Montag, 6. Mai 2013
00001010 - Ein Bankett
Sie saßen zum Bankett im Speisesaal. Lemuren trugen Köstlichkeiten aus ganz Lemuria auf. Einige davon kannte Andreas gut aus seiner eigenen Welt: Bananen, Melonen, Mangos, aber auch Pflaumen und viel Reis und Curry. Anderes war ihm nur durch seine Aufenthalte in Lemuria bekannt. Die Früchte des Pavitra-Baums. Putzige Nagetiere, die Gofarsa genannt wurden und ausgesprochen zart und lecker schmeckten. Gebratener Pfau. Meeresschnecken. Dazu Gewürze, die so köstlich waren, dass sich Andreas in all den Jahren nach Lemuria zurückgesehnt hatte, auch wenn er mit dieser Welt innerlich abgeschlossen hatte. Jetzt konnte er sie endlich wieder probieren. Es gab Goldkrabben und gebratene Rotkorallen. Alles, was man sich nur vorstellen konnte, landete in der Küche. Mit zwei Ausnahmen: Lemuren und alles andere, was reden konnte, durfte unter keinen Umständen verzehrt werden. Und die andere Ausnahme waren Rinder, die in Lemuria als heilig galten.

Die Banketttafel war lang - etwa doppelt so lang wie Andreas’ Wohnung. Nicht nur die Königin und er hatten daran Platz genommen, sondern der gesamte Hofstaat und einige Gäste - Fürsten, Vasallen, die gerade bei Hof weilten. Einen Mann hatte die Königin nicht an ihrer Seite. Statt dessen hatte Andreas direkt neben ihr Platz genommen - allerdings nicht zu ihrer Linken, wo eigentlich nach lemurischer Tradition ihr Ehemann hätte sitzen müssen. Dieser Platz war demonstrativ leer geblieben. Andreas saß zu ihrer Rechten, an dem Platz, der traditionell dem Ehrengast vorbehalten war - und wenn es keinen Ehrengast als solchen gab, dann dem vornehmsten der übrigen Gäste - und das war in diesem Fall der Fürst von Tandula Bhumi, der Andreas direkt gegenüber saß.

“Nun zum Geschäftlichen”, sagte Königin Sundari. “Oder besser zu den Problemen, die unser Reich und vielleicht sogar unsere ganze Welt beschäftigen. Ich weiß nicht, ob Sie von der Sekte gehört haben, die Na’e Vykati.”

“Sie sollen in den Bergen wohnen und einen bösen Gott zum Leben erwecken”, sagte Andreas.

“Das stimmt”, entgegnete der Fürst. “Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wie Sie wissen, herrscht in Madhya Lemuria Religionsfreiheit. Jeder kann das glauben, was er will - und das wird auch reichlich ausgenutzt. Das liegt in unserer Kultur begründet. Wer von Anfang an an viele Götter glaubt, dem macht es nichts aus, wenn es mal ein paar mehr oder weniger sind - oder wenn eine Religionsgemeinschaft mal glaubt, sie müsste nur an einen Gott glauben. Das ist uns vollkommen egal. Aber es gibt eben Religionen, da hört der Spaß auf.”

“Was der Fürst sagt, ist vollkommen richtig”, sagte Königin Sundari. “Unsere Religion war von Anfang an in viele verschiedene Sekten und Konfessionen gespalten, die nur schwer unter einen Hut zu kriegen sind. Was ich aber nicht dulde, das sind Menschenopfer. Und was ich auch nicht dulde, ist, dass andere intelligente Lebewesen auf den Altären geopfert werden. Zwerge, Wichtel, Elben, Gnome, Trolle - sogar Orks, obwohl die das mieseste sind, was es auf der Götter weiter Erde gibt.”

“Ja, Orks sind richtig üble Burschen”, sagte Andreas. Er war ihnen schon mehrmals im Kampf gegenüber gestanden.

“Der Witz ist: Das tun die Na’e Vykati gar nicht”, fuhr Sundari fort. “Sie wollen es tun, aber haben es bisher noch nicht getan.”

Einige Lemuren kamen mit einem großen Tablett an und stellten es direkt vor der Königin auf den Tisch. Darauf war ein Spanferkel, das von gebratenen Tomaten umgeben war. Auch in seiner Schnauze steckte eine Tomate. Die Königin schnitt sich mit dem Messer ein Stück ab und legte es sich auf den Teller.

“Wo der Spaß auch aufhört, ist, wenn richtig finstere Mächte im Spiel sind”, sagte der Fürst. “Und ich rede nicht von der Göttin Kali. Diese Na’e Vykati legen es wirklich darauf an.”

“Sie glauben, dass es die Welt von Lemuria nicht wirklich gibt”, sagte die Königin. “Sie glauben, diese Welt ist eine Illusion - eine Phantasie, die dem Kopf eines Achtjährigen entsprungen ist.”

“Ich war acht Jahre alt, als ich das erste Mal hier war”, sagte Andreas.

“Wir wollen dir nicht zu nahe treten”, sagte der Fürst. “Aber du bist derjenige, den die Na’e Vykati für den Schöpfer dieser Welt halten. Du bist ihr Gott.”

“Ich dachte, die hätten einen anderen Gott, den sie beschwören wollen. Einen bösartigen Dämon.”

“Das stimmt”, sagte Sundari. “Und hier wird es kompliziert. Um es kurz zu machen: Sie wollen dich töten.”

“Mich töten? Und warum?”

“Sie glauben, dass die Schöpfung unabhängig von ihrem Gott existiert”, sagte der Fürst. “Wenn ein Dichter zum Beispiel stirbt, dann lebt sein Werk trotzdem weiter. Insofern kann eine Welt auch dann weiter leben, wenn ihr Gott tot ist. Aber sie glauben, dass diese Welt nur frei sein kann, wenn sie ihren Schöpfer töten.”

“Und deshalb beschwören sie diesen Dämon?”

“Nein. Ich sagte ja bereits, es wird kompliziert.”
Andreas sah die Königin verwirrt an. “Ich verstehe das nicht.”

“Es gibt viele Welten. Virtuelle Welten, Phantasiewelten, Parallelwelten... Allen diesen Welten ist eines gemeinsam: Für die Bewohner sind sie real. Aber für die Bewohner anderer Welten nicht unbedingt. Das zumindest ist der Glaube der Na’e Vykati. Was passiert mit einem Traum, wenn der Träumer erwacht?”

“Der Traum zerplatzt wie eine Seifenblase”, sagte Andreas.

“Ich glaube das, du glaubst das, und die Königin glaubt das”, sagte der Fürst. “Aber die Na’e Vykati glauben, dass der Traum weiter existiert und dass er vom Träumer frei ist. Sie können jetzt selbst den Traum weiter träumen und selbst bestimmen, wie der Traum weiter geht. Wenn Gott tot ist, wird der Mensch zum neuen Gott.”

“Außer, sie beschwören sich selber einen Gott”, sagte Andreas.

“Falsch”, entgegnete die Königin. “Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das eine ist Befreiung, das zweite ist der Griff nach der Weltherrschaft. Dieser Dämon, den sie beschwören, das ist keine Glaubensfrage. Den gibt es wirklich.”

Andreas nickte. In den rund acht Jahren, in denen er immer wieder nach Lemuria gereist war, hatte er so manchen Dämon getroffen. In seiner eigenen Welt mochte die Frage, ob es wirklich Dämonen gab, eine Glaubensfrage sein. Einige mochten daran glauben, andere nicht. Doch in Lemuria waren sie eine Tatsache, die selbstverständlich hingenommen wurde. Dämonen existierten wie Zwerge, Trolle oder Orks. Man konnte ihnen begegnen, und viele, die Pech hatten, wussten ein Lied davon zu singen.

“Ob sie dich zuerst töten und dann den Dämon beschwören, ob sie zuerst den Dämon beschwören und dich dann töten oder ob sie beides gleichzeitig erledigen, ist vollkommen egal”, sagte der Fürst. “Sie wollen beides tun. Das haben sie sich fest vorgenommen. Und wehe dem, der sich ihnen in den Weg stellt.”

“Aber wenn sie mich töten wollen”, fragte Andreas, “warum muss ich trotzdem diesen gefährlichen Job erledigen?”

“Weil du es kannst”, sagte Sundari. “Du und niemand sonst. Und weil du selber in Gefahr bist. Denn diese Sekte existiert auch in deiner Welt. Und sie werden dich finden, und sie werden dich töten. Wenn du hier bist, ist das für dich ein Vorteil. Du bist ein erfahrener Kämpfer. Du hast hier Fähigkeiten, die du in deiner eigenen Welt nicht hast. In deiner eigenen Welt bist du schwach und langsam und fällst trotz deiner Intelligenz leicht auf die Fallen anderer herein. Diese Fehler hast du hier nicht. Du kannst sie nur hier besiegen. In deiner eigenen Welt ist es sehr gefährlich.”

“Kann ich also von meiner Welt in diese herüber wechseln?”

Sundari schüttelte den Kopf. “Das wird nicht so einfach möglich sein. Du kannst es dir nicht aussuchen, wann du hier und wann du dort bist. Jetzt schläfst du in deiner eigenen Welt; deshalb bist du hier. Wenn du hier schläfst, ist es umgekehrt. Und bedenke, dass die Zeit hier anders verläuft, als in deiner Welt. Innerhalb einer einzigen Nacht können hier Tage vergehen.”

“Wie in Inception.”

“Was ist Inception?”

“Ach was, nicht so wichtig. Also, was habe ich in meiner Welt zu tun?”

“Das wissen wir nicht”, sagte der Fürst. “Wir kennen deine Welt nicht. Die Regeln dieser Welt sind uns fremd. Aber was du in unserer Welt zu tun hast, sagen wir dir gleich. Vorher noch eins: Das, was die Na’e Vykati glauben, ist nicht das, was wir glauben. Wir glauben nicht, dass du ein Gott bist. Und wir glauben auch nicht, dass du unsere Welt erschaffen hast. Die gab es schon vorher. Zumindest ich habe Erinnerungen an die Zeit davor. Wir haben unsere eigene Religion, unsere eigenen Götter. Du hast ganz besondere Kräfte. Aber das macht dich nicht zum Gott.”

“Dem kann ich nur zustimmen”, sagte Sundari. “Und jetzt zu deinen Aufgaben: Du wirst dich nach Mandira begeben und dir dort das Licht von Mandira holen. Es ist die einzige Waffe, mit der du den finsteren Dämon Sansarom Kanasa zerstören kannst. Das Licht von Mandira ist nämlich etwas ganz besonderes - es strahlt hell wie die Sonne - selbst in der Dunkelheit.”

“Das liegt an den Leuchtkristallen”, fuhr der Fürst fort. “Die Zwerge nennen sie den Samen der Sonne. Sie haben diese Kristalle vor unzähligen Zeiten unter der Erde entdeckt. Sie sehen auf dem ersten Blick aus wie gewöhnliche Kristalle. Aber zündet man sie an, brennen sie hell wie die Sonne - und das stundenlang. Deshalb bauen die Zwerge die Leuchtkristalle ab, um sie in ihren Grubenlampen zu verwenden. Das Licht, das so entsteht, hat eine ähnliche Wirkung wie Sonnenlicht. Es lässt sogar Trolle in Stein verwandeln.”

“Aber das Licht von Mandira zu holen, ist eine Herausforderung”, sagte Sundarin. “Die Priester gehören nicht zu meinem Königreich. Sie gehören zu keinem Königreich. Sie lassen sich von niemandem etwas sagen - außer von den Göttern selbst.”

“Ich nehme an, dass ich nicht zu ihrem Olymp gehöre.”

“So ist es. Ihre Götter existieren wirklich.”

“Glaube oder Tatsache?”

“Tatsache.”

“Au weia.”

“Du sagst es. Mit einem Gott legt man sich besser nicht an.”

“Sag das den Na’e Vykati.”

“Sag du das den Atheisten in deiner Welt.”

Andreas schwieg betreten. Er hatte in seinem Leben schon öfter mit dem Atheismus geliebäugelt. Derzeit war er weder Atheist, noch war er gläubig. Er betrachtete Atheisten und religiöse Menschen mit der gleichen Skepsis - insbesondere dann, wenn es sich um Missionare für die eine oder andere Seite handelte. Wer ihm seinen Glauben aufzwingen wollte - egal, wie er aussah -, der hatte von Anfang an verloren. Dieses Lemuria, diese Fantasiewelt, war für ihn nichts anderes als eine Reise, auf die ihn sein Unterbewusstsein schickte. Nichts weiter als ein Computer-Adventure im Kopf. Ein Spiel, eine Simulation, in die er sich als Kind zurückgezogen hatte, als ihm die Realität nichts mehr zu bieten hatte. Aber warum war er jetzt wieder hier? Hatte dieser Robert Jens die Erinnerungen daran wieder geweckt?

Andreas bugsierte eine mit Schweinehackfleisch gefüllte Aubergine auf seinen Teller. Er konnte deutlich den herzhaften, leicht fettigen Geschmack auf der Zunge spüren. Wenn er mit den Fingern über den Tisch fuhr, ertastete er die feine Maserung. Er hörte die Musik, die ein Zwergenorchester spielte. Er nahm die vielfältigen Gerüche exotischer Gewürze wahr. Alle seine Sinne meldeten ihm Details über Details. So etwas konnte kein Traum sein. Es war auf irgendeine Art und Weise real. Aber wie? Würde es seinen Tod bedeuten, wenn er auf einem Abenteuer in Lemuria starb? Oder würde er nur zu Hause in seinem Bett aufwachen?

“Aber wenn ich mich nicht mit Göttern anlegen soll”, sagte Andreas, “wie hole ich das Licht von Mandira?”

“Wer sagt, dass du dich mit Göttern anlegen sollst?” fragte Sundari. “Die Mehrheit der Götter ist auf unserer Seite.”

“Also, wo liegt da das Problem?”

“Pujari Raja heißt das Problem.”

“Noch ein Gott?”

“Ein Mensch. Ein Priester. Der Herr der Priester. Der König von Mandira, wenn man so will. Pujari Raja ist eigentlich nicht böse. Er ist auch nicht gut. Um genau zu sein: Er ist neutral. Aber er glaubt, dass das Ende der Welt gekommen ist, sobald das Licht aus Mandira verschwindet - ganz gleich, was die Götter sagen. Jeden Gott, der versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, sieht er als Lügner oder Betrüger oder als Trick finsterer Mächte an. Und die anderen Priester gehorchen ihm aufs Wort. Pujari Raja musst du besiegen - aber Vorsicht: Er beherrscht Hatya Kikala, eine uralte Kampfkunst.”

“In niederlemurischer Sprache heißt das die Kunst des Tötens”, ergänzte der Fürst, und Andreas erschauerte. Langsam glaubte er nicht mehr, dass sein Unterbewusstsein das alles erfunden hatte.

“Allerdings gibt es vielleicht einen Weg, Pujari Raja zu überzeugen”, sagte Sundari. “Was weißt du über unsere Religion?”

Andreas stammelte etwas von Brahma und Wischnu zusammen, doch Sundari lachte nur. “Nein, wir sind keine Hindus. Die lemurische Religion ist anders. Wir haben fünf Hauptgötter und unzählige Nebengötter. Da wäre Ithara, unser Hauptgott, der am ehesten euerm Gott entspricht. Er ist der Schöpfer des Himmels und der Erde. Der Himmel hat einen eigenen Gott, den Gott der Luft. Wir stellen ihn als weiße Taube dar. Sein Name ist Hava. Unsere Erdgöttin heißt Prittvi. Wir stellen sie immer als Mutter mit Kind dar. Das Kind ist ihr Sohn Pani, der Gott des Wassers, denn die Erde bringt Wasser hervor. Der Gott des Feuers heißt Aga, eine wilde Bestie mit Hörnern und einem Schwanz. Jeder dieser Götter hat ein Hauptheiligtum, und nach Aga, ins Hauptheiligtum des Gottes des Feuers musst du zuerst.”

“Aga liegt im Land der Feueranbeter - genau an der Stelle, an der erstmals ein Mensch Feuer gemacht hat”, ergänzte der Fürst. “Wir glauben, dass dieses Feuer immer noch brennt - auf der Tempelpyramide. Sollte es jemals verlöschen, werden alle Feuer dieser Welt verlöschen - und niemand wird wieder eins entfachen können.”

“Geh nach Aga”, sagte Sundari. “Hol dir ein Stück vom Feuer, geh dann nach Mandira und hol dir das Licht von Mandira, und dann geh ins Asamana-Taka-Gebirge und besiege die Na’e Vykati. Ist erst einmal der Samsaron Kanasa zum Leben erweckt, bedeutet das das Ende der Welt, so wie wir sie kennen. Das Finstere Zeitalter wird zurückkehren, und du bist der einzige, der es verhindern kann.”

“Dann werde ich es wohl tun müssen”, sagte Andreas.

“Du musst nicht”, entgegnete der Fürst.

“Aber wenn du es nicht tust, ist unser Schicksal besiegelt”, sagte Sundari. “Und deins auch: Denn die dunklen Mächte sind auch schon in Asaliduniya eingedrungen.” Asaliduniya nannten die Lemurier Andreas’ Welt.

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