Dienstag, 21. Mai 2013
00011001 - Avatar
Andreas wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Vortrag zu. Auf der Leinwand kämpfte jetzt ein Held gegen Ritter, so wie er selbst es in Lemuria schon so oft getan hatte. Der Held hatte einen nackten, muskulösen Oberkörper, während die Ritter auf Pferden saßen und - bis zur Unkenntlichkeit vermummt - in Ritterrüstungen eingepackt waren. Es war ein Ausschnitt aus einem Online-Rollenspiel.

Robert fuhr fort: “Wenn der Mensch eine virtuelle Welt erschafft, dann ist er ihr Gott. Ganz gleich, ob es eine reine Gedankenwelt ist oder eine Welt, die im Computer existiert - World of Warcraft beispielsweise. Stellen Sie sich vor, Sie steuern selbst eine Spielfigur durch diese virtuelle Welt. Sie sind nicht diese Spielfigur. Aber Sie identifizieren sich mit ihr. Diese Spielfigur wird zu Ihrem Alter Ego. Sie ist Ihr Stellvertreter in der virtuellen Welt. Es gibt auch ein Wort dafür, und dieses Wort heißt Avatar.”

Irgendwo und irgendwann hatte er diese Argumentation in den vergangenen Tagen selber gebraucht. Nur wo?

Robert fuhr fort: “Das Wort kommt aus dem Sanskrit. Das ist quasi das Latein des alten Indien. Eine uralte Schriftsprache, die keiner mehr spricht, die aber in Indien nach wie vor eine große Rolle spielt. Die heiligen Texte sind allesamt in Sanskrit verfasst. Avatara jedenfalls heißt Abstieg. Und das bezeichnet den Abstieg eines Gottes auf die Erde in Form eines Menschen oder Tiers. Das heißt, der Gott ist nach wie vor im Jenseits und steuert seinen Avatar von dort aus, wie wir die Spielfigur eines Online-Rollenspiels steuern.”

Andreas überlegte sich, ob er nicht selber Lemuria erschaffen hatte, um sich selbst darin als Spielfigur wiederzufinden.

“Was aber, wenn ich Ihnen sage, dass wir alle Avatare sind?”, sagte Robert. “Nicht Avatare der Götter sondern Avatare unserer eigenen Seelen, die im Jenseits sitzen und uns steuern? Denn letzten Endes sind es nicht die Götter, sondern wir selber, die diese Welt erschaffen haben. Wir selber sind die Schöpfer der Matrix. Unsere eigenen Seelen sind... ja, ich würde sagen, die Götter. Und wenn wir tatsächlich die Götter sind, dann reicht unsere Macht viel weiter, als wir es uns träumen lassen. Nur wir können damit nicht umgehen. Weil wir es nicht gelernt haben. Wir glauben an Zufall oder Schicksal oder irgendeine Macht, die uns im Griff hat. Nein. Es gibt keine Zufälle, es gibt kein Schicksal. Es gibt nur uns selbst, und wir haben es in der Hand. Wir können die Welt beeinflussen, unser Leben bestimmen - wir können mehr erreichen, als wir glauben. Aber dafür müssen wir anfangen zu glauben.”

Wieder wechselte das Dia. Diesmal stand da nur ein ganz einfacher Satz: “Glauben Sie an sich.”

“Es klingt alles ein wenig abgedroschen, aber Regel Nummer eins für Erfolg im Leben ist: Glauben Sie an sich. Wenn Sie nicht an sich selbst glauben, wer soll es sonst tun? Und glauben Sie nicht halbherzig. Glauben Sie von ganzem Herzen, dass Sie es schaffen können. Wenn Sie Träume haben: Leben Sie sie. Glauben Sie, dass Ihre Träume in Erfüllung gehen. Und seien Sie dabei aber realistisch. Wer eine Niete in Sport ist, der wird niemals Olympiasieger werden. Aber wenn Sie ein guter, ein sehr guter Sportler sind, können Sie es schaffen. Was Sie allerdings brauchen, ist harte Arbeit. Von nichts kommt nichts. Also arbeiten Sie an sich selbst. Setzen Sie sich ein Ziel, und glauben Sie, dass Sie es erreichen können. Ihre Gedanken nehmen Einfluss auf die Welt.”

War Lemuria tatsächlich nur eine Ausgeburt seiner Phantasie? Aber wie waren all die anderen seltsamen Dinge zu erklären, die er erlebt hatte? Der Terminator in der U-Bahn? Die Chefin, die aussah wie Sundari und ihm etwas über ein Sundari-Projekt erzählt hatte?

“Das, was ich Ihnen eben gesagt habe,”, erklärte Robert, “das werden Sie in jedem Motivationsseminar hören. Aber es genügt mir nicht. Natürlich, es ist die halbe Miete, an sich selbst zu glauben. Aber das geht nicht so einfach von heute auf morgen. Sie müssen es trainieren. So wie der Sportler, der Olympiasieger werden will, hart an sich arbeiten muss, so müssen Sie trainieren, mit der Gabe, die Sie haben, die jeder einzelne von Ihnen hat, umzugehen.”

Natürlich! Deswegen hatten ihn alle auch immer ausgelacht und ihn als Außenseiter behandelt. Weil er nicht in der Lage war, die Welt sich so zu erträumen, wie sie eigentlich hätte sein sollen.

Robert sagte: “Als allererstes: Machen Sie sich klar, dass das alles nur eine Illusion ist. Alles, was Sie wissen und zu kennen glauben, die ganze sogenannte Realität ist eine Illusion. Erinnern wir uns: Atome bestehen zum großen Teil aus gar nichts. Und Elektronen können sich nicht genau entscheiden, ob sie Wellen oder Teilchen sein wollen, und sie wissen, wann sie beobachtet werden. Das ganze ist nichts anderes als eine gigantische Schöpfung. Eine Schöpfung, die wir erschaffen haben.”

Andreas spielte mit dem Gedanken, einen neuen Tweet abzusetzen. Jetzt fing es an, seltsam zu werden. Und seltsam war noch freundlich ausgedrückt. Das war kompletter Bullshit, fand Andreas.

“So, und jetzt, meine Damen und Herren, wird es ein wenig esoterisch. Wenn Sie jetzt nüchtern denkende Naturwissenschaftler sind oder zu einer Religionsgemeinschaft gehören, wird es Ihnen vielleicht schwer fallen, das zu glauben. Aber: Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte hat es Kontakte gegeben - zwischen dem, was wir Jenseits nennen, und dieser materiellen Welt. Die Wesen, mit denen wir Menschen in Kontakt treten können, sind Seelen wie wir - nur sind sie eben im Moment gerade nicht inkarniert. Sie sind also keine Götter und keine Engel und keine Dämonen, sie sind schlicht und einfach Seelen, mit denen man sich unterhalten kann.”

Andreas dachte an Sathi. Und an Sundari. Wer weiß, vielleicht war ganz Lemuria im Jenseits.

“Aber leider kann sich nicht jeder mit Seelen unterhalten”, fuhr Robert fort. “Dafür gibt es ausgebildete Medien, die den Kontakt zur Geisterwelt suchen. Im 20. und 21. Jahrhundert haben wir gesammelt, was diese Medien uns berichtet haben. Und wir haben ein in sich schlüssiges Weltbild daraus ableiten können - ein Modell zwar, aber ein Weltbild. Es ist sehr kompliziert, und ich will mich nicht länger damit aufhalten. Deshalb in aller Kürze: Alles ist eins. Alles hängt zusammen. Materielle und geistige Welt bilden eine Einheit. Eine gemeinsame Seele. Eine Weltenseele, wenn man so will. Religiöse Menschen nennen diese Seele Gott. Nicht religiöse haben vielleicht andere Namen. Wer lange genug meditiert, der kann in seiner Seele ein Stück der großen Verbindung, ein Stück Gottes finden. Das nennen wir dann mystische Erfahrung. Wir glauben, dass es nichts gibt, das außerhalb von Gott existiert. Gar nichts. Und das ist auch das, was uns die Seelen aus dem Jenseits erzählen.”

Andreas schnappte sich sein iPhone und twitterte: “Was wisst ihr über Robert Jens? Ist der in ner Sekte?”

“Jetzt müssen Sie sich das so vorstellen, dass dieser Gott Seelen von sich abspaltet, ohne seine Einheit zu verlieren. Das heißt, diese Seelen wissen nicht mehr, dass sie ein Teil Gottes sind, weil sie die Einheit nicht mehr erfahren. Aber Gott kann durch all diese Seelen erleben. Deshalb sagen viele Religionen: Gott sieht alles.”

Und wenn Andreas nun der Gott von Lemuria war? Alles sah er nun wirklich nicht. Auch nicht in der anderen Welt.

Robert fuhr fort: “Damit diese Seelen auch Gefühle, Emotionen undsoweiter erfahren können, die ihnen im Jenseits fremd sind, haben sie eine materielle Welt geschaffen, in der sie diese Gefühle erleben können. Ähnlich wie wir Computerspiele geschaffen haben, um darin Dinge zu erleben, die in unserer Welt nicht vorkommen. Beispielsweise Kämpfe gegen Drachen oder gegen Orks oder was auch immer. Sie haben diese Welt nicht nur erschaffen, sondern sie inkarnieren auch in sie. Und da es im Jenseits keine Zeit gibt, finden alle Inkarnationen nicht nacheinander, sondern quasi gleichzeitig statt.”

Hatte er Lemuria erschaffen, um dort Dinge erleben zu können, die ihm in dieser Welt fremd waren? Existierte Lemuria wirklich oder nur in seiner Phantasie? Andreas geriet immer mehr in den Sog des Vortrags. Woher wusste Robert von seinen Kämpfen gegen Orks?

“Um das gewährleisten zu können, kopiert sich die Seele selbst und senkt ihr Bewusstsein herab. Dadurch vergisst sie, dass sie eigentlich eine unsterbliche Seele ist. Sie blendet viele Aspekte ihrer Persönlichkeit aus und setzt diese Aspekte in jeder Inkarnation anders zusammen. Nur so ist es möglich, dass jeder Mensch einmalig ist, obwohl doch mehrere Menschen in unterschiedlichen Zeiten von ein und derselben Seele verkörpert werden. Wenn Sie Computer spielen, steuern Sie ja schließlich auch unterschiedliche Avatare, unterschiedliche Charaktere. Gute und Böse, Schöne und Hässliche, Erfolgreiche und weniger Erfolgreiche. Und so wie Sie Ihre Avatare sind und gleichzeitig auch nicht sind, so ist Ihre Seele auch mit Ihnen identisch und dann auch wieder nicht. Sie sind keine Marionetten Ihrer Seelen, Sie sind Ihre Avatare. Avatare aus Fleisch und Blut, die es Ihren Seelen überhaupt erst möglich machen, in dieser Welt zu leben und die Erfahrungen zu machen, die sie machen wollen.”

Andreas als Avatar in Lemuria? Hatte er Avatare in zwei Welten, gleichzeitig stattfindende Reinkarnationen? Hatte das vielleicht auch Sundari? Oder der Gründer der Firma Lemuria? Das würde einiges erklären.

“Das sind nicht nur gute Erfahrungen”, sagte Robert. “Es sind auch sehr, sehr viele Schicksalsschläge. Da führt auch kein Weg daran vorbei, denn das sind die Hürden, die Ihre Seelen in Ihren Plan eingebaut haben, damit sie zu bestimmten Zeiten bestimmte Emotionen erleben können.”

Nun komm endlich zum Punkt, dachte Andreas.
Und Robert fuhr fort: “Machen Sie sich klar, dass das eine Illusion ist. Dafür brauchen Sie Wissen. Das können Sie in meinen Büchern finden. Es würde zu weit führen, hier alles zu erklären. Sie brauchen naturwissenschaftliches Wissen, damit Sie erkennen, wie die materielle Welt funktioniert. Aber viel wichtiger als das ist: Wissen darüber, wie die immaterielle Welt funktioniert.”

Wie funktioniert sie denn? dachte Andreas.

“Und dann müssen Sie an sich glauben. Versuchen Sie es einfach. Fangen Sie mit etwas leichtem an. Glauben Sie, dass Sie einen Parkplatz finden. Glauben Sie fest daran, dass Sie genau dort, wo Sie einen suchen, auch auf Anhieb einen finden werden. Es wird nicht gleich beim ersten Mal funktionieren. Auch nicht beim zweiten Mal. Vielleicht beim dritten Mal. Aber dann könnte es Zufall sein. Nein, könnte es nicht. Denn Zufälle gibt es nicht. Vielleicht wird es mal klappen, dann wieder nicht. Aber der Trick ist, nicht aufzugeben. Glauben Sie jedes Mal aufs Neue. Sagen Sie sich nicht: Ich werde einen Parkplatz suchen. Sagen Sie: Ich werde einen Parkplatz finden. Und Sie werden sehen: Nach einiger Zeit werden Sie immer einen Parkplatz finden. Ich mache das schon seit Jahren. Und seitdem ich es richtig drauf habe, wie es geht, habe ich jedesmal einen Parkplatz gefunden. Ungelogen.”

Wenn man lange genug sucht, findet man immer einen, dachte Andreas. Und wenn er ganz weit weg ist.

Doch Robert fuhr fort: “Wenn Sie soweit sind, können Sie sich an den nächsten Schritt wagen. Meine Herren, speziell die Singles unter Ihnen: Sie gehen in eine Bar, Sie sehen eine Frau, Sie trauen sich nicht, sie anzusprechen? In diesem Moment haben Sie schon verloren. Glauben Sie an sich. Sprechen Sie die Frau an. Es wird beim ersten Mal vielleicht nicht klappen. Vielleicht auch nicht beim zweiten Mal. Dann wird es ab und zu klappen. Und irgendwann auf einmal immer. Genau das gleiche Spiel wie bei der Parkplatzsuche. Genauso meine Damen. Sie sehen einen verdammt gut aussehenden jungen Mann. Glauben Sie fest daran, dass er auf Sie zu kommt. Dass er Sie anspricht. Sobald irgendwelche Zweifel aufkommen, wird es nicht geschehen. Aber wenn Sie keinen Zweifel haben, wird er es auch tun. Weil Sie es in der Hand haben. Weil Sie diese Illusion steuern können. Es wird am Anfang nicht immer funktionieren. Aber wenn man lange genug trainiert, klappt es. Ich bin Single, und seit fünf Jahren habe ich keinen einzigen Korb mehr bekommen, obwohl ich regelmäßig Frauen anspreche. Und das liegt nicht daran, dass ich gut aussehe. Nein, es liegt daran, dass ich selbstbewusst bin. Meiner selbst bewusst. Dass ich an mich glaube. Dass ich keine Zweifel daran habe, dass es klappen wird. Und Sie können das auch.”

Das war das letzte, was Andreas vernahm, bevor seine Gedanken wieder abschweiften und er sich in die Welt von Lemuria verlor...

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