Dienstag, 14. Mai 2013
00010010 - Unter der Dusche
Es war wieder Sportunterricht - die neunzig Minuten in der Woche, bei denen Andreas froh war, wenn er sie hinter sich hatte. Wenn er dann nach dem Sportunterricht den Heimweg antrat, freute er sich, weil es wieder eine ganze Woche war - inklusive Wochenende - bis zur nächsten Sportstunde.
Es gab kein Schulfach, in dem seine Leistungen so katastrophal waren wie in Sport. Nicht nur dass Andreas ungeschickt war, seine Kraft war der seiner Klassenkameraden um Längen unterlegen, seine Beweglichkeit ebenso, und seine Ausdauer reichte nicht einmal für fünf Minuten - geschweige denn für zwölf. So lange sollten sie aber laufen. Immer rund um den Sportplatz. Cooper-Test nannte sich das. Und immer, wenn das auf dem Lehrplan stand, war Andreas hinterher nicht nur kaputt. Er hatte auch höllische Kopfschmerzen. Japsend rannte er den anderen hinterher, jeder Schritt eine Qual - begleitet von der Frage: Wann hört das endlich auf? Andreas konnte nicht verstehen, dass andere Leute am Sport Vergnügen fanden. Machte es ihnen Spaß, sich zu quälen? Offenbar ja, aber es waren diese Leute, die nicht verstehen konnten, dass sich Andreas zu Hause den ganzen Tag mit seinen Büchern beschäftigte. So hatte halt jeder das, was ihm Spaß machte.

Doch schlimmer als der Sportunterricht selber war das anschließende Duschen und Umziehen. Denn dann waren sie alle unbeaufsichtigt und konnten ihn herum schubsen - oft im wahrsten Sinne des Wortes.
So war es auch wieder an diesem Donnerstag im Spätherbst, als Andreas - wie immer als letztes - vom Sport in die Kabine kam. Die anderen standen schon unter den Duschen. Er hörte das Wasser rauschen, und die Kabine selbst war leer. Selbst seine Sachen waren da nicht mehr. Statt dessen hatte sich auf seinem Platz - direkt am Eingang, am Rand, möglichst weit von den anderen weg - Robert breit gemacht. Dort hing seine Jeans, dort hing sein Muscle Shirt, dort hing seine Jeansjacke. Andreas’ Sachen dagegen waren weg.

Andreas ging in die Duschen, wollte die anderen fragen, ob sie sie gesehen hätten. Zum Glück waren nicht alle wie Robert. Manche waren - zumindest ab und zu mal - hilfsbereit. Doch er brauchte nicht zu fragen, denn er entdeckte sie: Sie lagen auf den weißen Kacheln unter einer leeren Dusche, und die Wasserstrahlen durchnässten sie unaufhörlich. Seine Jeans, sein frisches T-Shirt, sein Pullover - sogar seine Schuhe. Alles war nass wie ein voller Schwamm.

Schon waren die Kleidungsstücke mit Wasser vollgesaugt, so dass sie keine Flüssigkeit mehr aufnehmen konnten.

“Hallo, Andi”, sagte Robert übertrieben freundlich und grinste. “Wir haben schon mal eine Dusche für dich reserviert. Du warst ja nicht da, da haben wir deine Kleider benutzt.”

Die anderen lachten. Andreas schwieg. Was hätte er auch sagen können? Wenn er sagte, was er dachte, würden die anderen es sicherlich als Provokation auffassen und es noch schlimmer mit ihm treiben. Er beschloss, keine Gefühle zu zeigen. Das war kontraproduktiv. Am besten ignorierte er die Situation. Das würde die anderen langweilen. Aber er irrte sich. Die anderen wollten offenbar sehen, was passiert, wenn sie seine kompletten Kleider unbrauchbar machten. Denn bevor Andreas überhaupt wusste, was los war, war Robert schon zu ihm gegangen, hatte seinen Arm gegriffen, ihn in den Polizeigriff genommen und ihn unter die Dusche gestellt. Andreas hatte sich noch nicht einmal ausgezogen, bevor er die Dusche betreten hatte. Ein großer Fehler. Aber selbst wenn er es getan hätte: Es hätte ihn nur jemand festhalten müssen, ein anderer hätte in die Umkleidekabine gehen müssen, um seine Sachen zu holen, und schon wären sie in der Dusche gelandet. So aber spürte er, wie nicht nur seine Haare nass wurden, sondern wie auch seine Kleidung anfing, am Körper zu kleben. Nass und schwer hing sein T-Shirt herab - ebenso nass und schwer seine lange Trainingshose.

Robert ließ ihn los. Er hatte jetzt sein Ziel erreicht. Andreas hatte überhaupt nichts trockenes mehr zum Anziehen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich seiner Sachen zu entledigen und nackt in der Kabine zu bleiben. Wäre es Hochsommer gewesen, er hätte die nassen Sachen angezogen und wäre nach draußen gegangen. Es war aber kein Hochsommer. Es war Spätherbst. Draußen waren die Blätter schon gefallen, und in der Nacht hatte es Frost gegeben. Bei diesem Wetter konnte er unmöglich mit nasser Kleidung nach draußen.

Hätte er damals schon ein Handy gehabt, er hätte zu Hause angerufen und seine Mutter gebeten, ihm trockene Sachen vorbei zu bringen. Aber es war 1987, und Handys gab es zwar schon, aber Schüler konnten sie sich noch nicht leisten. Andreas hatte sein erstes Handy erst, als er an der Uni war.

Also was machen? Ihm blieb nur eine einzige Möglichkeit: Warten. Nur worauf? Dass die Kleidung trocknete? So lange konnte er die Kabine nicht verlassen. Wie lange dauerte es, bis Kleidung trocknete? Zwei Stunden? Drei? Seine Mutter hatte die Wäsche wesentlich länger auf der Leine. Es würde also lange dauern. Und was das schlimmste war: In die Umkleidekabine wollten nachher auch andere Klassen. Die Sporthalle war den ganzen Nachmittag belegt. Es gab zig Klassen, die hier Sport trieben, und nach den Klassen kamen die ganzen Sport-AGs und die Schulmannschaften. Handball, Basketball, Volleyball - und am Abend die Vereine. Und er würde die ganze Zeit hier in der Umkleidekabine sitzen - nackt, wie er geboren war - und darauf warten, dass seine Kleider trockneten.

Die anderen waren mittlerweile angezogen, und die ersten hatten die Umkleidekabine verlassen - natürlich nicht, ohne sich vorher höhnisch von ihm zu verabschieden. Am Ende blieben noch fünf übrig. Christian war einer von ihnen. Andreas wusste nie, wie er Christian einzuschätzen hatte. Wenn es darum geht, ihn zu ärgern, war Christian gerne mit dabei, doch wenn die anderen zu weit gingen, fing er an, sie zu bremsen und Andreas in Schutz zu nehmen. Oft hatte sich Christian als hilfsbereit erwiesen, hatte ihm Schreibzeug ausgeliehen, wenn er seines - was oft vorkam - zu Hause vergessen hatte. Oder wenn die anderen zu weit gegangen waren und Andreas mit den Folgen ihres Tuns allein ließen - wie zum Beispiel jetzt.

“Und was machst du jetzt?” fragte Christian.

“Was wird er jetzt machen?” fragte Robert. “Es gibt nur drei Möglichkeiten: Entweder er bleibt hier, oder er geht mit nassen Klamotten raus, oder er geht nackt raus.”

“Wir sollten zu Herrn Hartmann gehen”, sagte Christian. Herr Hartmann, Peter Hartmann, war der Sportlehrer.

“Nee, lass den das mal alleine lösen. Bin mal gespannt, wie er das macht”, entgegnete Robert.

“Er kann ja gar nichts machen ohne unsere Hilfe”, sagte Christian.

“Kann er nicht? Schauen wir doch einfach mal.”

“Was soll er denn tun?”

“Ich will, dass er nackt nach draußen geht, während die Mädchen draußen sind.”

“Da kannst du lang warten”, sagte Andreas.

“Was willst du machen? Dein nasses Zeug anziehen? Es kommt gleich die andere Klasse.”

“Ja, und die wird zu Herrn Hartmann gehen”, sagte Christian. “Lange kann das hier nicht so bleiben. Also, ich gehe jetzt.”

Robert ging auf Andreas zu und schlug ihm unangekündigt in den Magen. “Könntest mal abnehmen”, sagte er.

Andreas sank zu Boden und krümmte sich vor Schmerz. Doch zum Glück hielt er nicht lang an, und so konnte er wieder aufstehen und sich auf die Bank setzen.

Inzwischen hatte sich die Umkleidekabine weiter geleert. Die anderen hatte das alles nicht gejuckt. Sie freuten sich jetzt auf das warme Mittagessen zu Hause bei ihren Müttern. Die Lust an der Show war ihnen vergangen, und unterstützen wollten sie Andreas auch nicht so richtig. Jetzt waren nur noch Robert und Andreas alleine da.

“Warum bist du immer so gemein?” fragte Andreas,

“Warum bist du immer so behindert?” äffte ihn Robert nach. Und er fügte hinzu: “Du bist anders als die anderen. Du hältst dich für was besseres. Keiner mag dich. Also dann: Bis morgen.”

Er verließ die Umkleidekabine und ließ Andreas alleine zurück. Nackt saß er auf der Bank, als plötzlich Sathi vor ihm erschien.

“Ach, du Schande”, sagte er. “Was ist denn hier passiert?”

“Die anderen ärgern mich immer. Jetzt haben sie alle meine Kleider nass gemacht, und ich kann sie nicht anziehen, und raus kann ich auch nicht.”

“Dumme Sache. Warum wehrst du dich nicht gegen sie? Mit Orks wirst du doch auch fertig.”

“Das ist was anderes.”

“Aber du kannst doch nicht einfach aufgeben. In Lemuria tust du es doch auch nicht.”

“Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Nackt nach draußen? Kannst du nicht was für mich tun? Du bist doch ein Wichtel. Du hast doch magische Kräfte. Kannst du nicht meine Kleidung trocknen.”

“Tut mir Leid”, sagte Sathi. “Das kann ich nicht. Magie funktioniert in deiner Welt nicht.”

“Scheiß Welt”, sagte Andreas. “Bitte, hilf mir, Sathi.”

“Was soll ich tun?”

“Warum bist du hier überhaupt aufgetaucht?”

“Damit du jemand zum Reden hast.”

“Also, worüber wollen wir reden?”

“Tu was. Mach Kampftraining. Kung Fu. Irgend so was in der Richtung. Lerne, wie du den anderen die Fresse polieren kannst. Wenn du es in unserer Welt geschafft hast, kriegst du es in deiner auch hin. Vielleicht härteres Training.”

“Quatsch. Du siehst doch, wie ich in Sport abkacke. Meinst du, es wird besser, bloß weil ich plötzlich einen Trainer habe? Der macht doch auch nichts anderes als Herr Hartmann.”

“Herr Hartmann unterrichtet dich einmal die Woche neunzig Minuten lang. Wer wirklich was erreichen will, der braucht härteres Training. Unsere Krieger trainieren täglich. Die machen den ganzen Tag nichts anderes.”

“Genau das will ich nicht”, sagte Andreas. “Das ist nicht mein Ding.”

“So wird sich aber nie etwas ändern”, bemerkte Sathi. “Du musst dich zur Wehr setzen.”

Plötzlich betraten Herr Hartmann und Christian den Umkleideraum, und Sathi löste sich in Luft auf. Herr Hartmann schaute sich Andreas an, und dann fing er an zu lachen.

“Warum lachen Sie?” fragte Andreas.

Herr Hartmann zog es vor, auf die Frage nicht zu antworten. Er sagte nur: “Wer hat das getan?”
“Robert”, sagte Andreas wie aus der Pistole geschossen.

“Stimmt das?” fragte Herr Hartmann Christian.

Christian nickte zaghaft.

“Also gut. Das hat natürlich ein Nachspiel für Robert. Und was machen wir mit dir? Warte mal, ich habe noch überschüssige Kleidung von unserem Basketball-Team. Die ziehst du an. Aber vergiss nicht, die mir nächste Woche wieder zu bringen. Und deine Kleidung nimmst du am besten mit nach Hause und hängst sie dort zum Trocknen auf. Bleib hier. Ich komme gleich wieder.”

Als ob Andreas in diesem Zustand hätte weg rennen wollen!

“Ich gehe jetzt auch”, sagte Christian schließlich. “Wir sehen uns morgen.”

Auf dem Heimweg achtete Andreas darauf, dass er sein Fahrrad nur durch verlassene, kaum befahrene Straßen lenkte. Das war gar nicht so einfach. Denn er musste sogar stark befahrene Straßen überqueren. Doch er hoffte, dass ihn niemand sah. Natürlich waren die Basketball-Klamotten viel zu groß für ihn und schlackerten überall an seinem Körper, während er fuhr. Außerdem war es viel zu kalt, und er hoffte, dass er sich von der ganzen Aktion keine Erkältung zuzog. Unangenehm machte sich die Kälte an seiner Haut bemerkbar und zog durch seinen ganzen Körper. Beißend wehte der Wind auf seine nackten Beine. Natürlich gab es auch zu Hause Ärger. Aber das war eine andere Geschichte, die wir später erzählen wollen.

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