Mittwoch, 17. Juli 2013
00110100 - Am Faden zieht die Macht
“Wie ist das zu verstehen?” fragte Andreas, und im nächsten Moment stand er wieder in dem Raum, in dem sich das Sundari-Projekt befand - oder besser: Er stand zweimal dort. Vom Eingang aus beobachtete er, wie er selbst vor der Wand aus Monitoren auf dem Laufband stand - bekleidet mit dem Datenanzug. Zuerst erkannte er sich selbst nicht, doch als ihm bewusst war, dass er auf seinen eigenen Körper blickte, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter.

“Weißt du denn, was eine außerkörperliche Erfahrung ist?” fragte Robert, doch anstatt eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. “Die Gesellschaft des Neuen Menschen glaubt - oder vielmehr: glaubt zu wissen, dass die menschliche Seele schon zu Lebzeiten ihren Körper verlassen kann. Wie auch immer: Das geht nur mit Meditationstechniken, die viel Übung, Geduld und Disziplin erfordern. Doch die Erfahrungen, die der Mensch damit macht - dass er sich selber außerhalb seines eigenen Körpers erlebt -, diese Erfahrungen sind auch durch das Sundari-Projekt möglich. Ich gebe zu: Es ist etwas gruselig, aber du erlebst dich in diesem Moment als außerhalb deines eigenen Körpers stehend - als Geist, der sich selbst beobachtet.”

“Du hast recht”, raunte Andreas. “Es ist gruselig.”

“Meditation ist der Schlüssel zu allem”, fuhr Robert fort. “Du musst meditieren, dein Inneres nach außen kehren, versuchen, eine außerkörperliche Erfahrung herbeizuführen. Dann wirst du verstehen.”

Er ging ein paar Schritte in den Raum hinein, und Andreas folgte ihm. Ihm wurde unbehaglich zumute. Wo genau war er jetzt? Stand er wirklich noch auf dem Laufband oder mitten im Raum? Er hob seinen rechten Arm und beobachtete, wie sein anderes Ich auf dem Laufband ebenfalls den rechten Arm hob. Das gleiche mit dem linken Arm. Er ging ein paar Schritte. Gleichzeitig ging auch sein anderes Ich auf dem Laufband ein paar Schritte, doch im Gegensatz zu ihm selber bewegte sich sein Ebenbild nicht fort.
Nein, er war eigentlich derjenige auf dem Laufband, und sein Ebenbild war derjenige, durch dessen Augen er gerade sah. Nein, das war einfach zu verwirrend.

“Merkst du jetzt, worauf ich hinaus will?” fragte Robert. “Weißt du jetzt, wie sich ein Avatar fühlt? Wer kann noch sagen, welche Welt die wirkliche ist und welche nicht? Wer bist du wirklich? Derjenige im Datenanzug oder derjenige im Raum? Der Beobachter oder derjenige, der beobachtet wird?”

Andreas schwirrte der Kopf. Sein Verstand wusste, welcher von beiden der echte war, aber sein Gefühl sagte genau das Gegenteil. Nicht er steuerte den Avatar, sondern sein Avatar steuerte ihn.

“Mit dir und deiner Seele ist es genauso”, sagte Robert. “Sie steuert dich von außen, und doch hast du das Gefühl, dass du sie steuerst. Du identifizierst dich mit deinem Avatar - dabei bist du mehr als das.”
Sie gingen noch weiter auf die beiden Menschen in ihren Datenanzügen zu. Robert umrundete sich selbst einmal schweigend. Andreas sah sich selber an, streckte seine Hand aus und fuhr über den Datenanzug. Es fühlte sich so echt an. Dabei spürte er, wie er mit der Hand sein anderes Ich berührte, nicht wie er selbst berührt wurde. Er sah aber, wie die andere Gestalt etwas in der Luft zu berühren schien. Es war verwirrend, wie die Figur vor ihm jede seiner Bewegungen ausführte. Dabei hatte er längst das Gefühl für sich selbst verloren. Derjenige, der vor ihm auf dem Laufband im Datenanzug stand, war nicht er selber. Es war eine Marionette, die er bewegte. Ein Lied schoss ihm durch den Kopf. Marionetten. Goethes Erben. “Kabelwesen, weißes Licht, Puppeneifersucht, am Faden zieht die Macht.” Nur wer war die Macht?
Robert, der Avatar-Robert, sah ihn an und grinste.

“Ich denke, wir können die Lektion für heute beenden. Du hast schon viel gelernt - aber du musst noch viel lernen. Und vergiss eines nicht: Stell immer alles in Frage. Alles, was du nicht selbst erlebt hast, existiert nicht. Und frage dich immer, ob du überhaupt deinen Sinnen trauen kannst - oder deinem Gehirn, das alles interpretiert, was du mit Sinnen wahrnimmst. Ich werde uns jetzt vom Sundari-Projekt trennen. Es wird sich jetzt etwas ungewohnt anfühlen.”

Plötzlich wurde Andreas schwarz vor Augen. Er nahm den Datenhelm ab. Der Raum war genau der selbe, in dem er eben noch gestanden hatte. Er blickte sich um, sah auf die Stelle, an der er sich eben noch befunden hatte - aber da war niemand. Robert lachte.

“Ein seltsames Gefühl, nicht wahr? Als wäre die Seele in den Körper zurückgekehrt.”

“Gruselig”, sagte Andreas.

Robert gähnte. “Ich bin müde. Wir sollten uns verabschieden. Wenn du mehr über das erfahren willst, was du heute gelernt hast: Lies meine Bücher. Eins davon hast du ja schon. Komm mit nach draußen. Ich bestell dir ein Taxi.”

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