Sonntag, 19. Mai 2013
00010111 - Schrödingers Katze
Wieder ein neues Dia. Diesmal Roberts widerliche Visage - zusammengesetzt aus Nullen und Einsen.

“Kommen wir von unserer Welt aus Atomen wieder zurück in die Welt aus Nullen und Einsen”, sagte Robert. “Wenn jemand tatsächlich auf die Idee kommt, eine Matrix zu programmieren, wie geht er da vor? Natürlich muss er das ganze ökonomisch programmieren. Das heißt also, keine Datenverschwendung, sondern immer auf den Punkt. Nur das soll der Nutzer sehen, was er auch wahrnehmen kann.”

Wieder änderte sich das Bild. Diesmal waren die drei Grundfarben zu sehen: Rot, grün und blau - jede durch einen Kreis dargestellt. Dort, wo sich die Kreise überlagerten, entstanden andere Farben. Rot und blau beispielsweise bildeten die Farbe violett, rot und grün die Farbe gelb. In der Mitte, wo alle Farben aufeinander trafen, war die Farbe weiß, und der Hintergrund, auf dem die Farben abgebildet waren, war schwarz.

“Wie entstehen denn aus den Nullen und Einsen unsere virtuellen Welten? Durch Codierung. Bei Bildern sind es beispielsweise die Rot-, die Grün und die Blau-Werte. Rot, grün und blau sind die Grundfarben. Es gibt rotes, grünes und blaues Licht und alle anderen Farben entstehen aus Mischungen. Wenn zum Beispiel kein Licht da ist, ist es schwarz. Wenn alle Lichter gleich intensiv strahlen, ist es weiß. Die Farbwerte lassen sich also in rot, grün und blau codieren - und zwar im Hexadezimalsystem.”

Das nächste Bild zeigte verschiedene Farben und dazu jeweils ein sechsstelliger Code aus Zahlen und Buchstaben.

“Das Hexadezimalsystem funktioniert ähnlich wie unser Zehnersystem”, sagte Robert. “Wir zählen von 1 bis 9. Nur nach 9 geht es nicht mit 10 weiter, sondern mit A. Erst wenn wir F erreicht haben, kommt 10. Somit haben wir nicht zehn, sondern 16 verschieden Ziffern. Mit einem zweistelligen Code können wir also 16 x 16, insgesamt 256 verschiedene Werte kodieren. Wir haben aber einen sechsstelligen Code. Die ersten beiden Stellen stehen für die Rot-Werte, dann kommen die Grün-Werte und dann die Blau-Werte. FF0000 steht also für sattes Rot. Nur Nullen hieße Schwarz, nur F hieße weiß und so weiter. Somit stehen uns 256³ verschiedene Farben zur Verfügung. Macht insgesamt mehr als 16 Millionen. Und jede Hexadezimalzahl lässt sich natürlich auch in Nullen und Einsen ausdrücken. Ein Byte ist eine Zeichenkette von acht Bit, also acht Nullen und Einsen. Damit lassen sich 256 verschiedene Codes bilden. Genau wie bei zwei Hexadezimalstellen. Mit drei Bytes haben wir also einen Farbton definiert. Und somit haben wir einen Bildpunkt, ein Pixel. Ein Bild ist aus mehreren Pixeln aufgebaut. Je mehr Pixel, desto größer ist die Datengröße, aber desto schärfer ist auch das Bild. Haben wir 24 Bilder in der Sekunde, so haben wir ein Video. Hinzu kommt noch der Ton, der extra kodiert wird. Somit lässt sich aus Nullen und Einsen eine ganze virtuelle Welt generieren.”

Wieder ein neues Bild an der Leinwand. Diesmal etwas, das Andreas auf Anhieb erkannte, wovon er aber schätzte, dass viele damit Probleme hatten. Es war ein Ausschnitt aus einem Audio-Schnittprogramm am Computer, und es zeigte - grün auf schwarzem Grund - das aus Bergen und Tälern bestehende Muster, das ein Musikstück darstellte.

“So weit, so gut”, sagte Robert. “Nur: Unsere Datei wird viel zu groß. Wir sind im Internet. Wir sind in den neunziger Jahren. Die Datenübertragungsgeschwindigkeit ist alles andere als schnell. Wir sind darauf angewiesen, die Dateien kleiner zu machen, damit wir sie ohne Probleme im Internet verschicken können. Bislang gab es BMP-Dateien für Bilder, WAV-Dateien für Musik. Die Dateien sind viel zu groß, und es dauert ewig, sie zu verschicken. Was tun wir also? Wir komprimieren. Komprimieren heißt nicht nur verkleinern, Komprimieren heißt: Beschränken auf das Nötigste. Und das Nötigste heißt: Wir schmeißen einfach alles raus, was wir sowieso nicht brauchen. Nach diesem Prinzip funktioniert MP3. Wozu brauchen wir Töne, die sowieso kein Mensch hören kann, weil sie von anderen Tönen überlagert werden? Nichts anderes ist MP3. Wir konzentrieren uns auf das, was Menschen wahrnehmen können und schmeißen alles andere raus. So ähnlich funktioniert JPG. Alles, was kein Mensch wahrnehmen kann, verschwindet. Wenn also jemand eine künstliche Welt erschafft, warum sollte er nicht genauso vorgehen?”

Das nächste Dia: Ein hübsch eingerichtetes Wohnzimmer wie aus einem Ikea-Katalog. Andreas musste grinsen.

Robert fuhr fort: “Wenn Sie früh am Morgen Ihre Wohnung verlassen und abschließen, so dass kein Mensch rein kann, woher wissen Sie, dass in diesem Moment Ihre Wohnung noch existiert? Wäre es nicht viel ökonomischer, nur die Teile der Welt zu generieren, die auch wahrgenommen werden können? Wozu brauchen wir eine Galaxis von Milliarden von Welten, wenn die Illusion davon schon ausreicht?”

Ein weiteres Mal wechselte das Dia. Jetzt flimmerte ein Bild über die Leinwand, das Andreas schon mal gesehen hatte: Das Doppelspaltexperiment, an dem eine Kamera an einem der beiden Spalte angebracht war.

“Wissen Sie, worauf ich hinaus will? Es geht um Beobachtung. Ein Elektron verhält sich anders, wenn es beobachtet wird, als wenn es nicht beobachtet wird. Es ist eben nicht egal, ob etwas beobachtet wird oder nicht. Denn das, was nicht beobachtet wird, spielt in unserer Welt keine Rolle. Es existiert einfach nicht.”

Andreas blickte grinsend zu der jungen Frau neben ihm. Im gleichen Moment blickte sie ihn auch an und grinste ebenfalls. Andreas’ Herz schlug schneller, und er bekam feuchte Hände. Sie war wirklich süß. Vielleicht sollte er etwas zu ihr sagen, doch er wusste nicht, was. Plötzlich hatte er einen Einfall. Er beugte sich an ihr Ohr und flüsterte: “Wetten, als nächstes kommt Schrödingers Katze?”

Sie kicherte.

Auf der Leinwand war inzwischen das Bild eines offenen Kühlschranks zu sehen. Gut gefüllt mit Wurst und allerlei Käse. Auch die obligatorische Sardinenbüchse durfte nicht fehlen.

Robert fuhr fort: “Wenn der Kühlschrank zu ist, brennt darin Licht? Jetzt werden viele von Ihnen sagen: Natürlich brennt dann kein Licht. Aber woher wissen Sie das? Sie können ja in den Kühlschrank nicht reinschauen. Ich wollte das auch wissen und habe eine Kamera in den Kühlschrank gestellt, und tatsächlich: Wenn der Kühlschrank zu ist, brennt kein Licht. Aber ist das auch wirklich so? Oder ist es nur so, weil ich eine Kamera reingestellt habe?”

“Wette verloren”, flüsterte das blonde Mädchen.

“Warte es ab”, sagte Andreas. “Es kommt gleich.”

“Machen wir ein kleines Gedankenexperiment. Ich betone: GEDANKENexperiment. Nicht dass mir jetzt jemand die Tierschützer auf den Hals hetzt, denn es geht um Schrödingers Katze.”
“Bingo”, flüsterte Andreas, und Robert fuhr fort: “Erwin Schrödinger, Physiker der Quantenmechanik. Das sind genau die Leute, die zu erklären versuchen, warum sich die Elektronen in diesem Doppelspaltexperiment so merkwürdig verhalten.”

Schon war die Diashow auf der Leinwand weitergegangen. Jetzt zeigte sie den Versuchsaufbau des Gedankenexperiments: Eine Katze in einer Kiste, daneben so etwas, das wie ein Geigerzähler aussah und daneben ein Behältnis mit dem aufgemalten Radioaktiv-Zeichen.

“Das Experiment geht folgendermaßen: Wir packen eine Katze in eine Kiste. Zu dieser Katze stellen wir einen Atomkern, der irgendwann demnächst zerfallen wird. Wann das sein wird, wissen wir nicht. Das ist quasi wie ein Zufallsgenerator. Was wir aber wissen, ist: Sobald der Atomkern zerfällt, setzt er Radioaktivität frei. Diese Radioaktivität kann man messen mit einem Geigerzähler. Schlägt der Geigerzähler aus, lassen wir Gift freisetzen, das die Katze tötet. Also, sobald der Atomkern zerfallen ist, ist die Katze tot.”

Und wieder erschien das Bild vom Doppelspaltexperiment auf der Leinwand. Andreas gähnte, während Robert fortfuhr: “Jetzt haben in der Zwischenzeit die Physiker unser Doppelspaltexperiment interpretiert: Sie erinnern sich: Die Elektronen verursachen ein Wellenmuster, das vermutlich durch Überlagerung entsteht. Kommt ein Beobachter dazu, kollabiert diese Wellenfunktion, und die Elektronen verhalten sich ganz normal wie Teilchen. Genau das geschieht hier auch.”

Irgendwo nieste jemand. Das Dia mit dem Versuchsaufbau von Schrödingers Katze erschien wieder.

“Im Atomkern kommt es zu einer Überlagerung von ‘bereits zerfallen’ und ‘noch nicht zerfallen’. Diese Überlagerung überträgt sich auf die Katze. Sie ist tot und lebendig zur gleichen Zeit. Beide Zustände überlagern sich. Sobald wir die Kiste öffnen, beobachten wir, und die Wellenfunktion kollabiert. Das heißt, wir sehen, dass die Katze tot ist. So lange die Kiste aber geschlossen ist, wissen wir nicht: Ist die Katze tot, lebt sie noch oder ist sie vielleicht beides zugleich?”

“Hast du schon mal was von ihm gelesen?” flüsterte die blonde Frau.

“Nein. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen.”

“Ernsthaft?”

“Ja, ernsthaft.”

“Und, wie war er so?”

Andreas konnte nicht lügen. Jedenfalls hielt er nicht viel davon. Deshalb sagte er: “Er war ein Arschloch!”

“Oh!” sagte die Blonde und widmete sich wieder ganz dem Vortrag.

“Wir müssen am Ende daraus schließen: Alles, was wir nicht beobachten oder messen können, existiert nicht. Sobald wir etwas beobachten oder messen, existiert es. Das nennt man Komprimierung. Nur das existiert, was zu diesem Zeitpunkt auch gebraucht wird. Der Computer macht es doch auch so. In einem Rollenspiel-Adventure sehen Sie doch auch immer nur das Bild, in dem Sie gerade sind - und nicht alle Bilder auf einmal.”

Das Dia wechselte wieder. Jetzt war nichts anderes zu sehen als ein Haufen Bücher.

“Schauen Sie sich ein Buch an. Das ist pure Magie. Nur aus Buchstaben und Worten entstehen Texte und Sinnzusammenhänge - ganze Geschichten, ja, ganze Welten. Aber existieren sie auch, wenn sie niemand liest? Wenn die Bücher einfach nur im Regal stehen? Existieren dann überhaupt die Buchstaben? Oder sind sie wegkomprimiert? Allein durch unsere Beobachtung nehmen wir Einfluss auf die Welt, und wir nehmen das wahr, was wir sehen sollen.”

Jetzt war wieder das erste Bild zu sehen - Neo in der Matrix. Der Kreis schien sich zu schließen.

“Wir sind jetzt dem Matrix-Code schon ein schönes Stück näher gekommen. Wir wissen jetzt, die Welt besteht aus Protonen, Neutronen und Elektronen. Und wir wissen, dass Elektronen höchst merkwürdige Dinger sind. Und wir wissen, dass der Beobachter Einfluss nimmt auf die Welt. Das bisher ist Basiswissen, das Ihnen jeder Naturwissenschaftler bestätigen würde. Aber jetzt verlassen wir den Bereich der Naturwissenschaften. Jetzt gehen wir eine Stufe weiter. Und da wollen wir wieder die Welt der Computer bemühen.”

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