Sonntag, 12. Mai 2013
00010000 - Black Eyed People
Eine dieser Fragen konnte ihm vielleicht Ralf beantworten. Ralf war ein wandelndes Lexikon. Das war Andreas zwar auch, aber Ralf kannte sich auf einem Gebiet aus, das für Andreas ein Buch mit sieben Siegeln war: das Gebiet der paranormalen Ereignisse und der Verschwörungstheorien. Seit Ralfs Cousine zweiten Grades in Fort Lauderdale eine YouTube-Fernsehserie über ein vermeintliches Spukhaus gestartet hatte, die sogar recht erfolgreich war, seitdem war Ralf immer mehr in die Welt des Paranormalen abgedriftet. Seine Cousine hatte ihn über Lemuria-Chat immer wieder mit Fragen gelöchert, und so hatte Ralf angefangen, sich dafür zu interessieren. Bücher zu lesen, im Internet zu recherchieren. Mit der Zeit war er so etwas wie ein Experte des Paranormalen geworden. Er kannte sich aus, sofern so etwas überhaupt möglich war, denn gerade auf diesem Wissensgebiet behauptete jeder etwas anderes, und das Spektrum reichte von totaler Gläubigkeit bis hin zu totaler Ablehnung.

Doch obwohl es so unglaublich schwierig war, einigermaßen verlässliche Aussagen zu bekommen, sah Andreas keine andere Möglichkeit. Auch wenn Ralf etwas seltsam war. Sogar gemessen an den Leuten, die für Lemuria arbeiteten.

Als Andreas Ralfs Büro betrat, - wie die meisten bei Lemuria hatte er ein Einzelbüro - war dieser in Gedanken vertieft. Zahlenkolonnen huschten über seinen Bildschirm, und Ralfs Finger tanzten über die Tastatur.

“Ralf?”

Keine Reaktion. Ralf starrte auf den Bildschirm. Hochkonzentriert. Zahlen und Steuerungsbefehle schossen nur so durch das Eingabefeld, das er gerade bearbeitete. Schwarz auf weiß und in der simpelsten Courier-Schrift, die es gab. Seine Finger tanzten weiter ihren schnellen, unermüdlichen Tanz.

“Hey, Ralf!”

Immer noch keine Reaktion. Andreas war etwas ratlos. Wenn er ihn jetzt anfassen würde, würde er einen Anfall bekommen und schlichtweg ausflippen - so sehr, dass Leute, die ihn nicht kannten, doch eine Einweisung in die Psychiatrie in Erwägung ziehen würden. Und einen ausflippenden Ralf wollte Andreas wirklich nicht erleben.

“Ra-alf!”

Endlich reagierte er - so als hätte ihn jemand aus seinem Traum aufgeschreckt.

“Wie, was ist los?”

“Nichts ist los, Ralf. Ich habe nur eine Frage an dich. Oder vielleicht sind es auch mehrere. Aber du kennst dich doch aus mit, naja, etwas seltsamen Dingen. Ich meine, so richtig abgefuckte, komplett durchgedrehte Dinge.”

Ralf machte sich nicht einmal die Mühe, Andreas in die Augen zu sehen. Seine Augen klebten am Bildschirm. Andreas konnte das nur recht sein. Er sah auf den Kalender, der an der Wand hing und der eine Schwarzweiß-Ansicht des alten New York zeigte. Es war der einzige persönliche Gegenstand in Ralfs Büro. Alles andere, was hier zu finden war, wurde von der Firma gestellt.

“Ich weiß alles darüber”, sagte Ralf. “Ich meine alles, was man darüber wissen kann. Vieles kann man ja nicht wissen - und bei anderen Sachen sagt jeder etwas anderes.” Er sagte es wie ein Roboter. Vollkommen emotionslos. Nicht, dass es Andreas aufgefallen wäre. Aber es war so.

“Also gut, Ralf. Ist denn der Terminator etwa schon erfunden?”

“Der Terminator braucht noch nicht erfunden zu sein”, sagte Ralf. Und Andreas fand es erschreckend, wie ernst er es sagte. Nicht die leiseste Spur von Humor lag in seiner Stimme. “Der Terminator braucht noch nicht erfunden zu sein. Er kann durch die Zeit reisen.”

“Spaß beiseite”, sagte Andreas. Und dann erzählte er ihm von seiner Begegnung mit dem Mann in der U-Bahn. Obwohl ihn Ralf die ganze Zeit nicht ansah, wusste Andreas, dass er ihm zuhörte. Nachdem Andreas geendet hatte, drehte Ralf seinen Schreibtischstuhl, so dass er Andreas ansehen konnte. Er sah ihn aber nicht an, sondern er schaute an ihm vorbei. Dabei spielte er mit einem Bleistift in seiner Hand, den er nur an der Spitze hielt und schnell hin- und her bewegte. Dann legte er los:

“Bei dem Mann handelt es sich um ein Phänomen, das gemeinhin als Black Eyed People bekannt ist. Ursprünglich nannte man es Black Eyed Kids, weil zunächst hauptsächlich Kinder aufgetaucht sind. Bekannt wurde das Phänomen durch den amerikanischen Journalisten Brian Bethel, der in Portland, Oregon Black Eyed Kids gesehen haben will. Für gewöhnlich spielen sich Begegnungen generell nach dem selben Muster ab: Zwei Kinder kreuzen den Weg eines ahnungslosen Passanten oder klingeln nachts an der Tür. Sie bitten diese Person um Hilfe. Zum Beispiel soll sie die Kinder in die Wohnung lassen, damit sie ihre Mutter anrufen können. Diese Hilfe wird ihnen aber meistens verweigert, da sie so seltsam erscheinen, dass jeder merkt, dass mit ihnen etwas nicht stimmen kann. Sie lösen bei jedem, der ihnen begegnet, ein seltsames Angstgefühl aus. Und das liegt nicht nur an ihren Augen, die zunächst noch nicht einmal auffallen, die aber komplett schwarz sind. Also auch die Teile, die bei normalen Menschen weiß sind. Nach und nach sind aber auch Erwachsene mit schwarzen Augen aufgetaucht.”

“Und? Weiß man, was dahinter steckt?”

“Das weiß keiner. Es gibt freilich einige Theorien. Manche Leute sagen, sämtliche Sichtungen von Black Eyed People seien erstunken und erlogen. Andere Leute sagen, diese Menschen würden spezielle Kontaktlinsen tragen, die es schon länger als Spezial-Effekte für Horrorfilme gibt. So weit die rationalen Erklärungen. Sehr viele Leute halten die Black Eyed People für Dämonen, andere für Außerirdische und wieder andere für die Seelen Verstorbener, also für Geister. Und manche halten sie für Vampire, weil sie deine Wohnung nur dann betreten können, wenn du sie auch einlädst.”

“Und was glaubst du?”

“Wenn du mich fragst, ich würde die Geister-Theorie ausschließen, da sich Geister niemals so verhalten. Und Vampire gibt es nicht. Ansonsten halte ich alle Theorien für möglich - inklusive der beiden rationalen Erklärungen. Die sogar noch am meisten. Ich glaube, der Typ, den du in der U-Bahn gesehen hast, wollte dir nur einen Schrecken einjagen - und hat das mit diesen Spezial-Kontaktlinsen wohl auch geschafft.”

“Aber warum? Was will er denn ausgerechnet von mir?”

“Möglich, dass er dich als Opfer zufällig ausgewählt hat. Vielleicht, weil er es kann. Weil es ihm Spaß macht. Ich würde mir an deiner Stelle keine großen Gedanken darüber machen. Es war wahrscheinlich nur ein Spinner.”

“Na, dafür hat er aber eine echt filmreife Show abgezogen.”

“Der Satz Wir sind überall könnte aber auch für Anonymous stehen. Lemuria hat viele Feinde - und da gehören sicherlich ein paar von diesen Anonymous-Typen dazu.”

“Das heißt aber Wir sind Legion - nicht Wir sind überall. Und außerdem hatte der Typ schwarze Augen - und keine Guy-Fawkes-Maske.”

“Vielleicht hast du dir das aber nur eingebildet. Die Wahrnehmung kann einem manchmal einen Streich spielen. Gerade Leuten wie uns.”

“Und wenn nicht? Wenn dieser Mann wirklich ein Dämon war? Wenn das so etwas wie eine Warnung war?”

“Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit? Wir wissen noch nicht einmal, ob es Dämonen überhaupt gibt. Es hat noch kein Wissenschaftler ihre Existenz eindeutig bestätigt. Ganz im Gegenteil. Es gibt nicht den geringsten wissenschaftlich hieb- und stichfesten Hinweis darauf, dass so etwas wie Dämonen überhaupt existiert. Wir könnten genauso gut an fliegende Spaghettimonster glauben. Das wäre genau so wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Das Risiko, dass es sich tatsächlich um Dämonen handelt, die hinter dir her sind, ist so gering, dass man es unter Restrisiko verbuchen kann. Ich würde sogar behaupten, die Wahrscheinlichkeit, dass du von einem herabstürzenden Satelliten getroffen wirst, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, dass ein Dämon dich tötet - nach allem, was wir wissen.”

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