Freitag, 3. Mai 2013
00000111 - Lemuria in Gefahr
Er erwachte im Gras und hörte das Rauschen eines Wasserfalls ganz in der Nähe. Das Gras fühlte sich weich und flauschig an. Er fuhr mit seinen Händen hindurch, ließ jeden Halm einzelnen durch seine Finger gleiten. Er liebte dieses Gefühl.

Andreas schlug die Augen auf und blickte in einen blauen Himmel, der von flauschigen Schäfchenwolken bedeckt war. Die Vögel sangen in der Luft ihr ewiges Lied von Lockungen und Lüsten. Es lag etwas Friedvolles in allem, das Andreas sah, hörte und spürte. Es fühlte sich real an - auch wenn er ganz genau wusste, dass es nicht real war.

Er setzte sich auf, beobachtete die Bienen, wie sie die Blüten auf dieser Wiese bestäubten. Aber da waren nicht nur Bienen - auch Feen beteiligten sich an der fleißigen Bestäubungsaktion. Ihre Flügel zitterten, wenn sie in der Luft standen, um den Nektar, von dem sie sich ernährten, einzusammeln.

Andreas stand auf und ging ein paar Schritte auf den kleinen Fluss zu, der mitten durch die Wiese strömte und vom Wasserfall her kam. In der Mitte der Wiese stand eine alte, knorrige Linde mit weit ausladenden Ästen. Nicht weit davon graste eine Schafherde, die von einem Hirten bewacht wurde. Der Hirte war zu weit weg, als dass Andreas ihn hätte erkennen können. Er sah nur den grünen Mantel und den braunen Hut sowie den Stock, den er in der Hand hielt. Um ihn herum sprang bellend ein Hund, der die Schafe zusammentrieb. Hinter der Wiese und hinter dem Baum aber erhoben sich die schneebedeckten Gipfel des Asamana-Taka-Gebirges. Er kannte diese Gipfel - ebenso wie die Wiese, den Fluss, den Wasserfall. Sogar die Elfen. Das alles war ihm vertraut, auch wenn er es schon so viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Diese friedvolle Landschaft hatte sich kaum verändert.

Andreas fing an sich zu erinnern. Er hatte am Abend über Robert Jens im Internet recherchiert, hatte dann seinen Blog geschrieben und schließlich noch ein wenig im sozialen Netzwerk von Lemuria gechattet - und jetzt fand er sich auf einmal in Lemuria wieder. War es Zufall, dass sein Arbeitgeber genauso hieß wie die Welt, die er aus seiner Kindheit kannte? Er wusste es nicht. Hätte er die Firma gegründet, so hätte sie mit Sicherheit Lemuria geheißen. Aber er war es nicht gewesen. Es war irgendein amerikanischer Student - wahrscheinlich viel jünger als er selbst. Er wusste nicht viel über ihn, und es interessierte ihn eigentlich auch gar nicht.

Er lächelte. Wie immer, wenn er nach Lemuria kam. Dieser Friede, der an diesem Ort herrschte, war mit nichts zu vergleichen. Und doch war Lemuria alles andere als eine friedvolle Welt. Was er schon für Kämpfe hatte austragen müssen - mit Drachen, mit Trollen, sogar mit Orks. Und manchmal auch mit Lemuren, jenen intelligenten Halbaffen, die diesem Kontinent ihren Namen gegeben hatten. Manchmal auch gegen andere Menschen aus den nördlichen oder südlichen Reichen, die immer wieder das goldene Königreich der Mitte angegriffen hatten. Doch jedes dieser Abenteuer hatte so begonnen wie dieser Aufenthalt: auf der Wiese nicht weit von Rajadhani entfernt.

“Bist du nun doch gekommen?” sagte Sathi, der zu seinen Füßen stand und eine kleine Pfeife rauchte.

“Was soll das, Sathi? Wir wissen beide, dass das alles nicht real ist.”

“Was ist real?” fragte Sathi. “Ist es deine Welt, in der du dich sowieso kaum noch herumtreibst? Ist es die virtuelle Welt? Oder ist es die Welt, für die deine eigene Welt so etwas ist wie eine virtuelle Welt?”

“Du sprichst in Rätseln, Sathi.”

“Seit der Mensch denken kann, hat er sich fremde Welten ausgedacht”, sagte Sathi. “Atlantis, Shangri-La, Xanadu, Liliput, Oz, Mittelerde, Phantásien, Narnia... Woher willst du wissen, dass gerade deine eigene Welt keine ist, die du dir selber ausgedacht hast?”

“Diese hier ist nicht echt”, sagte Andreas. “Das hier ist ein Hirngespinst.”

“Oder diese Welt ist echt, und die deine ist ein Hirngespinst”, sagte Sathi. “Es ist immer eine Frage des Standpunkts. Erinnere dich: In Lemuria gibt es Romane, die in Welten spielen, die der deinen gleichen.”

“Das alles hat funktioniert, als ich ein Kind war”, entgegnete Andreas. “Ich bin erwachsen. Ich gehe stramm auf die vierzig zu.”

“Natürlich. Du stehst mitten im Leben, du hast Frau und Kinder...”

“Du weißt genau, dass das nicht so ist.”

“Na, also, Peter Pan. Worauf warten wir denn noch? Eine ganze Welt wartet darauf, von dir entdeckt zu werden. Lemuria braucht dich.”

“Was ist es diesmal?”

“Eine Sekte. Die Na’e Vykati. Sie wohnen oben in den Bergen. Das Königreich ist in Gefahr.”

“Warum das?”

“Das wird dir Königin Sundari selbst sagen.”

“Was ist jetzt mit dieser Sekte?”

“Sie wollen den bösen schlummernden Gott Sansarom Kanasa erwecken. Sie nennen ihn auch den Danava. Aber du musst dich beeilen. Es ist nicht mehr viel Zeit.”

“Wie immer”, sagte Andreas.

“Wie immer. Aber wenn der Danava erwacht, ist alles aus. Er ist in der Lage, ganz Lemuria zu vernichten. Und vielleicht sogar auch ein paar benachbarte Welten - möglicherweise gehört die deine dazu.”

“Klingt nach einem Online-Rollenspiel”, sagte Andreas.
“Das ist kein Rollenspiel”, entgegnete Sathi. “Für uns ist es existenziell.”

“Aber warum wollen sie die Welt vernichten? Das ergibt doch keinen Sinn.”

“Sie glauben, dass dann Lemuria durch eine bessere Welt ersetzt wird. Aber das ist ein Irrglaube, den der Danava in ihr Herz gesät hat.”

“Also, ich soll zu der Sekte und soll sie besiegen und verhindern, dass sie den Dämon erwecken?”

“Richtig. Das geht aber nur mit dem Licht von Mandira.”

“Und wer ist Mandira?”

“Wo ist Mandira? - genau in der entgegengesetzten Richtung.”

“Wie immer.”

“Es ist eine Insel im Sagara-Meer. Dort wird das Licht von Tempelpriestern gehütet.”

“Die das Licht aber nicht rausrücken.”

“Woher weißt du das?”

“Och, sonst wäre es ja langweilig. Also, damit wir uns richtig verstehen: Ich reise nach Rajadhani, besuche Königin Sundari, empfange von ihr weitere Instruktionen, mache mich dann auf zur Insel Mandira im Sagara-Meer, hole mir dort das magische Licht, das die Tempelpriester aber nicht rausrücken und reise dann ins Asamana-Taka-Gebirge, um die finstere Sekte und ihren bösen Gott Danava zu besiegen - und das möglichst vor wann?”

“In einem halben Mond um Mitternacht ergibt sich eine höchst seltene Sternenkonstellation. Dann steht der Planet Mangala im Sternzeichen des Drachen. Dann öffnet sich ein Portal zur Unterwelt. Nur dann kann der Danava erwachen - wenn er geweckt wird.”

“Prächtig. Und dazwischen werde ich wieder mit allerlei Monstern und Orks zu kämpfen haben, nicht wahr?”

Sathi zuckte die Achseln. “Wahrscheinlich.”

“Und was, wenn ich mich weigere? Wenn ich sage, dann spiele ich lieber World of Warcraft?”

“Dann wird diese Welt vernichtet.”

“Vielleicht ist es besser so. Ich habe diese Welt sowieso nur aufgesucht, um von der realen Welt zu flüchten.”

“Diese Welt ist real.”

Andreas lächelte gequält. “Vielleicht glaubst du das wirklich. Aber ich habe lange gebraucht, um von dieser Welt loszukommen.”

“Du kannst vor deiner Vergangenheit nicht fliehen. Sie holt dich immer wieder ein. Sei wenigstens einmal noch ein Held. Kämpfe mit uns gegen die Feinde von Lemuria.”

“Sagt mein Chef auch immer”, knurrte Andreas.

“Na also. Machst du jetzt mit oder nicht?”

Andreas überlegte. Die Welt, die er selbst für real hielt, spielte für ihn tatsächlich keine Rolle. Er hatte keine Familie. Seine Eltern waren beide gestorben, und zu seinem Bruder hatte er nur spärlichen Kontakt. Freunde hatte er auch kaum - abgesehen von seinen Online-Freunden. Eigentlich lebte er sein ganzes Leben in der virtuellen Welt - in einer Welt voller Nullen und Einsen. Machte es da so einen großen Unterschied, wenn er sich jetzt auf die Traumwelt von Lemuria einließ? Er hatte hier so viel erlebt. Es war das, was das Leben in seiner Kindheit erträglich gestaltet hatte...

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