Samstag, 11. Mai 2013
00001111 - Werte Mitarbeiter!
Bei Lemuria war Personalversammlung. Wie jeden Freitag. Zu diesem Zweck war das Atrium in der Mitte des Firmengebäudes, das zugleich als Eingangshalle diente, bestuhlt. Auf einer kleinen Bühne, die jeden Freitag auf- und wieder abgebaut wurde, standen ein Mikrofon und ein kleines Rednerpult. Normalerweise wurden bei diesen Versammlungen Losungen ausgegeben, verdienstvolle Mitarbeiter geehrt, alle auf die Firmenphilosophie eingeschworen oder - was meistens vorkam - motivierende Reden geschwungen.

Andreas hielt das alles für komplette Zeitverschwendung, und er saß meistens zusammen mit Alexander in einer der letzten Reihen, um die Versammlung irgendwie hinter sich zu bringen.
Die Niederlassung war nicht sonderlich groß. Alles in allem arbeiteten hier siebzig Mitarbeiter an der Zukunft der Menschheit - wie es Lemuria gerne hochtrabend formulierte. Und so fanden auch alle bequem im Atrium Platz. Gerade betrat Volker die Bühne. Auf Twitter und Facebook und natürlich auch auf Lemuria nannte er sich Folkherr und fand das unglaublich witzig. Folkherr war jemand, den man vielleicht eher in der Piratenpartei vermutet hätte als als Leiter einer Niederlassung. Er trug einen Vollbart und lange, braune Haare, die er sich hinten zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Außerdem hatte er eine Brille mit einem dicken, schwarzen Rand und trug fast immer schwarze Kleidung - auch heute, obwohl er sich etwas schicker herausgeputzt hatte. Allein schon daran, dass er ordentlich gepflegt aussah und dass er einen schwarzen Sakko und ein schwarzes Hemd trug, war ersichtlich, dass etwas besonderes in der Luft lag - wie wohl so vieles, was an diesem Tag geschah, etwas besonderes war.

Folkherr betrat die Bühne, ging zielstrebig ans Mikrofon und sagte: “Werte Mitarbeiter!”
Werte Mitarbeiter! Sonst sagte er immer: “Hallo, Leute!” Oder: “Liebe Freunde!” Es war eindeutig was im Busch.

“Werte Mitarbeiter. Heute ist ein ganz besonderer Tag für Lemuria Deutschland - und für diese Niederlassung. Bitte begrüßt mit mir den Leiter von Lemuria Deutschland. Stefan Busch.”

Der Mann, der jetzt die Bühne betrat, war das, was Andreas einen klassischen Krawattenträger nannte. Sein Anzug saß, als sei er darin geboren worden, und er bewegte sich darin wie ein Geschäftsmann, der es gewohnt war, über mehrere hundert Menschen zu befehlen.

“Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Mitarbeiter” sagte er. “Ich will Sie auch nicht lange mit Begrüßungsfloskeln aufhalten. Die Zeit ist knapp bemessen, und Sie haben sicherlich auch einiges zu tun. Gestatten Sie dennoch, dass ich ein paar Worte an Sie richte.”

“Blablabla”, sagte Alexander zu Andreas. Dieser grinste.

“Die aktuellen Zahlen sind verblüffend gut. Daher großes Lob an Sie alle. Im Bereich Soziale Netzwerke haben wir den Marktführer Facebook bald eingeholt. Im Bereich Suchmaschinen ist Google nach wie vor uneinholbar - aber wir sind immerhin schon besser als Bing. Unsere Videoplattform ist ebenfalls die Nummer zwei - auch wenn der Abstand zu YouTube zugegebenermaßen noch recht groß ist. Unsere E-Books-Plattform ist die einzige dieser Art im Web. Und das zahlt sich aus. Wir haben schon mehr E-Books verkauft als Amazon. Im Bereich E-Mail gab es nie einen derartigen Marktführer wie in anderen Bereichen. Ob Yahoo, GMX, Web.de oder Hotmail: Wie Sie wissen, gab es da gleich mehrere, etwa gleich große Anbieter. Die gute Nachricht ist: Mit Lemuria Mail haben wir sie alle eingeholt. Vielleicht weil die E-Mail-Adresse @lemuria.de besonders attraktiv zu sein scheint. Wie dem auch sei, großes Lob. Was besonders gut ankommt, sind unsere GPS-Apps mit Routenplaner, City Guides und so weiter und so weiter. Wo wir noch ein bisschen schwach auf der Brust sind, das sind unsere Online-Magazine. Aber gut, da hier bei Ihnen keine Online-Redakteure arbeiten, kann ich dazu nicht viel sagen.”

Er grinste, als hätte er einen guten Witz gemacht. Dann fuhr er fort: “Wir haben die Saat ausgebracht. Jetzt wird es Zeit, die Ernte einzufahren. Es ist nicht damit getan, dass ein paar Leute bei uns Mitglied sind. Ich will ALLE haben. Ich will, dass es hip ist, bei uns Mitglied zu sein, dass man um uns nicht herum kommt. Ich will, dass Lemuria über kurz oder lang das restliche Internet ablöst. Dass der komplette Informationsaustausch der Welt über unsere Server abläuft!”

Andreas wusste nicht, warum er klatschte und warum all die anderen klatschten. Das klang ihm zu sehr nach Großmachtfantasie. Irgend etwas war hier im Busch. Er musste über das Wortspiel grinsen, als Stefan Busch fortfuhr: “Ein erster Schritt dahin wird sein unsere Mediendatenbank. Wir werden so etwas aufziehen wie den Windows Media Player - nur eben online. Wir stehen gerade in Verhandlungen mit der GEMA und mit Sony und mit Time Warner und den ganzen anderen Medienunternehmen. Wenn wir das durchsetzen können, was wir uns vorgenommen haben, dann wird das richtig fett. Stellen Sie sich vor: eine Plattform, auf der Sie jedes x-beliebige Musikstück und jeden x-beliebigen Film ansehen können, wann immer Sie möchten - und das nicht mit Pay per View - sondern mit Hilfe einer Musik- und Video-Flatrate. Das heißt, an dem, was wir über die Flatrate einnehmen, verdient die komplette Film- und Musikindustrie. UND: Da wir Marktführer und Monopolist sein werden, da nur wir diese Verträge haben, können wir auch Werbung schalten und zusätzlich verdienen. Wie immer zeichnen wir die Nutzerdaten auf, schauen uns an: Was für Filme sieht dieser Mensch, was für eine Musik hört er, ein Algorithmus berechnet, was diesen Menschen außerdem noch gefallen könnte, und dementsprechend platzieren wir die Werbung. Und da das ganze noch mit dem Lemuria-Profil verknüpft ist, können die Freunde dieses Menschen sehen, was er gerade für Filme sieht, was er für Musik hört, und außerdem können wir die Daten sammeln und sie der Filmindustrie zur Verfügung stellen. Dann wissen die wieder, welche Filme am besten ankommen. Und so profitiert jeder von uns. Und diese ganze Urheberrechtsdiskussion von heute ist morgen schon kalter Kaffee.”

Diesmal war es nicht nur Höflichkeitsapplaus, der durch das Atrium schallte.

“Wenn das klappt, was wir uns vorstellen, dann wird das den Medienkonsum komplett revolutionieren. Die Zeiten der CDs und DVDs sind dann allemal vorbei! Klar, es gibt noch die eine oder andere Skepsis auf Seiten der Rechteinhaber. Aber die werden wir ausräumen können. Unser Ziel ist nahe: Lemuria als Marktführer in allen Bereichen. Wir werden die Nummer eins im Internet sein. Und wir werden das gesamte Wissen der Erde speichern - zum Wohl der Menschheit.”

Der Applaus hätte kaum größer sein können. Hier waren Überzeugungstäter am Werk. Das spürte Andreas. Es war eine Firma mit lauter Verrückten. Die Sorte Mensch, die sich noch spät in der Nacht eine Pizza bestellt, weil sie festgestellt hatte, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hat.

“Aber nun zu einem anderen Thema”, sagte Stefan Busch. “Und das führt uns zurück bis zu den Anfängen dieser Firma und bis zu unserer Firmenphilosophie. Jeder von Ihnen weiß, dass ein Amerikaner mit Namen Peter Mason die Firma Lemuria gegründet hat. Was die wenigsten wissen: Peter Mason hat das Asperger-Syndrom. Als er zwanzig Jahre alt war, stellte er fest, dass er zwar hochintelligent war, dass ihn aber niemand so richtig leiden konnte und dass er kaum soziale Kontakte hatte. Er stellte auch fest, dass er trotz seiner hohen Intelligenz Schwierigkeiten hatte, einen Job zu bekommen. Und schließlich stellte er fest, dass er im Internet keine Probleme hatte, Freunde zu finden. Also beschloss er, ein Netzwerk zu entwickeln, mit dem er Kontakte knüpfen und vor allem diese Kontakte halten konnte. Ihm war es zunächst nicht wichtig, zu wissen, was seine Freunde gerade tun. Er wollte überhaupt erst Freunde haben.”

Also ein Verwandter im Geiste, dachte sich Andreas, und er fragte sich, ob Peter Mason auch die Welt Lemuria besucht hatte und so auf den Namen gekommen war. Auf jeden Fall waren Masons

Bemühungen zumindest teilweise erfolgreich: Andreas hatte viele Freunde, wenn auch nur online.

“Das war der eine Grund, warum er Lemuria gegründet hatte”, fuhr Stefan Busch fort. “Aber es gibt noch einen anderen: Menschen wie ihn in Lohn und Brot zu bringen. Menschen mit Asperger-Syndrom, Menschen mit ADS, klassische Nerds, Hochbegabte, Menschen mit Sozialphobie, kurz: Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt trotz ihres hohen Potenzials nur geringe Chancen hatten - ganz einfach, weil ihnen etwas fehlte, das heute enorm wichtig ist: die so genannten Soft Skills. Menschen, die vielleicht in der Schule gemobbt wurden. Menschen, die nicht immer die Ballkönigin bekamen - manchmal auch überhaupt keine Mädchen. Oder überhaupt keine Jungs - je nachdem. Schüchterne Menschen. Außenseiter. Menschen, die erst lernen müssen, dass sie für diese Gesellschaft enorm wichtig, enorm wertvoll sind. Sein Traum war der Traum einer besseren Welt - und das hat er versucht umzusetzen.”

Starker Applaus. Andreas spürte: Sie waren alle eine große Familie. Sie alle mochten ihre Marotten haben, aber jeder war so, wie er war, etwas ganz besonderes. Seltsam vielleicht. Vielleicht auch für Menschen, die gerade nicht in diesem Atrium saßen, unverständlich. Aber sie arbeiteten alle an etwas Großem, an etwas Besonderem, an der Zukunft.

“Der ganze Witz an der Sache ist: Er wollte nur solche Menschen einstellen, merkte aber schnell, dass das nicht möglich ist”, sagte Stefan Busch. “Im Vertrieb braucht man eben auch Leute, die so ticken, wie die meisten. Klar, da arbeiten auch Verrückte - aber eben anders Verrückte - wenn Sie wissen, was ich meine. Und noch etwas: Wenn wir für die Zukunft arbeiten, dann arbeiten wir für die Zukunft ALLER Menschen. Längst ist Lemuria in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und das heißt: Wir müssen wissen, was normale Menschen wollen, was normale Menschen brauchen. Menschen, die vielleicht nicht die Intelligentesten sind. Aber auch nicht die Dümmsten. Menschen, die es verstehen, geschickt Netzwerke zu knüpfen, die gerne auf Partys gehen, die die Gesellschaft anderer Menschen lieben und die bei anderen Menschen beliebt sind - kurz: Menschen, die das genaue Gegenteil sind von den meisten, die hier arbeiten. Und das kann nur jemand wissen, der zu ihnen gehört. Deshalb möchte ich Ihnen heute eine neue Mitarbeiterin vorstellen. Sie kommt aus der Deutschland-Zentrale und wird Ihre neue Vorgesetzte sein. Dafür kommt Ihr bisheriger Niederlassungsleiter Volker Weiss in die Deutschland-Zentrale. Ihr Name ist Lucía Sánchez, und sie ist hier. Frau Sánchez, ich darf Sie auf die Bühne bitten.”

Andreas glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Die Frau, die jetzt aus der ersten Reihe aufstand und auf die provisorische Bühne ans Rednerpult ging, war Königin Sundari. Die gleichen hüftlangen Haare. Die gleichen braunen Augen. Die gleichen hohen Wangenknochen. Die gleichen vollen Lippen. Sogar die gleichen geschmeidigen Bewegungen. Sie sah nicht nur so aus. Sie WAR es. Es war ein und dieselbe Person. Dessen war sich Andreas sicher.

Und als sie dann an das Mikrofon trat und anfing zu sprechen, bemerkte er, dass Lucía Sánchez auch die selbe Stimme hatte wie Sundari. Nur in einem unterschied sie sich: Sie sprach akzentfreies Deutsch - trotz ihres spanischen Namens.

“Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen”, sagte sie. “Ich will keine großen Worte machen. Ich finde, viele Leute verbringen zu viele nutzlose Zeit mit Reden. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit, und ich finde, dass in den nächsten Wochen und Monaten spannende Aufgaben auf uns warten, auf die ich mich freue. Noch ein paar kurze Worte zu meinem Namen und meinen Aussehen: Ja, ich habe einen Migrationshintergrund, wie man neudeutsch so schön sagt. Ja, meine Eltern sind beide Spanier. Aber ich bin in Deutschland geboren und zur Schule gegangen - also Bildungsinländerin und außerdem EU-Bürgerin. Und vor allem: Ich bin eine Frau - und eure Chefin. Wer ein Problem damit hat, kann gehen. Alle anderen: Auf gute Zusammenarbeit.”

Während die anderen kräftig applaudierten, dachte Andreas nach. Wie war es möglich, dass diese Lucía Sánchez genauso aussah wie Königin Sundari, ja, dass sie sich genauso bewegte und genauso redete? Wie konnte das sein? War es tatsächlich eine und die selbe Person? Hatte sie sich für den bevorstehenden Kampf in seine Welt begeben? Nein, das war unmöglich. Und während seine Kollegen aufstanden und ihren Büros zustrebten, beschloss Andreas, die Antworten auf einige Fragen zu suchen, die ihn derzeit beschäftigten.

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