Sonntag, 7. Juli 2013
00110000 - Wanderer zwischen zwei Welten
Andreas wälzte sich im Bett hin und her. Sein Kopf dröhnte. Seine Augen waren feucht. Nie hätte er gedacht, dass er diese Niederlage so schwer verkraften würde. Er fühlte sich ausgequetscht wie eine Zitrone. Am liebsten würde er jetzt schlafen. Schlafen und sich nach Lemuria träumen - seine Zufluchtsstätte in Zeiten wie diese. Aber er konnte nicht. Immerzu musste er an Maja denken.
Vergiss Maja, dachte er. In Lemuria wartet die schöne Sundari auf mich.

Er hatte kaum zu Ende gedacht, als er sah, dass Sathi auf seiner Bettdecke saß und ihn anblinzelte.

“Sathi!” rief er erschrocken. “Was machst du hier?”

“Die Frage ist eher, was du hier machst”, sagte Sathi. “Du solltest eigentlich in der Schule sein.”

“Ich bin krank.”

“Krank oder -“ er machte eine Pause “unpässlich?”

In knappen Worten erzählte Andreas, was vorgefallen war. Sathi nickte nur stumm.

“Die Prinzessin wird nicht sehr erfreut sein, wenn sie erfährt, dass du - nunja - zweigleisig fährst.”

“Du wirst ihr doch hoffentlich nichts davon erzählen, oder?”

Sathi schüttelte den Kopf. “Ich verstehe dich nicht. Du hast in Lemuria die tollste Frau aller Welten, und du schiebst Liebeskummer wegen einer Schnepfe, die dich nicht will und dich nicht verdient hat.”

Andreas seufzte. Wie sagte er es Sathi am besten? Seit einiger Zeit hatte er ernsthafte Zweifel an der Existenz Lemurias. Es kam ihm alles so echt vor, wenn er dort war, doch wenn er wieder in seine eigene Welt zurückkehrte, verblassten wieder die Erinnerungen - so als wäre das alles ein Traum gewesen. So schön seine Erlebnisse auch waren und so sehr er sie auch brauchte, um für seine eigene Welt neue Kraft zu schöpfen: Lemuria war reine Einbildung. Da war sich Andreas sicher. Er wusste nicht, wie es ihm gelang, in seinen Träumen und Tagträumen eine Welt zu schaffen, die auf ihn so realistisch und in sich stimmig wirkte. Aber ihm war klar, dass Lemuria nicht wirklich existierte, und wenn er im wirklichen Leben etwas erreichen wollte, dann musste er auch hier nach Mädchen Ausschau halten. Es kam ihm nicht so vor, als würde er Sundari untreu. Sundari war für ihn ein Hirngespinst. Aber wie macht man einer Fantasiegestalt klar, dass sie nicht wirklich existiert?

“Das ist was anderes”, sagte er schließlich.

“So? Und was ist daran anders?”

“Ich bin ein Wanderer zwischen zwei Welten. Aber das hier, das ist meine Welt. Sie ermöglicht mir Erlebnisse, die in Lemuria nicht möglich sind. Und Lemuria ermöglicht mir Erlebnisse, die hier nicht möglich sind. Ich habe zwei Leben, und beide müssen bedient werden. Ich habe manchmal den Eindruck, wenn ich drüben bin, bin ich eine andere Person.”

“Es ist nicht einfach mit den zwei Welten, nicht wahr?” sagte Sathi. “Warum kommst du nicht einfach rüber in unsere Welt?”

“Ich weiß nicht, ob es so einfach möglich ist.”

“Natürlich ist es möglich. Du musst nur loslassen.”

Doch Andreas hatte Angst. Einmal hatte ihn seine Mutter mit in die Psychiatrische Klinik mitgenommen. Die beiden wollten seine Tante Ursula besuchen, die Schwester seiner Mutter, die dort wegen ihres Autismus lebte. Es gab dort Menschen, die apathisch in weite Ferne blickten und sich kaum bewegten.

“Was ist mit ihnen?” hatte Andreas gefragt.

“Sie leben in ihrer eigenen Welt”, sagte die Mutter. “Sie sind in eine Fantasiewelt geflüchtet und haben dabei den Bezug zur Realität verloren - und jetzt sind sie dort.”

“Meinst du, sie sind dort glücklich?”

“Das weiß keiner.”

“Nein”, sagte Andreas an Sathi gewandt. “Ich darf meine Welt nicht verlieren. Niemals.”

“Vielleicht hast du sie schon längst verloren und merkst es nur nicht?”

“Was willst du überhaupt, Sathi?”

“Dir helfen. Dir geht es schlecht, ich bin da. Also, Maja ist jetzt mit Robert zusammen. Das muss in diesem Alter noch nichts heißen. Wenn in deinem Alter zwei miteinander gehen, dann kann es sein, dass nach wenigen Wochen schon wieder alles vorbei ist. Das ist ganz normal.”

“Und was mache ich bis dahin? Ich meine, ich kann doch nicht die ganze Zeit krank sein.”

“Du musst lernen zu unterscheiden, was du ändern kannst und was nicht. Du musst das ändern, was du ändern kannst und das akzeptieren, was du nicht ändern kannst.”

“Na, tolle Wurst.”

“Kopf hoch. Es wird schon wieder. Und wenn du es nicht mehr aushältst, dann besuche Sundari. Sie wartet auf dich.”

“Aber was das schlimmste ist, ist gar nicht der Liebeskummer. Viel schlimmer ist: Maja hat mich verraten. Sie wollte mir helfen im Krieg gegen Robert. Sieht so ihre Hilfe aus?”

Sathi lächelte verschmitzt. “Vielleicht”, sagte er. “Sieh es doch mal so: Maja wollte dir im Krieg gegen Robert helfen. Vielleicht hat sie es ja getan. Glaubst du wirklich, sie verbündet sich mit Robert gegen dich? Robert hat jetzt ganz andere Sachen im Sinn. Der Krieg ist ihm jetzt nicht mehr wichtig. Die Liebe hat den Krieg besiegt - wie so oft in der Geschichte. Du wirst sehen: So lange die beiden zusammen ist, wird Robert Ruhe geben - oder dich zumindest nicht mehr ganz so penetrant nerven. Das ist Majas Art, den Konflikt zwischen euch zu lösen.”

Und Sathi hatte Recht. Auch wenn es Andreas wehtat, die beiden miteinander zu sehen: Die nächste Zeit gab Robert Ruhe, und auch die anderen Schulkameraden schienen sich auf einen stillschweigenden Waffenstillstand geeinigt zu haben und belästigten ihn vorerst nicht mehr.

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