Freitag, 10. Mai 2013
00001110 - Wir sind überall!
Jetzt hing er wieder vor seiner Nase. Doch diesmal sagte er nicht “Guten Appetit!” Diesmal sagte er gar nichts. Er hing einfach an der Wand der U-Bahn-Station und verkündete, dass er heute kommen würde. Für Andreas klang es wie eine Drohung. Warum wollte er trotzdem dorthin? Warum zog ihn irgendetwas unwiderstehlich zu dieser Vortragsveranstaltung, obwohl er genau wusste, dass sie ihm nicht gefallen würde?

Auch wenn er bisherigen Klassentreffen fern geblieben war, so musste er sich endlich eingestehen, dass es Menschen gab, die erfolgreicher waren als er - sogar sehr viele Menschen. Was war denn das für ein Erfolg, bei einem Software-Unternehmen als Entwickler und Programmierer zu arbeiten? Wenn man Informatik studiert hatte? Ausgerechnet derjenige, der ihn am meisten schikaniert hatte, war der einzige seiner Klasse, der einen eigenen Wikipedia-Artikel hatte. Andreas hatte das am vergangenen Abend nachgeprüft. Dieser Vollidiot! Arschloch!

Allerdings: Das war nicht das einzige, was ihn an diesem Morgen in der U-Bahn-Station störte. Da war noch etwas anderes. Etwas lag in der Luft. Und es war nicht dieser ozonartige Geruch, der verbreitet wurde, wann immer eine U-Bahn einfuhr. Es war nicht der Schweißgeruch von Tausenden von Menschen, die sich im Berufsverkehr in die Bahn drängten. Es war nicht der Geruch nach Alkohol, der noch von der vergangenen Nacht übrig war. Da war noch etwas anderes, das an diesem Morgen schwer in der Luft hing.

Er dachte an Sundari und an ihre Warnung. Sie wollten ihn töten, hatte sie gesagt. Und sie seien auch in seiner eigenen Welt. Aber wer waren sie? Gab es noch andere außer ihm, die von Lemuria wussten? War es ein Zufall, dass sein Arbeitgeber auch Lemuria hieß?
Nicht weit von ihm entfernt saß ein Mann in einem schwarzen Mantel. Er trug einen Dreitagebart und eine Sonnenbrille. Er las den Express, den es an jeder Straßenecke in diesen Automaten zu kaufen gab. Aber immer wieder schaute er zu ihm hinüber. Jetzt galt äußerste Wachsamkeit. Aber was konnte er schon tun? Was sollte er tun, wenn er plötzlich ein Maschinengewehr zückte, so wie in diesen Terminator-Filmen? “Sind Sie Andreas Held? Ich komme aus einer anderen Welt, und Sie müssen sterben!” Die Na’e Vykati. Die einen Dämon beschwören wollten, der vielleicht schon längst da war. Was sollte er tun, wenn er ihn plötzlich angriff? Er wusste, was er in Lemuria tun würde. Den Angriff parieren und ihm die Waffe aus der Hand schlagen. Aber hier war das leider nicht so einfach. In diesem Spiel war der Schwierigkeitsgrad etwas nach oben gesetzt - und er hatte nur ein Leben.

Endlich fuhr der Zug ein, der ihn zur Arbeit bringen sollte. Andreas atmete auf. Endlich konnte er weg. Weg von diesem Robert-Jens-Plakat und weg von diesem Terminator-Matrix-Typen.

Quietschend hielt der Zug, und Menschentrauben bewegten sich auf ihn zu. Innen standen sie wieder dicht gedrängt und zusammen gequetscht wie Teenager auf einem Justin Bieber-Konzert. Andreas hasste das. Dieser Körperkontakt mit wildfremden Menschen jeden Morgen machte ihn noch ganz kirre.

Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der Mann mit der Sonnenbrille aufstand und die Zeitung zusammenfaltete, als wäre sie eine Tischdecke. Dann ging er auf die Bahn zu, als könnte ihm nichts und niemanden etwas anhaben. Sollte er vielleicht doch ein Maschinengewehr aus dem Mantel holen und einfach um sich schießen - ein wilder Amoklauf in der U-Bahn als Vorwand, um einen unliebsamen Gott loszuwerden?

Nein. Wenn er das laut sagen würde, würden sie ihn abholen. Und dann ab mit ihm in die Geschlossene. Er sah eindeutig zu viele Filme. Dieser Mann war vielleicht harmlos. Auch wenn er nicht den Eindruck machte. Ganz und gar nicht. Wie ein Geheimagent, der die Unauffälligkeit noch üben musste.

Andreas reihte sich ein in die Traube, die in die U-Bahn drängte, und er wurde von der Körperwärme und den Ausdünstungen der anderen Fahrgäste empfangen. Demonstrativ desinteressiert schauten sie zur Seite oder auf den Boden. Manche kauten Kaugummi, andere setzten auf ihrem iPhone ein Tweet ab, wieder andere hatte die Kopfhörer ihrer iPods in den Ohren. Die Bahn setzte sich in Bewegung, und Andreas sah, wie der Mann mit der Sonnenbrille auf ihn zukam. Er hatte ein kantiges Gesicht. Markantes Kinn, markante Nase. Auf keinen Fall unauffällig. Jetzt erst fielen Andreas seine schwarzen Handschuhe auf. Ihm fiel noch ein weiterer Film ein. Men in Black.

Aber nein, das hier war kein Film. Es war auch kein Traum. Es war echt.

Der Mann kämpfte sich durch die Menschenmenge. Andreas hatte ein mulmiges Gefühl. Er wollte weg. Nur weg. Auch er fing an, sich zwischen den Rücken der stehenden Menschen hindurch zu kämpfen. Schritt für Schritt. Schon kam Mr. Smith näher. Der Wagen fuhr quietschend um eine Kurve, und Andreas hatte seine Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ganz anders der Mann mit der Sonnenbrille. Fehlte tatsächlich nur noch das Maschinengewehr.

Aber würde er das wirklich tun? Im Berufsverkehr, wenn es zig Zeugen gab? Nein, sie würden ihn provozieren, in eine dunkle Gasse zu gehen - irgendwo in einem der letzten Hinterhofviertel der Stadt. Sie würden ihn dorthin führen, wo ihn niemand sehen konnte. Wo niemand sein Schreien hörte. Aber sie würden ihn auf keinen Fall vor aller Augen abschlachten. Nein, sie, wer auch immer sie waren, bezweckten damit etwas ganz anderes. Und er wollte auf keinen Fall, dass sie bekamen, was sie wollten - was immer es auch war.

“Sathi!” flüsterte er in seiner Verzweiflung. “Sathi, hilf mir!”

Aber Sathi blieb verschwunden. Wahrscheinlich schlief er gerade. Kein Wunder, in Lemuria war es auch Nacht.

Jetzt war der Mann nicht mehr weit. Bald würde er kein Maschinengewehr mehr benötigen. Ein Messer würde vollkommen ausreichen. Einmal den Dolch in den Rücken gestoßen, wenn niemand hinsah, und schon würde in der U-Bahn eine Leiche mitfahren. Andreas hatte Angst - und wie immer, wenn er Angst hatte, spielte er mit seinen Fingern. Er verwurstelte und verknotete sie, machte Verrenkungen, die niemand sonst konnte (Er selber war ganz verblüfft darüber, dass von seinen Kollegen niemand mit seinen Fingern so flattern konnte, dass der Ringfinger knallend auf den Daumen oder Daumenknöchel schlug.).

Dann endlich, als der Mann nur noch nach ihm zu greifen brauchte, fuhr der Zug in die nächste U-Bahn-Station ein. Andreas quetschte sich nach draußen und stand auf dem Bahnsteig. Doch der Mann folgte ihm nicht. Er ging an das Fenster rechts des Ausgangs, durch den Andreas soeben nach draußen entwischt war. Dann nahm er seine Sonnenbrille ab und schaute ihn nur kurz an. Kurz genug für Andreas, um zu erkennen, dass seine Augen schwarz waren. Komplett schwarz. Sogar das, was bei allen anderen Menschen weiß ist. Andreas erschauerte.

Noch während der Zug wieder los fuhr, hob der Mann ein Blatt Papier hoch und hielt es gegen die Scheibe. Andreas las:

WIR SIND
ÜBERALL !!!

Dann stand er zusammen mit den anderen Reisenden auf einem Bahnsteig, auf den er nicht wollte. Und mit einem eisigen Schauer dachte er: Wenn dieser Mann ihn hätte töten wollen, so hätte er es bereits getan. Andreas hatte gegen sie - wer auch immer sie waren - keine Chance.

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