Montag, 29. Juli 2013
00110101 - Götterdämmerung
Andreas hatte nicht bemerkt, wie Sathi in die Gefängniszelle gehuscht war. In seiner Hand hatte er den Zellschlüssel.

“Wie hast du...” flüsterte Andreas.

“Schschsch”, sagte Sathi und deutete auf den schlafenden Gefängniswärter.

“Wie hast du den Schlüssel geholt und den Typen zum Schlafen gebracht?”

“Deus ex machina”, wisperte Sathi.

“Der Gott aus der Maschine?”

“Ja, und jetzt lass uns verschwinden.”

“Und Para das Feuer von Aga stehlen lassen?”

“Nein, ihn daran hindern.”

Das war leicht gesagt. Sie waren nur zu dritt - zwei Männer und ein Wichtel. Die Lemuren hatten sie bei den Pferden am Stadtrand zurückgelassen. Ihnen gegenüber stand eine wahre Übermacht. Die Na’e Vykati waren zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden angereist. Sie hatten alle Priester und Mönche des Heiligtums getötet. Und sie hatten die kleine Gruppe schon einmal überwältigt. Es war nahezu aussichtslos. Aber vor vielen Jahren hatte Andreas mal im Alleingang eine ganze Bande von Orks in den Höhlen von Surya Hila besiegt. Also bestand Hoffnung.

Hatana nahm sich den Säbel des Wachmanns, der immer noch schlief. Vermutlich hatte ihn Sathi unter Drogen gesetzt. Diese Wichtel kannten sich mit Kräutern aus. Gut möglich, dass er dem Wächter ein starkes Schlafmittel verabreicht hatte.

Der Weg nach draußen führte durch einen dunklen Gang. Hatana ging voran - in der einen Hand die Fackel, in der anderen den Säbel. Jeden Moment konnte einer der Na’e Vykati um die Ecke kommen. Und tatsächlich: Da war schon einer. Aber der Kampf war kurz. Geistesgegenwärtig ließ Hatana den Säbel durch die Luft sausen, und im nächsten Moment war sein Gegner ein Kopf kürzer. So liebte es Andreas: Sein Begleiter machte für ihn die Arbeit. Doch um auf Nummer sicher zu gehen, nahm er den Säbel des Enthaupteten an sich.

Weiter ging es durch den dunklen Gang, wo ihre Schritte an den Mauern links und rechts widerhallten, wo die Fackel unheimliche Schatten an die Wände warf - ähnlich wie in Platos Höhlenparabel. Sie wagten nicht, miteinander zu reden - bis sie nach einer langen Zeit, die kein Ende zu nehmen wollte, an eine Gabelung kamen.

“Wo jetzt?” fragte Andreas.

Hatana zuckte die Achseln. “Eigentlich egal. Das schlimmste, was passieren kann, ist, dass wir einen Umweg laufen.”

“Oder dass wir dem Feind direkt in die Arme laufen!” entgegnete Sathi.

“Taktisch ist es hier unten gar nicht so schlecht”, meinte Hatana. “Hier unten kann immer nur einer auf einmal gegen uns kämpfen. Zwei, wenn sie auch von hinten kommen. Wir werden hier leicht mit ihnen fertig.”

“Dein Wort in der Götter Ohren”, sagte Sathi.
Sie entschieden sich für den linken Gang, und wieder trat den dreien ein Anhänger der Na’e Vykati entgegen, und wieder bezahlte er mit dem Leben, als Hatana den Säbel durch die Luft sausen ließ. Der Kopf des Mannes rollte Andreas vor die Füße. Achselzuckend stieg er drüber. Wenig später kamen zwei auf einmal, aber auch diese besiegte Hatana schnell und ohne Probleme.

“Langsam wird es langweilig”, bemerkte Andreas.

“Sei besser nicht so vorlaut”, bemerkte Sathi, der auf Andreas’ Schulter saß. “Denk lieber an die Schlacht von Ucca Patthara. Da sah es für dich eher brenzlig aus.”

Das stimmte. Die Orks hatten ihn fast am Wickel. Ohne die Kavallerie, die der König von Madhya Lemuria losgeschickt hatte, hätte er dieses Abenteuer nie bestehen könnte. Wieder fragte er sich, ob ein Tod in Lemuria auch seinen Tod in der wirklichen Welt zur Folge hatte oder ob er dann ganz einfach dort aufwachte, als wäre nichts gewesen. Er wollte es nicht ausprobieren.

Endlich sahen sie schwach schimmerndes Tageslicht. Ein Windstoß brachte die Fackeln zum Flackern. Hatana ging jetzt schneller. Andreas hatte Mühe hinterherzukommen. Und das, obwohl er in dieser Welt durchaus gut bei Fuß war. Jetzt konnte er auch etwas hören. Jemand redete. Noch konnte er keine Worte verstehen, aber es war definitiv die hochlemurische, also die deutsche Sprache, die er vernahm. Auch die Stimme erkannte er noch nicht. Er war generell nicht sehr gut darin, Stimmen zu verstehen, und auch in Lemuria änderte sich daran nichts. Er erkannte nur, dass derjenige männlich war und laut redete - sehr laut sogar. Aber er schrie oder brüllte nicht. Er redete wie Pfarrer auf seiner Kanzel oder wie ein Politiker in einer Zeit geredet haben musste, als das Mikrofon noch nicht erfunden war. Das erste Wort, das er verstand, war: Götterdämmerung. Der Rest ging wieder unter in einem allgemeinen Brei von Lauten - vor allem als erneut wieder einige Wächter mit lautem Gebrüll wie Ninjas auf sie zu stoben - diesmal sogar von beiden Seiten. Andreas schnappte sich seinen Säbel schlachtete den ersten ab. Ein Stoß in den Hals. Der Angreifer röchelte und sackte zusammen. Der nächste, bitte. Andreas ließ den Säbel durch die Luft sausen, und wieder flog ein Kopf durch die Luft. Aber er hatte keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Blitzschnell setzte er das Gemetzel fort. Diesmal ein tödlicher Stoß in den Bauch. Der Säbel kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein. Der nächste konnte nicht warten, bis Andreas die Waffe wieder aus dem Körper des Sterbenden gezogen hatte. Er versuchte seinerseits, Andreas zu köpfen. Dieser duckte sich blitzschnell. Sathi sprang auf die Schulter des Angreifers und bohrte seinen eigenen Dolch, der etwa die Größe einer Nagelfeile hatte, mitten in die Halsschlagader des Na’e Vykati. Er griff an seinen Hals. Blut pulsierte über seine Hände. Dann sackte auch er zusammen. Um den nächsten konnte sich Andreas wieder selber kümmern, und er machte ihn einen Kopf kürzer. Damit waren wieder sämtliche Angreifer erledigt.

Für einen Moment fühlte sich Andreas wie in einem Computerspiel, aber der Moment war kurz. Jetzt galt es, seine eigene Haut zu retten - und wie so oft die Welt von Lemuria.

Sie erreichten eine enge Treppe, die direkt ins Tageslicht führte. Weitere Wächter gab es hier nicht. Hatana eilte sich, nach draußen zu kommen, obwohl er wusste, dass sie dort auf die taktischen Vorteile würden verzichten müssen, die sie bisher im engen Korridor hatten. Der Tempelbezirk war voll von riesigen Plätzen und weiten Räumen. Gegen eine Übermacht konnten sie dort nur schwer ankommen.

... comment