Montag, 1. Juli 2013
00101100 - Sozialer Brennpunkt
mercury mailer, 20:26h
Sie nahmen sich ein Taxi, das draußen vor dem Carpe Diem stand - so als hätte es auf die beiden gewartet. Andreas wunderte das nicht mehr. Seitdem er Robert wieder gesehen hatte, hatte er schon so viel Seltsames erlebt, dass er glaubte, nichts könne ihn mehr schocken. Rationalität und Logik hatte er schon in der Konrad-Adenauer-Halle an der Garderobe abgegeben und seitdem nicht wieder geholt. Naturwissenschaftlich war davon absolut nichts zu erklären - es sei denn, über irgendwelche obskuren Irrwege der Quantentheorie. Was auch immer. Robert spürte, wie ihm der Kopf langsam rauchte, wie er nicht mehr aufnahmefähig war. Alles, was auf ihn einprasselte, war auf einmal zu viel. Er hatte jetzt das, was er einen Overflow nannte. Zu viele Eindrücke, zu viele Informationen auf einmal.
Der Taxifahrer war diesmal ein Türke, und er hörte türkische Musik auf volle Lautstärke. Und Robert tat so, als müsse er ihn übertönen. Robert hörte sich gerne reden. Das war schon in der Schule so. Robert interessierte es nicht im geringsten, ob es Andreas es hören wollte oder nicht.
“Ich möchte dir etwas interessantes zeigen”, sagte er, als er Taxifahrer losfuhr. Robert hatte ihm eine Adresse genannt. Schwarzwaldstraße 23. Andreas wusste, dass die Schwarzwaldstraße im Süden der Stadt lag. Soziales Brennpunktviertel nannte sich so etwas in den Medien. Hochhäuser, Wohnblocks, Slums. Was nur hatte Robert dort zu suchen?
Doch Andreas gelang es nicht, darüber nachzudenken. Hämmernder Kopfschmerz überfiel ihn. Die Musik plärrte irgendwelche orientalischen Weisen. Gnadenlos übersteuert wie der ständig laufende Fernseher in einer Dönerbude. Dazu Roberts Gelaber. Andreas wollte einfach nur noch nach Hause.
“Stell dir vor, das Leben wäre ein Film”, philosophierte Robert. “Da gibt es einen Protagonisten, einen Gegenspieler, einen Gefährten oder eine Gefährtin und einen Mentor. In deinem Film wäre ich wohl dein Mentor.”
Oder mein Gegenspieler, dachte Andreas, aber er wagte nicht, es zu sagen.
“Wie auch immer - diese Leute, das sind die Hauptfiguren. Dann gibt es die Nebenfiguren, das sind all die anderen Leute, denen du in deinem Leben begegnest und die eine Sprechrolle haben. Die Frau im Blumenladen. Der Typ am Kiosk, an dem du deine Zeitung kaufst. Der Bäcker um die Ecke. Du grüßt sie, du kaufst bei ihnen ein, du lernst sie vielleicht sogar ein wenig kennen. Aber wirst du sie jemals zum Essen einladen? Wirst du mit ihnen Weihnachten feiern? Wirst du ihnen gar deine intimsten Geheimnisse anvertrauen?”
Er machte eine bedeutungsschwangere Pause, in die Andreas normalerweise mit einer Antwort reingeplatzt wäre, da er Schwierigkeiten hatte, rhetorische Fragen als solche zu erkennen. Doch diesmal hatte er keine Nerven dafür. Er wusste, dass Robert die Frage wahrscheinlich gleich selbst beantworten würde.
“Nein, würdest du nicht. Weil sie Nebenfiguren sind. Sie sind nicht interessant für dich. Es ist dir vollkommen schnuppe, was für einen Charakter sie haben, was für einen Hintergrund sie haben, wie sie die Menschen geworden sind, die sie sind. Das ist alles unerheblich. Sie sind Nebenfiguren. Aber es geht noch nebensächlicher. Statisten, Komparsen, die Welt ist voll davon. Und jetzt erinnere dich mal an meinen Vortrag und was ich über MP3 und JPG und Schrödingers Katze und diesen ganzen anderen Krempel erzählt habe - dass, wer immer auch diese Simulation geschaffen hat, dass derjenige möglichst sparsam mit Ressourcen umgeht. Wenn diese Welt eine Illusion ist, dann ist es doch logisch, dass nicht jeder, der wie ein Mensch aussieht, auch ein Mensch ist.”
Andreas sah überrascht auf. Die Kopfschmerzen waren für einen kurzen Moment verflogen. Meinte dieser Typ wirklich, was er sagte? Sprach er manchen Menschen ihre Menschlichkeit ab? War das nicht menschenfeindlich?
Robert grinste. “Komm schon. All die Menschen in der U-Bahn. In der Warteschlange. Im Supermarkt an der Kasse. Glaubst du wirklich, dass all diese Menschen geboren wurden? Dass sie alle ein Leben leben - so wie du es tust? Menschen, die du einmal siehst und dann nie wieder? Woher weißt du, dass es so ist? Wäre es nicht viel logischer, wenn es wesentlich weniger Menschen auf der Erde gäbe - wenn die ganzen Menschen, die du siehst, eine Illusion wären?”
“Was weißt du über Black Eyed People?” fragte Andreas.
“Wie kommst du denn jetzt darauf?”
“Was weißt du darüber?”
“Nicht viel. Wir haben in der Gesellschaft des Neuen Menschen ab und zu mit ihnen zu tun. Niemand weiß, was sie wirklich sind. Nur eines ist klar: Sie sind keine Menschen. Und auch das Jenseits schweigt sich bisher über sie aus. Ich mag dieses Thema nicht. Es ist mir unheimlich.”
Eine Lüge? Aber warum sollte Robert in diesem Zusammenhang lügen? Warum nur hatte Andreas diese Probleme zu erkennen, wann jemand die Wahrheit sagt und wann nicht?
Der Taxifahrer bog jetzt auf die Hauptstraße ab, die hier durch einen Tunnel führte.
“Diese Welt ist eine Illusion”, sagte Robert. “Eine gut gemachte, eine perfekt gemachte, aber eben eine Illusion, und es gibt Orte auf dieser Welt, an denen man es sehen kann. Orte, die normalerweise kein Mensch betritt und kein Mensch zu sehen bekommt. Orte, an die niemand freiwillig hingehen würde. Wie zum Beispiel Krankenhäuser. Die sind so riesig, dass man sich darin verirren kann. Ich habe selber mal aus einem kaum herausgefunden. Aber was ist, wenn nicht hinter jeder Tür tatsächlich auch ein Patient liegt?”
“Du bist wahnsinnig”, entgegnete Andreas. “Die Krankenhäuser sind häufig überfüllt.”
“Das mag sein”, sagte Robert. “Wir fahren auch nicht zu einem Krankenhaus. Wir fahren zu einer Art Portal zur Anderswelt. In alten Zeiten glaubten die Menschen, diese Portale seien in Höhlen zu finden oder in Erdlöchern. Später vermutete sie an heiligen Orten, wo sich Ley-Linien kreuzen. Was auch immer. Dort entstanden zunächst Heilige Haine oder Tempel - und dann kam die Kirche und machte die Heiligen Haine und Tempel platt und errichtete dort Gotteshäuser. Viele Orte, an denen heute eine Kirche steht, sind uralte magische Kultorte, an denen sich in früheren Zeiten das Jenseits offenbart hat. Solche geheimnisvollen Plätze gibt es in allen Kulturen. Jerusalem, Mekka, Bodhgaya, Varanasi. Alle Religionen, die wir kennen, beruhen auf Offenbarungen aus dem Jonaseits. Die Religionen sind nur deshalb verschieden, weil jede Kultur die Offenbarungen anders interpretiert hat. Aber wenn wir alle Religionen miteinander vergleichen, dann kommen wir zu einem gemeinsamen Kern, zu einer Art Ur-Religion, in der sich der Wille des Schöpfers widerspiegelt.”
Andreas hatte genug. Er wollte einfach nur noch nach Hause. Er hätte erst gar nicht zu diesem Vortrag gehen sollen. Dieser Robert war komplett durchgeknallt. Wer weiß, wohin er ihn führen wollte. Das ganze war ihm schon jetzt viel zu unheimlich. Der Taxifahrer, der Eisbär, Dinge, die niemals hätten geschehen dürfen. Er sehnte sich in seine heile Welt nach Lemuria. Jetzt ein Schäferstündchen mit Sundari - nein, sie war auch schon in seine Welt vorgedrungen - in Gestalt einer eher distanzierten Vorgesetzten. Ihm wurde wieder schwindelig, und die Kopfschmerzen meldeten sich zurück.
“Ich bitte dich”, sagte er. “Tu mir bitte einen Gefallen. Was immer du mir zeigen willst: Sei bitte jetzt ruhig und erkläre es mir dann, wenn wir dort sind. Mir wird das alles ein bisschen zu viel.”
Der Taxifahrer war diesmal ein Türke, und er hörte türkische Musik auf volle Lautstärke. Und Robert tat so, als müsse er ihn übertönen. Robert hörte sich gerne reden. Das war schon in der Schule so. Robert interessierte es nicht im geringsten, ob es Andreas es hören wollte oder nicht.
“Ich möchte dir etwas interessantes zeigen”, sagte er, als er Taxifahrer losfuhr. Robert hatte ihm eine Adresse genannt. Schwarzwaldstraße 23. Andreas wusste, dass die Schwarzwaldstraße im Süden der Stadt lag. Soziales Brennpunktviertel nannte sich so etwas in den Medien. Hochhäuser, Wohnblocks, Slums. Was nur hatte Robert dort zu suchen?
Doch Andreas gelang es nicht, darüber nachzudenken. Hämmernder Kopfschmerz überfiel ihn. Die Musik plärrte irgendwelche orientalischen Weisen. Gnadenlos übersteuert wie der ständig laufende Fernseher in einer Dönerbude. Dazu Roberts Gelaber. Andreas wollte einfach nur noch nach Hause.
“Stell dir vor, das Leben wäre ein Film”, philosophierte Robert. “Da gibt es einen Protagonisten, einen Gegenspieler, einen Gefährten oder eine Gefährtin und einen Mentor. In deinem Film wäre ich wohl dein Mentor.”
Oder mein Gegenspieler, dachte Andreas, aber er wagte nicht, es zu sagen.
“Wie auch immer - diese Leute, das sind die Hauptfiguren. Dann gibt es die Nebenfiguren, das sind all die anderen Leute, denen du in deinem Leben begegnest und die eine Sprechrolle haben. Die Frau im Blumenladen. Der Typ am Kiosk, an dem du deine Zeitung kaufst. Der Bäcker um die Ecke. Du grüßt sie, du kaufst bei ihnen ein, du lernst sie vielleicht sogar ein wenig kennen. Aber wirst du sie jemals zum Essen einladen? Wirst du mit ihnen Weihnachten feiern? Wirst du ihnen gar deine intimsten Geheimnisse anvertrauen?”
Er machte eine bedeutungsschwangere Pause, in die Andreas normalerweise mit einer Antwort reingeplatzt wäre, da er Schwierigkeiten hatte, rhetorische Fragen als solche zu erkennen. Doch diesmal hatte er keine Nerven dafür. Er wusste, dass Robert die Frage wahrscheinlich gleich selbst beantworten würde.
“Nein, würdest du nicht. Weil sie Nebenfiguren sind. Sie sind nicht interessant für dich. Es ist dir vollkommen schnuppe, was für einen Charakter sie haben, was für einen Hintergrund sie haben, wie sie die Menschen geworden sind, die sie sind. Das ist alles unerheblich. Sie sind Nebenfiguren. Aber es geht noch nebensächlicher. Statisten, Komparsen, die Welt ist voll davon. Und jetzt erinnere dich mal an meinen Vortrag und was ich über MP3 und JPG und Schrödingers Katze und diesen ganzen anderen Krempel erzählt habe - dass, wer immer auch diese Simulation geschaffen hat, dass derjenige möglichst sparsam mit Ressourcen umgeht. Wenn diese Welt eine Illusion ist, dann ist es doch logisch, dass nicht jeder, der wie ein Mensch aussieht, auch ein Mensch ist.”
Andreas sah überrascht auf. Die Kopfschmerzen waren für einen kurzen Moment verflogen. Meinte dieser Typ wirklich, was er sagte? Sprach er manchen Menschen ihre Menschlichkeit ab? War das nicht menschenfeindlich?
Robert grinste. “Komm schon. All die Menschen in der U-Bahn. In der Warteschlange. Im Supermarkt an der Kasse. Glaubst du wirklich, dass all diese Menschen geboren wurden? Dass sie alle ein Leben leben - so wie du es tust? Menschen, die du einmal siehst und dann nie wieder? Woher weißt du, dass es so ist? Wäre es nicht viel logischer, wenn es wesentlich weniger Menschen auf der Erde gäbe - wenn die ganzen Menschen, die du siehst, eine Illusion wären?”
“Was weißt du über Black Eyed People?” fragte Andreas.
“Wie kommst du denn jetzt darauf?”
“Was weißt du darüber?”
“Nicht viel. Wir haben in der Gesellschaft des Neuen Menschen ab und zu mit ihnen zu tun. Niemand weiß, was sie wirklich sind. Nur eines ist klar: Sie sind keine Menschen. Und auch das Jenseits schweigt sich bisher über sie aus. Ich mag dieses Thema nicht. Es ist mir unheimlich.”
Eine Lüge? Aber warum sollte Robert in diesem Zusammenhang lügen? Warum nur hatte Andreas diese Probleme zu erkennen, wann jemand die Wahrheit sagt und wann nicht?
Der Taxifahrer bog jetzt auf die Hauptstraße ab, die hier durch einen Tunnel führte.
“Diese Welt ist eine Illusion”, sagte Robert. “Eine gut gemachte, eine perfekt gemachte, aber eben eine Illusion, und es gibt Orte auf dieser Welt, an denen man es sehen kann. Orte, die normalerweise kein Mensch betritt und kein Mensch zu sehen bekommt. Orte, an die niemand freiwillig hingehen würde. Wie zum Beispiel Krankenhäuser. Die sind so riesig, dass man sich darin verirren kann. Ich habe selber mal aus einem kaum herausgefunden. Aber was ist, wenn nicht hinter jeder Tür tatsächlich auch ein Patient liegt?”
“Du bist wahnsinnig”, entgegnete Andreas. “Die Krankenhäuser sind häufig überfüllt.”
“Das mag sein”, sagte Robert. “Wir fahren auch nicht zu einem Krankenhaus. Wir fahren zu einer Art Portal zur Anderswelt. In alten Zeiten glaubten die Menschen, diese Portale seien in Höhlen zu finden oder in Erdlöchern. Später vermutete sie an heiligen Orten, wo sich Ley-Linien kreuzen. Was auch immer. Dort entstanden zunächst Heilige Haine oder Tempel - und dann kam die Kirche und machte die Heiligen Haine und Tempel platt und errichtete dort Gotteshäuser. Viele Orte, an denen heute eine Kirche steht, sind uralte magische Kultorte, an denen sich in früheren Zeiten das Jenseits offenbart hat. Solche geheimnisvollen Plätze gibt es in allen Kulturen. Jerusalem, Mekka, Bodhgaya, Varanasi. Alle Religionen, die wir kennen, beruhen auf Offenbarungen aus dem Jonaseits. Die Religionen sind nur deshalb verschieden, weil jede Kultur die Offenbarungen anders interpretiert hat. Aber wenn wir alle Religionen miteinander vergleichen, dann kommen wir zu einem gemeinsamen Kern, zu einer Art Ur-Religion, in der sich der Wille des Schöpfers widerspiegelt.”
Andreas hatte genug. Er wollte einfach nur noch nach Hause. Er hätte erst gar nicht zu diesem Vortrag gehen sollen. Dieser Robert war komplett durchgeknallt. Wer weiß, wohin er ihn führen wollte. Das ganze war ihm schon jetzt viel zu unheimlich. Der Taxifahrer, der Eisbär, Dinge, die niemals hätten geschehen dürfen. Er sehnte sich in seine heile Welt nach Lemuria. Jetzt ein Schäferstündchen mit Sundari - nein, sie war auch schon in seine Welt vorgedrungen - in Gestalt einer eher distanzierten Vorgesetzten. Ihm wurde wieder schwindelig, und die Kopfschmerzen meldeten sich zurück.
“Ich bitte dich”, sagte er. “Tu mir bitte einen Gefallen. Was immer du mir zeigen willst: Sei bitte jetzt ruhig und erkläre es mir dann, wenn wir dort sind. Mir wird das alles ein bisschen zu viel.”
... comment