Dienstag, 7. Mai 2013
00001011 - Thronfolge
Andreas lag in seinem Schlafgemach und starrte an die Decke. Es war keine gewöhnliche Decke, sondern ein Deckengemälde, das von einem Plattgoldrelief umschlossen war. Eigentlich sah es aus wie in einem Barockschloss - außer dass das Gemälde keine biblischen und keine griechisch-römischen Motive darstellte - sondern ein lemurianisches: Sapana, den Gott des Schlafes. Er stand dort, ein Jüngling mit braunen Locken, gekleidet in ein langes, purpurnes Gewand. Er hatte spitze Ohren und trug ein Füllhorn, aus dem allerlei bunte Bilder purzelten: Bilder von Einhörnern, von Zwergen, Elfen, Gnomen, Wäldern, Elefanten, auch Orks - von allem etwas.

Andreas konnte nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her, als es plötzlich an die Tür klopfte.

“Herein”, sagte er.

Ein Lemure betrat das Schlafzimmer, und sein schwarz-weiß gestreifter Schwanz wedelte lustig hinter ihm. Es war Pacasa. “Verzeihen Sie, Srimana”, sagte er. “Aber die Königin wünscht Sie zu sprechen.
Ich soll Sie zu ihr führen.”

“Die Königin. Warte nur, ich hole mal kurz was zum Anziehen.”

“Das wird nicht nötig sein. Die Königin wünscht Sie so zu sehen, wie Sie sind.”

Um nicht nur im Pyjama durch den Palast zu gehen, zog sich Andreas schnell einen Morgenmantel über, schlüpfte in seine Pantoffeln, und schon waren sie draußen auf dem Flur.

Draußen war es kalt, und es wehte ein kühler Wind. Doch zum Glück mussten sie nicht allzu weit laufen. Nur den Korridor entlang und eine Treppe nach oben. Elektrisches Licht gab es in Lemuria nicht, und so musste Pacasa mit einer Kerze Andreas den Weg leuchten. Draußen schien der Vollmond und tauchte den Korridor in ein milchiges Licht. Klar, es war etwas düster und unheimlich, und Andreas wusste, dass in diesem Palast auch einige Geister spukten. So wie Dämonen waren auch Geister in dieser Welt keine Glaubensfrage, sondern eine Tatsache, mit der manche Leute etwas allzu selbstverständlich umgingen. Aber Andreas und Pacasa hatten Glück, und es begegnete ihnen keiner der ehemaligen Könige, die als Porträts an den Wänden verewigt waren. Der ganze Palast schien zu schlafen - und das galt nicht nur für die Menschen, sondern für alles, was darin lebte und mit ausreichend Intelligenz ausgestattet war, um zu stören oder sich gestört zu fühlen.

Am Schlafzimmer der Königin angekommen klopfte Pacasa an die Tür. “Er ist hier, Mahima!” sagte er.
“Schick ihn rein und verschwinde”, ertönte es von drinnen.

Andreas betrat den Raum. Er war groß - größer als die Wohnung in seiner Welt. Im Schlafzimmer der Königin war Andreas noch nie gewesen, da Sundari bei seinem letzten Aufenthalt noch Prinzessin gewesen war. Und es war nicht nur ein Schlafzimmer. Das Bett stand in der Mitte des Raumes, und es war ein Himmelbett von der Größe eines ganzen Zimmers. Sanfte, weiß-durchsichtige Seidenschleier hingen vom Baldachin herab bis zur Bettdecke, auf der zahlreiche Kissen lagen. Auf dem Bett aber saß die Königin und schaute zu Andreas herüber. Sie lächelte. Dann schob sie die Schleier beiseite, stand auf und blieb schließlich direkt vor Andreas stehen. Das einzige Kleidungsstück, das sie trug, war ein hauchdünnes Nachthemd, das ihren ganzen Körper umhüllte, wenn es zugeknöpft war. Aber es war nicht zugeknöpft, und so konnte Andreas alles sehen: Ihre Brüste, die für ihr Alter noch enorm fest aussahen. Ihren Bauch, dessen Muskeln Andreas die Schamesröte ins Gesicht trieben, denn er sah längst nicht so gut aus. Naja, jedenfalls nicht in seiner eigenen Welt. Die schlanken, langen Beine. Und dazwischen das dunkle Dreieck in ihrem Schritt, das an den Rändern rasiert und insgesamt leicht gestutzt war.

Andreas wagte kaum zu atmen. Ihre Schönheit erinnerte ihn an alte Marmorskulpturen griechischer Göttinnen. Sie war perfekt - als hätte ein italienischer Meister sie aus Holz geschnitzt und mit einem leichten, durchsichtigen Seidentuch bedeckt.
Sie ließ das Nachthemd auf den Boden fallen und stand jetzt komplett nackt vor ihm. Dann umarmte sie ihn, schmiegte sich an ihn wie eine Katze.

“Du warst lange fort”, sagte sie. Mehr ein Flüstern. “Warum?”

Andreas wusste keine rechte Antwort. Es war seine Entscheidung gewesen, Lemuria für immer zu verlassen. Er hatte einen Schlussstrich ziehen wollen, ein neues Leben anfangen. Ein Leben, in dem er ernst genommen werden konnte, in dem er normal sein konnte - wie jeder andere auch. Ein Leben als Erwachsener. Ausflüge in eine Fantasiewelt hatten da keinen Platz. Er hatte einfach entschieden, nicht mehr nach Lemuria zu reisen, und dann hatte es geklappt. Nie wieder war er dort aufgewacht. Natürlich hatte er auch weiterhin geträumt, und er war auch in ferne Länder gereist. Aber er wollte sein Leben in seiner wirklichen Welt verbringen.

“Du hast es versprochen. Du hast versprochen, dass wir heiraten”, sagte Sundari. “Warum hast du mich allein gelassen?”

“Ich habe mein altes Leben zerschmettert”, sagte Andreas.

Das stimmte. An seinem letzten Tag in der zehnten Klasse, am letzten Tag, an dem er mit seiner alten Klasse und auch mit Robert Jens zusammen war, waren sie mit einem Klassenprojekt in den Werkräumen beschäftigt gewesen. Sie sollten Fachwerkhäuser bauen. Andreas kam mit seinen beiden linken Händen überhaupt nicht zurecht und war ständig am Fluchen. Eine Wut hatte sich in ihm aufgestaut, als ein Kunstlehrer plötzlich den Raum betrat und sagte: “Ich brauche Leute, die Tonwaren zerschmettern.”
Sofort war Andreas mit dabei. Es waren getöpferte Kunstwerke anderer Klassen. Kunstwerke, die kein Schüler mehr abgeholt hatte. Und jetzt wurden sie zerstört. Kleine Töpfe und Gefäße, auch Figuren und Figuretten. Ab in den Müllcontainer damit! Auf der einen Seite tat es ihm Leid um die kleinen Kunstwerke. Aber auf der anderen Seite wuchs seine Zerstörungswut. Ein Kunstwerk nach dem anderen landete mit heftiger Wucht an der Wand des Containers oder auf den ganzen anderen Töpferwaren. Es zersplitterte längst nicht so gut wie Glas, aber es fühlte sich gut an. Den ganzen Frust von zehn Schuljahren konnte er endlich los werden. Und so zerschmetterte auch sein bisheriges Leben. Er wollte neu anfangen. Von vorne. So sein wie die anderen. Nicht ihr Prügelknabe und Sündenbock. Nicht derjenige, der in der Pause immer im Mülleimer landete, dessen Stifte, Mützen und Regenschirme ständig geklaut wurden, wenn er sie nicht irgendwo vergaß. Nein, das Leben war vorbei. Und auch Lemuria war vorbei. Mit jedem Tonkrug, der im Container landete, vergrub er es. Er wollte Frauen kennen lernen, mit ihnen Sex haben, Partys feiern. Schepper! Er wollte so sein wie die anderen auch. Krach! Das alles endlich hinter sich lassen. Bum! Und so zerbrach Stück für Stück sein bisheriges Leben. Und als eine kleine Figur, die ihm in die Hände fiel, genauso aussah wie Prinzessin Sundari, schmetterte er sie besonders genüsslich in den Container. Mit Sundari hatte er seinen ersten Kuss, seinen ersten Sex. Aber jetzt wollte er echte Frauen haben, die wirklich existierten. In seiner eigenen Welt.

“Ich habe auf dich gewartet”, sagte Sundari. “Zwanzig Jahre lang. Du wolltest mich heiraten, aber jetzt ist es fast zu spät.” Sie weinte fast. “Du hast es versprochen!”

Er nahm sie in den Arm. “Es tut mir Leid, Sundari”, sagte er. “Ich hätte nicht gedacht, dass du so lange wartest. Ich habe gedacht, du heiratest jemand anderes.”

“Ich wollte nie jemand anderes haben. Ich wollte immer nur dich.”

Andreas schien das alles sehr unrealistisch. Es widersprach sämtlichen Erfahrungen, die er in den vergangenen zwanzig Jahren gemacht hatte. Frauen warteten nicht. Jedenfalls nicht für gewöhnlich. Bis er gemerkt hatte, dass sich eine Frau für ihn interessierte, hatte sie sich schon längst einen anderen geholt. Ein Wochenende reichte, und sie war weg.

“Bitte verzeih mir”, sagte er. “Aber diese Welt war für mich nicht real. Als ich mich entschlossen habe, sie zu verlassen, habe ich nicht damit gerechnet, dass es dich weiterhin gibt. Ich habe geglaubt, dass ich diese Welt erschaffen habe und dass es sie nicht wirklich gibt und dass sie verschwindet, sobald ich sie nicht mehr besuche.”

“Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht das ist, was ich glaube”, entgegnete Sundari. “Hältst du mich denn jetzt für real?”

Wieder wusste Andreas einen Augenblick lang nicht, was er sagen sollte. Er hatte es sich nicht ausgesucht, in diese Welt zurückzukehren. Sie hatte ihn gerufen. Aber nach wie vor hielt er das alles für ein Hirngespinst. Lemuria und Sundari - das gab es nicht wirklich. Dennoch zog es Andreas vor zu lügen:

“Ich habe geglaubt, das hier wäre nicht real. Aber du hast mich eines besseren belehrt.”

“Das ist sehr schön.” Sie küsste ihn, und er spürte ihre Zunge in seinem Mund. Ihre Brüste richteten sich auf, und das selbe konnte man von seinem besten Freund im Unterleib sagen.

Dann löste sie sich von ihm und schaute ihn mit ihren dunkelbraunen, beinahe schwarzen Augen an. “Da wäre noch etwas: Wie du weißt, habe ich nie geheiratet. Und wie du weißt, habe ich deswegen auch keinen Thronfolger. Mein Vater ist tot und hat mir dieses Königreich hinterlassen. Meine Schwester hat den König von Purvi Lemuria geheiratet. Wenn ich ohne Thronfolger sterbe, dann wird mein Königreich untergehen, und es wird an Purvi Lemuria fallen. Das ganze Reich sehnt sich nach einem Thronfolger, und ich kann es ihm nicht geben. Ich bin ja noch nicht einmal verheiratet.”

“Du willst mich heiraten?”

Sie lächelte. “Wenn du magst. Ansonsten gäbe es aber noch eine andere Lösung.”

“Welche?”

“Ich will, dass du mir heute einen Thronfolger zeugst - oder eine Thronfolgerin. Egal. Beides ist möglich. Hauptsache, jemand, der das Reich erben kann. Die Nacht ist günstig. Es kann heute geschehen. Und die Prophezeiung sagt, es wird heute geschehen, sofern wir es heute Nacht tun.”

“Aber du bist nicht verheiratet. Wie kann ich dir einen legitimen Erben zeugen?”

“Ich bin die Königin von Madhya Lemuria. Mir werden die Leute glauben, wenn ich ihnen sage, dass es eine Jungfrauengeburt ist, dass ein Gott mein Kind gezeugt hat.”

“Also bin ich doch ein Gott?”

“Möglich. Aber ich glaube nicht daran. Aber der Gedanke ist durchaus reizvoll, mit einem Gott die Nacht zu verbringen.”

“Und ich finde es reizvoll, mit einer Königin die Nacht zu verbringen.”

“Es ist für uns beide nicht das erste Mal”, sagte sie. “Also, worauf warten wir noch?”

Sie küssten sich lang und leidenschaftlich, und dann warf er sie durch die seidenen Schleier auf das Bett. Sie wälzten sich in den weichen Kissen, während der Vollmond durch das offene Fenster sein milchiges Licht in das Schlafgemach warf. Sie liebten sich nicht nur einmal - ein Gott und eine Königin im Rausch der Sinne vereint. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren spürte Andreas wieder dieses kribbelnde, ekstatische Gefühl von damals. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren verfiel er dem Rausch der wahren Liebe. Diese Königin mochte ein Hirngespinst sein oder nicht: die Gefühle waren echt und blieben es.

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