Mittwoch, 3. Juli 2013
00101110 - Schwarzwaldstraße 23
“Wir sind da!” sagte Para - nein, Robert. Es war Robert, er war wieder in seiner Welt.

Andreas fühlte sich schon viel besser. Der Ausflug nach Lemuria hatte ihm gut getan - wenn es auch ein sehr kurzer und düsterer Ausflug gewesen war. Aber während er sich langsam wieder an seine eigene Welt gewöhnte und die Welt von Lemuria verblasste, schalt er sich, dass er vor dem Scheitern dieser Mission so viel Angst hatte. Es war doch nichts anderes als ein Online-Rollenspiel - nur eben nicht online, sondern im Kopf. Er hatte sich etwa zwanzig Jahre lang erfolgreich dagegen gewehrt, in der Märchenwelt Zuflucht zu finden. Eskapismus nannten das die Psychologen. Er hatte in einem Buch davon gelesen. Die Eigenschaft, sich in künstliche Science-Fiction- oder Fantasy-Welten zu flüchten, um den Problemen der eigenen Welt zu entkommen. Ja, es war Eskapismus gewesen. Er war vor Robert geflohen. Jetzt war Robert hier, und Lemuria war auch wieder da - als wäre die ganze Zeit dazwischen niemals geschehen. Seine Zeit in Peru, sein Studium, seine Arbeit bei Lemuria Inc. - alles zählte plötzlich nicht mehr. Die Vergangenheit hatte ihn wieder eingeholt. Am liebsten wäre er weggelaufen, aber das traute er sich nicht. Nicht in dieser Gegend.

Robert bezahlte den Taxifahrer, legte ein ordentliches Trinkgeld obendrauf und stieg aus. Die Gegend, in der sie sich befanden, wirkte nicht gerade vertrauenserweckend. Im Gebüsch entdeckte Andreas einen kaputten Einkaufswagen und eine Matratze, die leise vor sich hin schimmelte. Er nahm sogar leichten Schimmelgeruch wahr. Es roch ein wenig nach Champignons. Ein Mülleimer in der Nähe war derart überfüllt, dass die Leute den Müll schon daneben auf die Straße warfen - überwiegend Rotzfahnen, aber auch Joghurtbecher, die bereits ekelhaft stanken. Die Betonplatten wirkten etwas abgenutzt. Zwischen ihnen bahnten sich die ersten Pflanzen ihren Weg ins Freie. Auf einer Betonplatte lag eine zerbrochene Flasche, und eine nach Alkohol stinkende Lache breitete sich aus. Die Wand des Hochhauses 23 war mit Graffiti beschmiert - bis auf ein Bild - oder vielmehr das, was der Künstler dafür hielt - waren alles nichtssagende Tags. Grellbunt und für Andreas unerträglich. Das einzige interessante Graffito hatte jemand neben die große Zahl 23 gesprüht: ein Dreieck und darüber ein angedeutetes Auge - das Auge mit der Pyramide. Da hatte sich jemand einen kleinen Scherz erlaubt.

Das Gebäude selbst lag vollkommen im Dunkeln. Nahezu alle Rollläden waren herunter gelassen, nur an zwei Fenstern, die direkt nebeneinander angebracht waren, schienen sie zu fehlen. Wie tote Augen blickten sie auf die beiden herab. Der Taxifahrer hatte inzwischen zugesehen, dass er Land gewann. Andreas wusste aus der Zeitung, dass diese Gegend nicht ganz ungefährlich - auch wenn um diese Uhrzeit sicherlich kaum jemand auf der Straße war. Wobei, Freitag Nacht war durchaus damit zu rechnen, noch jemanden anzutreffen, dachte Andreas.

Sie gingen die Stufen zum Eingang hinauf. Auf der Eingangstür zeichnete sich das Spinnennetzmuster eines gescheiterten Versuches ab, die Scheibe zu zertrümmern. Robert holte einen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf. Andreas fragte sich nicht, woher er den Schlüssel hatte. Es kam ihm reichlich seltsam vor. Er glaubte nicht, dass Robert oder seine Mutter oder sonst wer in diesem Haus wohnte. Nein, wirklich nicht. Auch im Treppenhaus setzten sich die Graffiti fort, verzierten die hässlichen, braunen Kacheln, die dem Flur etwas Düsteres verliehen. Vor ihm die beiden Aufzugtüren aus ockergelbem Metall. Auch hier hatte jemand mit blauer Farbe sein Tag untergebracht.

Robert drückte auf einen Knopf, und der Aufzug setzte sich laut ratternd in Bewegung. Das Quietschen schien die gesamte Nachbarschaft aufwecken zu können, aber nichts rührte sich im Haus. Es wirkte wie ausgestorben. Robert schwieg, bis der Fahrstuhl endlich kam und das ockergelbe Tor eine klaustrophobisch enge Fahrstuhlkabine freigab. Neben Robert und Andreas passte nicht mehr viel in den Fahrstuhl. Robert drückte auf den Knopf mit der Nummer 23. Die Tür schloss sich mit einem lauten Krach, und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Das Deckenlicht flackerte, während eine mit einer Zahl versehene Lampe nach der anderen aufleuchtete. Unerträglich langsam und gemächlich. 1, 2, 3...

“Was wollen wir im 23. Stock?” fragte Andreas.
“Abwarten”, knurrte Robert. Der sonst so redselige Esoteriker war auf einmal verstummt. So als hätte die düstere Aura des Hochhauses ihn dazu verleitet. Andreas fing schon an, die Bewohner von Schwarzwaldstraße 23 zu bedauern. Vor allem diejenigen in den oberen Stockwerken. Er fragte sich, was das für Leute waren, die hier wohnten, und sofort spukten Bilder in seinem Gehirn. Kopfkino. Schon dutzendfach gesehen in Deutschland, deine Teenies oder We Are Family oder das Ehepaar, das ihm gestern in der U-Bahn begegnet war.

Der Aufzug quietschte und ratterte. Schon glaubte Andreas, das Drahtseil würde reisen, und die gesamte Fahrstuhlkabine würde dem Gesetz der Schwerkraft folgend nach unten rasen. Auch das hatte er in Filmen gesehen. Er hatte aber auch gesehen, dass das nicht möglich war, weil in diesem Fall sofort ein Sicherheitsmechanismus griff, der die Erfindung des Aufzugs überhaupt möglich gemacht hatte - damals, als Elisha Graves Otis den modernen Fahrstuhl erfunden hatte. Er hatte dem staunenden Publikum einen Aufzug präsentiert, dessen Seil plötzlich riss. Die Anlage konnte sich daraufhin selbst bremsen. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte sich nie irgend jemand in einen Fahrstuhl hinein getraut. Auch konnten sich die Türen nicht schließen, wenn etwas dazwischen war. Dafür sorgte eine Lichtschranke. Es gab so viel Ammenmärchen über Aufzüge. Die einzige Gefahr war doch, in einem steckenzubleiben. Warum...
Pling. Die Anlage sprang auf 23. Die Türen öffneten sich und gaben den Blick frei auf eine Finsternis.

Sie gingen hinaus, Robert betätigte den Lichtschalter, und wenig später erhellten surrende Neonröhren den Gang.

“Nun”, sagte Robert. “Fällt dir hier etwas auf?”

Die Wände waren weiß. Komplett weiß. Das war aber auch neben der Deckenbeleuchtung das einzige, was zu sehen war. Es gab hier keine Graffiti, und was das Seltsamste war: Es gab hier noch nicht einmal Türen.

“Dieses Stockwerk und all die anderen Stockwerke darunter und darüber werden nicht benutzt”, sagte Robert. “Das ganze Haus oberhalb des fünften Stockwerks ist nur Kulisse.”

“Aber warum sollte jemand ein Hochhaus bauen, wenn die oberen Stockwerke nicht benutzt werden?”

“Das ist ja das seltsame. Dieses Haus erfüllt nicht wirklich einen Zweck. Es sollte einfach gebaut werden, um als Kulisse zu dienen oder als Suizid-Plattform für Lebensmüde. Oder... ach, ich weiß auch nicht. Und es gibt noch mehr Häuser von der Sorte. Viel mehr. Es gibt Krankenhäuser, wo in den oberen Stockwerken nichts ist. Es ist, als wollte uns jemand verarschen.”

“Aber wer?”

“Die Schöpfer dieser Simulation. Wenn wir sterben, werden wir wie sie, und wenn sie inkarnieren, werden sie wie uns. Wir sind die Avatare, durch die sie erleben. Sie und wir, das ist das selbe. Am Ende verarschen wir uns nur selbst. Das ist auch nicht anders als bei einem Computerspiel, das dich in fremde Welten versetzt, aber am Ende sind es nur Nullen und Einsen. Unser Universum ist genauso - mit dem Unterschied, dass es die wenigsten wissen. Dafür steht ihnen ihre Religion oder die Naturwissenschaften im Weg.”

Sie bogen um die Ecke, und Andreas erblickte die einzigen fünf Türen im gesamten Stockwerk. Sie waren - ungewöhnlich für Wohnungstüren - allesamt direkt nebeneinander, und anstelle von Namensschildern oder Wohnungsnummern waren sie mit Symbolen versehen:

Drei waagerechte, parallele Linien in Wellenform. Wasser.

Drei senkrechte, parallele Linien in Wellenform. Luft.

Drei gerade, waagerechte parallele Linien. Erde.

Eine stilisierte Flamme. Feuer.

Und eine Symbol-Tafel, auf der nichts, aber auch gar nichts abgebildet war. Die Leere, der unendliche Äther. Andreas fragte sich, ob dies die Türen waren, zu denen die geheimnisvollen Schlüssel passten.

“Gibt es diese Türen auch in jedem Stockwerk?” fragte Andreas.

“Nein, nur hier”, antwortete Robert.

“Und was hat es damit auf sich?”

“Das sind Portale zu anderen Welten. Aber sie lassen sich angeblich nur öffnen, wenn in jeder der Türen ein Schlüssel steckt.”

“Hast du es schon mal ausprobiert?”

“Nein.”

“Warum probierst du es nicht aus?”

“Lieber nicht.”

“Warum nicht?”

“Die Zeit ist noch nicht gekommen. Ich habe noch nicht alle Schlüssel.”

“Langweiler.”

“Hey, sieh dich vor. Ich warne dich. Ich darf dich daran erinnern, was ich alles in der Schule mit dir angestellt habe.”

“Klingt so gar nicht nach neuer Mensch.”

Robert sah zu Boden. “Du hast Recht”, sagte er. “Fällt es dir nicht auch manchmal schwer, erwachsen zu sein?”

“Erwachsen? Ich bin nie erwachsen geworden.”

“Ich auch nicht. Jedenfalls nicht so richtig. Ich spiele erwachsen. Ich tue so, als wäre ich es, aber es ist alles nur Maskerade. Und diese Welt hier ist auch Maskerade. Dieses Haus spielt Hochhaus. Unzählige Projektionen spielen Menschen. Diese ganz Welt ist mehr Sein als Schein. Du erinnerst dich an dieses Doppelspaltexperiment und an die Elektronen?”
Andreas nickte.

“Was mit diesen Elektronen auf der Mikroebene passiert, das geschieht auch auf der Makroebene. Schrödingers Katze gibt es tatsächlich. Wie ist die Welt, wenn niemand hinsieht? Wenn niemand hinsieht ist sie so, wie dieser Flur: Leer. Es gibt nichts. Und das, was es gibt, verhält sich äußerst merkwürdig. Erst wenn ich anfange zu beobachten, wird die Welt zu dem, was wir kennen. Ein Elektron hört auf, sich merkwürdig zu verhalten und tut das, was ein Elektron zu tun hat, wenn es beobachtet wird. Verstehst du, was ich meine? Die Naturgesetze funktionieren wie ein Uhrwerk. Normalerweise klappt alles ganz tadellos, und niemand kommt dahinter, dass etwas nicht stimmt. Doch manchmal kommen Dinge zum Vorschein, die wir als Fehler in der Matrix bezeichnen. Nehmen wir zum Beispiel die Elektronen. Oder die Tatsache, dass es bisher niemandem gelungen ist, die Quantenphysik mit der Relativitätstheorie in Einklang zu bringen, obwohl es konkrete Anwendungen für beide Theorien gibt. Vieles, das geschieht, dürfte eigentlich gar nicht geschehen. Und es geschieht trotzdem. Es gibt die erstaunlichsten Zufälle, für die es keine rationale Erklärung gibt.”

Er wandte sich zum Gehen. “Wir sollten besser los. Die Nacht ist kurz, und ich wollte dir noch das Sundari-Projekt zeigen.”

“Was ist das Sundari-Projekt?”

“Darauf wollte ich eben hinaus. Die erstaunlichsten Zufälle. Wusstest du, dass in China ein 270 Millionen Jahre alter Stein gefunden wurde, auf dem man chinesische Schriftzeichen entdeckt hat? Die Wissenschaft geht davon aus, dass der Stein natürlich entstanden ist. Und das tollste ist: Die chinesischen Schriftzeichen lauten, wenn man sie ins Deutsche übersetzt: ‘Die Kommunistische Partei Chinas bricht zusammen’.”

“Interessant. Aber was hat das jetzt mit dem Sundari-Projekt zu tun?”

Robert drückte auf den Aufzug-Knopf, und beide beobachteten sie, wie sich der Fahrstuhl vom Erdgeschoss aus langsam in Bewegung setzte. Sogar noch durch die Fahrstuhltür hindurch war das Knattern und Quietschen des Aufzugs zu hören.

“Hast du noch nie einen erstaunlichen Zufall erlebt? Eine Synchronizität? Etwas, das gar nicht passieren kann?”

“Ich habe mal in Berlin Bekannte getroffen. Ein befreundetes Pärchen. Damals, während meines Studiums.”

“Das ist ein gutes Stichwort. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass du überall immer nur die gleichen Gesichter siehst? Diese Stadt, in der du wohnst, hat 600.000 Einwohner. Und trotzdem siehst du ständig immer wieder die selben Gesichter, richtig?”

“Ich weiß es nicht. Ich kann mir keine Gesichter merken.”

“Und wie hast du dann das befreundete Pärchen erkannt?”

“Wenn ich jemanden gut kenne, dann erkenne ich ihn wieder, wenn ich ihn sehe. Aber es sind nicht die Gesichtszüge. Eher die Frisur, die Brille, das Gesamtbild, die Größe, Figur, das alles.”

“Also gut, ich sage es dir: Es heißt immer, Deutschland hat achtzig Millionen Einwohner. Aber in Wirklichkeit sind es viel, viel weniger.”

“Das ist doch nur wieder so eine Verschwörungstheorie.”

“So wie Schwarzwaldstraße 23.”

Der Aufzug kam, und die Türen öffneten sich ratternd. Wieder ging es in die klaustrophobisch enge Kabine. Das Deckenlicht flackerte nervös.

“Was wissen wir schon von dieser Welt?” sagte Robert, als sie nach unten fuhren. “Wir wissen nur, was wir selber sehen. Wir wissen nicht einmal, ob der Rest der Welt just in diesem Moment außerhalb des Aufzugs überhaupt existiert. Wenn ein Elektron schon verrückt spielen kann, wenn es nicht beobachtet wird, was kann der Rest der Welt alles anstellen? Wenn es eine komprimierte künstliche Welt ist, existiert nur das, was gerade beobachtet wird. Der Rest existiert einfach nicht - erst wenn wir unseren Blick darauf richten. Dabei kann es geschehen, dass ein falscher Speicherstand geladen wird. Das nennen wir dann einen Fehler in der Matrix. Das Gefühl, im falschen Film zu sein. Oder ein unglaublicher Zufall. Aber es gibt ein Mittel dagegen. Ein Mittel, um vielleicht das größte Rätsel des Universums zu entschlüsseln.”

Er machte eine Pause. Andreas wartete darauf, dass er eine Antwort geben würde, doch nichts dergleichen geschah. Das Licht an der Anzeige bewegte sich langsam die Zahlenskala hinunter. Robert schwieg.

“Dieses Mittel ist das Sundari-Projekt?” fragte Andreas.

Robert nickte. “Die totale Überwachung.”

... link (0 Kommentare)   ... comment