Montag, 8. Juli 2013
00110010 - Schlossplatz
Der Schlossplatz lag im Dunkeln. Nur einige vereinzelte Straßenlaternen spendeten spärliches Licht. Menschen gab es hier kaum. Nur ab und zu zogen ein paar Teenager wankend die Fußgängerzone entlang. Auf einer Parkbank in der Nähe saß eine dunkle Gestalt, den Kopf in die Hände gestützt. Sie bewegte sich nicht. Im Pavillon stand ein Liebespaar, das sich unbeobachtet fühlte. Er hatte seine rechte Hand auf ihren Arsch gelegt, und die beiden knutschten wohl länger als Andreas in seinem gesamten Leben. Er schien regelrecht über sie herzufallen. Soweit es Andreas bei der Dunkelheit erkennen konnte, hatte sie lange, dunkelblonde Haare. Er hatte die Haare gelbblond gefärbt. Auf seinem Nacken zeichnete sich im Schein einer Straßenlaterne ein Tattoo ab, das einen Drachen darstellte.

Andreas stand auf dem Rasen, was seltsam war, da er nie zuvor dort gestanden hatte. Schon oft war er auf dem Schlossplatz gewesen - aber eben noch nie auf dem Rasen. Immerhin war das verboten. Dass das in dieser Stadt kaum jemanden juckte, störte Andreas nicht. Verboten blieb verboten - ganz gleich, ob es kontrolliert wurde oder nicht.

An die absolute Stille dagegen musste sich Andreas erst gewöhnen. Der Helm schirmte ihn von den Geräuschen des Computerraums ab - das leise Surren der Server, die Bewegungen seiner eigenen Füße auf dem Laufband. Nichts davon hörte er. Aber auch nicht die Geräusche der Stadt. Nicht das Rauschen des Windes, den er in seinem Gesicht spürte. Nur sein eigener Atem drang an sein Ohr.

Er ging in die Hocke, fuhr mit der Hand durch das Gras. Es fühlte sich echt an. Irgendwie weich. Er ließ die Rasenspitzen durch seine Finger gleiten. Ein schönes Gefühl.

Neben ihm materialisierte sich Robert. Aber er sah nicht ganz so aus wie Robert - mehr wie eine 3D-animierte Karikatur seines ehemaligen Schulkameraden. Als hätte eine Flash-Animation seines Begleiters die dritte Dimension entdeckt.

“Sehe ich auch so komisch aus wie du?” fragte Andreas.

“Noch komischer”, war die Antwort. “Der Computer hat von dir noch keine ausreichenden Muster und hat dir deshalb einen Standard-Avatar verpasst. Aber keine Sorge: Ich bin der einzige, der dich sehen kann. Für alle anderen sind wir unsichtbar.”

Andreas ging auf die Säule zu, die sich in der Mitte des Platzes in den Himmel erhob. Dabei übersprang er ein kleines Beet mit Stiefmütterchen. Robert schüttelte den Kopf. “Du musst noch einiges lernen”, sagte er. Obwohl er inzwischen weiter weg war, hörte Andreas ihn laut und deutlich, als stünde er direkt neben ihm. Dann ging er durch das Stiefmütterchenbeet hindurch. Andreas sah, wie Robert direkt auf die Blumen trampelte, ohne dass diese Schaden davon nahmen. Sie blühten weiterhin, als wäre nichts gewesen.

“Du darfst nicht vergessen, dass wir nicht wirklich auf dem Schlossplatz sind. Das hier ist nur ein Abbild, eine Illusion.”

Er rannte auf einen der beiden Brunnen zu. Sie waren abgeschaltet, doch trotzdem sammelte sich im Becken unter den Brunnenschalen das Wasser. Robert sprang direkt hinein, blieb aber auf der Wasseroberfläche stehen. Er ging ein paar Schritte wie Jesus auf dem See Genezareth.

“Der Computer kann die optischen Eigenschaften von Wasser gut simulieren”, sagte er. “Leider versagt er, wenn es darum geht, ein Gefühl von Wasser zu vermitteln. Das Wasser im Becken ist wie ein Festkörper. Tagsüber, wenn die Brunnen angeschaltet sind und du die Hand unter einen Brunnenstrahl hältst, spürst du gar nichts.”

“Alles schön und gut”, sagte Andreas. “Aber was soll das ganze? Warum erschafft Lemuria eine komplette Welt, die nichts anderes ist als unsere Welt?”

“Es ist etwas anderes. Stell dir vor, was man damit alles machen kann: Über kurz oder lang wird die ganze Welt im Lemuria-Projekt erhalten sein. Du kannst damit in ferne Länder reisen, ohne ein Flugzeug zu besteigen. Du brauchst keine Angst haben vor gewalttätigen Räubern und Erpressern, vor zu heißen oder zu kalten Temperaturen oder vor Krankheitserregern. Pass auf, halt dich fest. Wir reisen nach Berlin.”

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