Dienstag, 30. Juli 2013
00110110 - Industrielle Revolution
Die Treppe führte sie in einen großen Innenhof, einen Patio, dessen Inneres mit gelbbraunem Schotter bedeckt war. Um den Patio herum führte ein Arkadengang sowie darüber eine Galerie. Vom Hof aus führten Türen in andere Räume. Nur ein großes Tor führte direkt ins Freie, und von dort drang die Rede. Jetzt konnte sie Andreas wesentlich besser verstehen.

“In wenigen Minuten wird er hier nach draußen treten. In wenigen Minuten werdet ihr ihn selber sehen können - und ihr werdet Zeuge sein eines neuen Zeitalters.”

Das war tatsächlich die Stimme von Robert Jonas - oder besser: von Para.

“Schenkt den Lügen der alten Religionen keinen Glauben. Macht Platz für eine neue Religion, für eine Umwälzung der kompletten Gesellschaft. Die Zeit ist reif, ein neues Kapitel in der Geschichte von Lemuria aufzuschlagen. Stellt euch vor: Wagen, die ohne Pferde fahren, Automaten, die alles herstellen, was ihr euch nur vorstellen könnt, freundliche Drachen, die sich durch das Land bewegen und euch an jeden Ort transportieren, an den ihr wollt. Ihr müsst nicht mehr auf den Feldern schuften, ihr arbeitet in Zukunft in riesigen Hallen, Burgen und Palästen an magischen Automaten. Es gibt sie schon in unserem Tempel der Na’e Vykati. Wir stellen in Gahare Ranga Gewänder her - so weich, wie nur Könige sie haben - und doch kann sie sich jeder leisten. Wir stellen Eisenklingen her, härter als alle Eisenklingen, von denen ihr je gehört habt. Und wir stellen das hier her:”

Ein Schuss ertönte, und Andreas hörte kurz darauf, wie Panik ausbrach. Hunderte, ja Tausende von Menschen, vorwiegend Männer, riefen durcheinander von wilder Angst getrieben.

Hatana und Andreas traten ins Freie, und dann sahen sie ihn: Para stand ganz oben auf der Pyramide direkt vor dem Heiligen Feuer des Aga. Neben dem Feuer sah er aus wie ein winziges Wichtelmännchen. Aber Andreas sah genau, dass er eine Schusswaffe in seiner Hand hielt - ein einfaches Gewehr, noch dazu ein Vorderlader. Es sah richtig antik aus, aber für die Menschen von Lemuria, die bisher noch nie eine Schusswaffe gesehen hatten, war das High-Tech. Andreas fragte sich, woher Para das Wissen hatte oder ob es wirklich Robert war, der in diese Welt gekommen war mit all dem Wissen, das er aus seiner eigenen Welt her kannte.

“Diese Welt ist reif für ein neues Zeitalter”, sagte Para, und das Gemurmel unter den Lemurianern verstummte. Es waren tatsächlich Tausende, die sich rund um die Pyramide versammelt hatten. Nicht alle waren Na’e Vykati, obwohl sie allesamt in Weiß gekleidet waren - die meisten trugen die Kleidung der Pilger. Und sie alle schienen in den Bann gezogen von dem, was da auf der Pyramide geschah. Obwohl er so weit weg war, dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnten, hatte er sie in der Hand. Sie hingen an seinen Lippen.

“Es wird ein Zeitalter, in dem es keine Könige mehr gibt. Nicht alle sind gleich, aber alle haben die gleichen Chancen, nach oben aufzusteigen. Jeder kann reich und mächtig werden, wenn er sich nur anstrengt. Es wird ein Zeitalter, in dem uns die Automaten die harte Arbeit abnehmen. Wir werden mehr Zeit haben, uns den angenehmen Dingen zu widmen. Es wird ein Zeitalter, in dem wir innerhalb kürzester Zeit von einem Ort in Lemuria zum anderen kommen werden. Wir werden nur noch einen Tag für eine Reise brauchen, für die wie früher zwanzig Tage brauchten. Es wird eine Zeit, in der die alten Götter verschwinden werden, und neue Götter werden kommen. Götter die euch die Freiheit lassen, selber über Lemuria zu regieren. Vor vielen Jahrtausenden haben eure Vorfahren angefangen, den Boden zu bearbeiten, Vieh zu züchten und Dörfer zu gründen. Was jetzt kommt, wird euer Leben genauso verändern, wie die Landwirtschaft das Leben eurer Vorfahren geändert hat.”

Andreas bemerkte, dass rund um die Pyramide herum Pumpen aufgestellt waren. Sie sahen aus wie altertümliche Feuerwehrpumpen, die in Andreas’ Welt im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert benutzt wurden. Mechanische Pumpen im Handbetrieb. Alle diese Pumpen wurden von jeweils mindestens fünf Na’e Vykati flankiert. Die Schläuche führten allesamt hoch auf die Pyramide. An ihren oberen Enden standen weitere Na’e Vykati mit den Schläuchen in der Hand wie Feuerwehrleute, die auf den Befehl zum Löschangriff warteten. Andreas zählte die Pumpen, hörte aber bei zwanzig auf als er merkte, dass er bisher nur einen Bruchteil erfasst hatte und dass auf der Rückseite der Pyramide sicherlich auch noch welche standen. Er fragte sich, wie Para all diese Pumpen unbemerkt nach Aga geschafft hatte. Diese Aktion musste schon seit sehr langer Zeit geplant sein.

“Irgendwelche Vorschläge?” fragte Hatana.

“Langsam”, sagte Andreas. “Lass mich nachdenken.”

“Viel Zeit zum Nachdenken haben wir nicht.”

“Kann ich nicht den Spielstand speichern und eine Nacht darüber schlafen?”

“Willst du riskieren, dass das Feuer von Aga erlischt - und mit ihm alle Feuer, die es gibt? Wir können nichts mehr kochen, müssen uns von Rohkost ernähren, und im Winter wird es erbärmlich kalt.”

“Hier geht es nicht um das Feuer von Aga”, sagte Andreas. “Hier geht es darum, den Glauben an die Götter zu erschüttern.”

“Euch ist gesagt worden, wenn das Feuer von Aga erlischt, wird kein Feuer mehr brennen - in ganz Lemuria nicht und auch nicht den anderen Welten. Auch ich habe diesen Glauben mit verbreitet. Das ist aber großer Quatsch.”

“Er sagt die Wahrheit”, flüsterte Andreas.

“Wie kommst du darauf?” fragte Sathi.

“Wenn er hier so etwas wie eine Industrielle Revolution veranstalten will, und darauf will er - denk ich hinaus - braucht er weiterhin Feuer. Sonst funktioniert das ganze nicht. Wenn er mit dem Feuer von Aga tatsächlich jedes Feuer erlischt, scheitert sein ganzer grandioser Plan.”

“Und was ist, wenn er sich irrt?”

“Wenn er nur den geringsten Zweifel daran hat, wird er es nicht tun. Wenn er es aber tut, dann ist er sich seiner Sache 100prozentig sicher. Wie Bonifatius.”

“Bonifatius?”

“Bonifatius fällte eine dem Gott Donar geweihte Eiche in Fritzlar, um den Germanen zu zeigen, dass die heidnischen Götter nicht existieren oder zumindest keine Macht haben. Aus eben demselben Grund will Para das Feuer von Aga löschen.”

“Das heißt, wir müssen ihn gar nicht daran hindern.”

“Nein, das müssen wir nicht. Wir sollten uns davon stehlen und das Feuer von Mandira holen.”

Er wollte es gerade tun, als er von zwei Na’e Vykati festgehalten wurde. “Wohin so eilig?” fragte einer von ihnen.

Andreas drehte sich nach Hatana um, doch ihn hatten sie auch festgenommen. Nur Sathi, dem die Wachen keine Beachtung schenkten, hatte Bewegungsfreiheit. Und bevor Andreas irgendetwas sagen konnte, rammte Sathi einer der beiden Wachen seinen Dolch in die Halsschlagader. Andreas wollte den daraufhin ausbrechenden Tumult ausnutzen, seinen Säbel ziehen und die Wachen abstechen, doch der Krieger nahm ihn in den Polizeigriff, und wenig später waren zwei andere Na’e Vykati zur Stelle, die ihn so festhielten, dass er sich nicht wehren konnte. Auch Hatana war gleich von mehreren Kriegern in Schach gehalten worden. Und sie führten sie durch die Menschenmenge, die sich vor ihnen teilte wie das Rote Meer vor Moses. Immer weiter auf die Pyramide zu.

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