Mittwoch, 1. Mai 2013
00000101 - Die Gesellschaft des Neuen Menschen
Das erste, was er tat, als er online war - noch bevor er E-Mails checkte - war die Startseite von Lemuria aufrufen und “Robert Jens” eingeben. Er fand sogar einen Wikipedia-Atrikel. Das war das Top-Suchergebnis bei Lemuria - noch über www.robertjens.de. “Robert Jens ist ein deutscher Motivationstrainer, Unternehmer, selbst ernannter Guru und Buchautor”, schrieb die Wikipedia.
Selbst ernannter Guru?

Er las weiter und erfuhr, dass Robert die Gesellschaft des Neuen Menschen gegründet hatte - na, hoffentlich war er ein neuer Mensch geworden! Jedenfalls hatte er auch mehrere Unternehmen gegründet. Reich war er dadurch auch geworden.
Doch davon stand nicht viel im Artikel.

Andreas wechselte zu Amazon. Vier Bücher konnte er dort finden - alle von den Lesern als sehr gut bewertet. Das erste Buch hieß Wege zum Erfolg. Laut Inhaltsangabe ein Ratgeber, der allerdings nicht nur Motivationsmethoden und Mantras sondern überaus esoterische Methoden beinhaltete. Aber es schien zu funktionieren. Darauf deuteten die vielen positiven Kommentare hin. Ein gewisser McMalle - seltsamer Nickname! - schrieb: “Ich hatte zuvor nie eine Frau abbekommen. Jetzt habe ich das Buch gelesen, und ich kann mich vor Frauen kaum retten.” Ein gewisser “Grüner Heinrich” schrieb: “Ich war jahrelang arbeitslos. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, habe ich ein Unternehmen gegründet. Jetzt habe ich zwanzig Mitarbeiter und fahre satte Gewinne ein.” Hörte sich nicht schlecht an. Aber warum sollte ausgerechnet der Schrecken seiner Kindheit herausgefunden haben, wie der Hase lief?

Das zweite Buch war etwas seltsamer: Der Matrix-Code. Esoterisches Gewäsch. Doch auch hier nur positive Kommentare. “Noch nie habe ich die Atomphysik so leicht verständlich präsentiert bekommen”, schrieb ein gewisser “Plato”. Und jemand, der sich den Namen Dr. Faust gegeben hatte, schrieb: “Robert Jens schafft es, auf verständliche und humorvolle Art und Weise die Kluft zwischen Naturwissenschaften, Religion und Esoterik zu schließen. Wer wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, kommt an diesem Buch nicht vorbei.”

Die dritte Buchveröffentlichung hieß Die Macht des Positiven Denkens. Hier waren die Kommentare und Leser-Rezensionen etwas spärlicher - doch ebenfalls voll des Lobes. Das galt auch für sein letztes Buch Jenseits der Realität. “Robert Jens weiß nicht nur, dass es ein Leben nach dem Tod gibt”, schrieb ein Leser. “Er weiß auch, wie es aussieht.”

Andreas hatte genug gesehen und wechselte auf Robert Jens’ eigenen Webauftritt. Die Homepage war schlicht gestaltet. Nur ein Schwarz-Weiß-Foto, das den immer hämisch grinsenden Robert mal von einer ganz anderen Seite zeigte - nachdenklich das Kinn in die Faust gelegt, die Augen auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet. Das passte so gar nicht zu ihm.
Die Menüpunkte und die von ihnen aus angesteuerten Unter-Seiten strotzten nur so von gähnender Langeweile. Da gab es einen Lebenslauf, dort gab es einen Link zu den Veröffentlichungen, die man auch gleich bei Amazon kaufen konnte (war ebenfalls verlinkt), und es gab die obligatorische Kontaktseite.

Doch am interessantesten fand Andreas die Seite über die Gesellschaft des Neuen Menschen:
“Wir sind eine nichtreligiöse Weltanschauungsgemeinschaft. Wir sind keine Religion und erst recht keine Sekte. Wer an unseren Seminaren teilnimmt, wird nicht zum Auditing eingeladen. Wir sind ein eingetragener Verein. Mitglieder zahlen bei uns nicht mehr als beispielsweise im Sportverein. Die Teilnahme an allen unseren Veranstaltungen ist hundertprozentig freiwillig. Als Wertegemeinschaft sind wir der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes verpflichtet.”

Hörte sich schon mal gut an, fand Andreas. Die Frage war nur, warum Robert das so betonen musste. Eigentlich sollte das doch selbstverständlich sein. Und außerdem: Wo waren die freiheitlichen Werte, als Robert ihn auf dem Schulhof verprügelt und in die Mülltone gesetzt hatte?

Er las weiter: “In unserem Verein gibt es Christen, Juden, Muslime, Buddhisten und sogar Naturwissenschaftler.”

Als ob das eine Religion wäre, dachte Andreas. Naturwissenschaftler.

“Unser Ziel ist es, gemeinsam und ohne Vorurteile durch gegenseitigen Austausch wie durch gemeinsame Forschung die letzten Rätsel des Universums zu lösen und die Stellung des Menschen darin zu ergründen. Wir glauben, dass das uns bekannte Universum wie alle künstlichen und virtuellen Welten aus Code besteht, den intelligente Wesen programmiert haben. Wir glauben ferner, dass Menschen, Tiere und alle Lebewesen auf der Erde und auf anderen Planeten Inkarnationen dieser intelligenten Wesen sind. Und drittens glauben wir, dass der Mensch sein Leben und das Geschehen in der Welt in bisher nicht geahnter Weise beeinflussen kann, wenn er nur lernt, sein Bewusstsein zu erweitern, um den Code zu verstehen.”

Jetzt wurde es Andreas zu bunt. Das hörte sich tatsächlich nach Scientology an! Nur entfernt freilich, aber Tom Cruise wäre stolz auf eine derartige Öffentlichkeitsarbeit.

Doch irgendwie klang es auch interessant. Wie eine Religion für die Generation @ - oder Generation N, wie Andreas’ Alter Ego Mercury Mailer sie zu nennen pflegte. Eine Welt aus Code, programmiert von intelligenten Wesen, die in dieser Welt lebten wie Teenager in einem Online-Rollenspiel. Auf diese Idee musste man erst mal kommen. Aber wie zum Teufel konnte jemand wie Robert einigermaßen intelligente Menschen um sich scharen, die dann so etwas behaupteten?

Es war Zeit, dass Mercury Mailer wieder aktiv wurde.

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