauter Verrückte, die diese Sache voran getrieben haben. Vannevar Bush. Ted Nelson. Tim Berners-Lee. Larry Page und Sergey Brin. Aber das alles war gestern. In Zukunft wird niemand mehr das Haus verlassen, wenn er es nicht will. Wir werden alles im Internet machen: Arbeiten, einkaufen, Leute kennen lernen und Kontakt halten, Bücher lesen, Musik hören, Filme gucken, sogar mit dem Finger auf der Landkarte verreisen. Wir haben unseren Pager, unseren Kalender, alles im Internet - und zwar mit einem Programm, einem ganzen System, das ich entwickelt habe. Wir brauchen ein soziales Netzwerk, mit dem man Freunde finden und Kontakte pflegen kann - ein Netzwerk, in dem jeder Mensch auf der Erde registriert ist, und alle Menschen können Kontakte zu anderen pflegen, können schreiben, wo sie gerade sind und was sie gerade tun, und jeder Mensch auf der ganzen Welt kann es lesen. Er kann angeben, ob es ihm gefällt oder auch nicht gefällt, und er kann die Aktionen seiner Mitmenschen kommentieren - ganz gleich ob du in Amerika, Europa oder Australien bist. Und das alles” - er zeigte auf den Zettel vor sich - “befindet sich auf diesem Papier. Lemuria - ein zweites Leben, eine zweite Welt, in der sich jeder Mensch unabhängig von Alter, Geschlecht, Rasse, Nationalität, sexuelle Orientierung, Behinderung und Religionszugehörigkeit bewegen kann - ein Netz, das in völliger Meinungsfreiheit existiert, das dem Frieden und der Völkerverständigung dient, ein Netz, das das Wissen der gesamten Welt enthält - nicht nur das wissenschaftliche, sondern auch das zwischenmenschliche Wissen. Lemuria wird den Menschen dienen und die Türen zu einer besseren Zukunft öffnen.”
“Klingt gut”, sagte Robert. “Aber wie willst du das finanzieren? Mitgliedsgebühren? Oder Werbung?”
“Werbung. Nur Werbung. Wir sammeln Daten und verkaufen sie an die Werbewirtschaft. Wir sorgen dafür, dass die Werbung dort ankommt, wo sie auf fruchtbaren Boden fällt. Was soll ein japanischer Stubenhocker mit einer Werbung einer amerikanischen Outdoor-Firma? Der neueste Star Trek-Film kann nur Leute glücklich machen, die Science-Fiction mögen. In Lemuria geben die Menschen einfach ihre Hobbys und Interessen an, das Netzwerk sammelt über eine Suchmaschine Daten, wonach sie suchen, welche Musik sie hören, welche Bücher sie bestellen, welche Videos sie sich anschauen, daraus erstellen wir ein Profil, und anhand dieses Profils wird Werbung geschaltet. So sind die werbenden Unternehmen sicher, dass nur diejenigen ihre Werbung bekommen, die sich auch dafür interessieren. So profitiert jeder davon. Die Nutzer, die völlig kostenlos einen Service bekommen, den es bisher noch nicht gibt. Die Werbetreibenden, die jetzt direkt ihre Zielgruppe ansprechen können. Und ich werde damit Geld verdienen.”
“Und was macht dich so sicher, dass ich dir diese Idee nicht klaue?”
Er zeigte Robert das Blatt Papier. “Kannst du das lesen? Kannst du das interpretieren?”
Robert versuchte, aus dem Gewirr aus Balken, Kästen und unleserlicher Schrift schlau zu werden, aber es war ein Ding der Unmöglichkeit.
“Kannst du nicht, was? Aber ich kann. Ich bin dir tausend Schritte voraus. Das ganze Netzwerk ist schon programmiert, sofern es möglich ist. Das einzige, was ich jetzt brauche ist genügend Startkapital und leistungsfähige Server, um es online zu bringen, ohne dass das gesamte Rechenzentrum der University of California in die Knie geht.”
“Das heißt, wenn ich in den Server investiere, kannst du morgen schon damit online gehen?”
“Natürlich brauche ich auch Mitarbeiter”, sagte der Mann. “Programmierer, Vertriebsmitarbeiter und einen Geschäftsmann, der bereit ist zu investieren.”
“Ich bin Geschäftsmann”, sagte Robert. “Mein Name ist Robert Jonas. Ich bin Inhaber einer erfolgreichen Handelskette für Computer-Zubehör.”
“Peter Mason.” Er gab ihm die Hand. “Ich bin Student der University of California.”
“Es freut mich, dich kennen zu lernen. Aber erklär mir mal genauer, was du eigentlich willst.”
“Weißt du, wo das Internet ursprünglich her kommt?”
“Vom ARPANET, ein Netzwerk von Computern mehrerer Universitäten hier in den Vereinigten Staaten.”
“Ja, der Körper, aber nicht die Seele. Jules Verne ist der eigentliche geistige Erfinder des Internet - so wie er vieles erfunden hat. Aber dann vor allem Vannevar Bush. Schon 1945 veröffentlichte er einen Text mit dem Titel As We May Think. Die Wissenschaft war schon damals sehr kompliziert geworden. Bush war der Ansicht, dass das menschliche Gehirn nicht linear, sondern assoziativ funktioniert. Ebenso muss das Wissen assoziativ miteinander verknüpft sein. So kann man Pfade bilden, über die man per Knopfdruck von einem Dokument zum nächsten wechseln könnte. Wenn ich also ein Wort finde und das nicht verstehe, klicke ich es an, komme zur Erklärung und auch zu weiterführendem Wissen, stoße dort auf ein weiteres Wort, das ich nicht verstehe undsoweiter. Wenn man die einzelnen Dokumente jetzt über eine Weiterentwicklung der Mikrofotografie verkleinert, lässt sich die Encyclopedia Britannica in einer Streichholzschachtel unterbringen und das gesamte relevante Wissen der Welt in einem Schreibtisch. So dachte man 1945, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Internet war damals noch nicht mal erfunden.”
“Beeindruckend.”
“Ja. Dann kam Ted Nelson und erfand den Hypertext, ein Textgewebe bestehend aus Textblöcken und den Verknüpfungen dazwischen, den Links. Es war Tim Berners-Lee, der den Hypertext ins Internet brachte und somit das World Wide Web erfand, den größten Hypertext der Welt. Aber die Geschichte ist längst noch nicht zu Ende. Zuerst haben wir Computer miteinander verbunden, dann Seiten und Texte, später kamen noch Bilder, Musik und Videos dazu, und jetzt werden wir die Menschen selber in einem riesigen Hypertextgewebe miteinander verbinden. Lemuria wird die Welt revolutionieren. Wir werden miteinander kommunizieren, wo wir gehen und stehen. Die Welt über unsere Mobiltelefone immer griffbereit. Ich sage dir, wenn uns das gelingt, was mir vorschwebt, werden wir die Welt in zehn Jahren nicht mehr wiedererkennen.”
“Cool. Lass uns die Welt verändern.”
“Ja, und jetzt kommt der Clou: Wenn wir erst einmal Daten von allen Menschen und zugleich das gesamte Wissen auf der Erde gesammelt haben, müssen wir es analysieren. Das kann kein Mensch leisten. Dazu brauchen wir eine künstliche Intelligenz. Und die kann dann anhand der Daten die Zukunft voraussagen - genau wie die Psychohistoriker bei Isaac Asimov.”
Robert kannte Isaac Asimov zwar nicht, zog es aber vor zu nicken und so zu tun, als wäre ihm der Name ein Begriff. Nur so konnte er sich Masons Respekt verdienen.
“Ich mache dir einen Vorschlag: Ich schau mir dein Projekt etwas genauer an, und wenn es was taugt, steige ich bei dir ein. Du hast die Idee, ich habe das Geld. Lass uns doch eine Firma gründen. Es darf aber nie jemand erfahren, dass ich daran beteiligt bin. Und noch eine Frage: Warum nennst du das ganze Lemuria?”
“Xanadu gab es schon”, antwortete Mason. “Shangri-La klang mir zu esoterisch, Atlantis zu platt, Kasskara kennt keine Sau, und Mu hört sich Scheiße an.”
Robert nahm sich ein Hotel in Berkeley und ließ sich von Mason in die Wunderwelt von Lemuria einführen. Vor ihm tat sich eine Welt auf, die imstande war, die richtige Welt abzulösen. Eine virtuelle Welt in den unendlichen Weiten des Netzes, in dem bald jeder mit allem und jedem verknüpft sein würde - ein Netz aus Computern und Menschen.
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