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Montag, 13. Mai 2013
00010001 - Das Sundari-Projekt
mercury mailer, 21:04h
Andreas wusste nicht, ob er sich mit Ralfs Antwort zufrieden geben konnte. Ralf hielt den Mann in der U-Bahn offenbar für einen Spinner. Aber er kannte nicht die ganze Hintergrundgeschichte. Er wusste nichts davon, dass es auch noch eine Welt mit Namen Lemuria gab. Er wusste nichts von der Sekte, die ihren Gott töten wollte und die vermutlich schon ihren Weg in diese Welt gefunden hatte. Wenn Lemuria überhaupt existierte. Aber wie war sonst zu erklären, dass plötzlich Königin Sundari in dieser Welt auftauchte? Oder zumindest eine Frau, die ihr perfektes Abbild war? Die ihre Zwillingsschwester hätte sein können? Die Suche nach Antworten musste ihn unweigerlich in Lucía Sánchez’ Büro führen - wenn sie überhaupt schon eins hatte. Andreas vermutete aber, dass Folkherrs Büro genau der richtige Ort war, um nach Frau Sánchez zu suchen.
Das Büro des Niederlassungsleiters lag am Ende des Ganges. Die Tür war geschlossen, und gerade machte sich Praktikantin Steffi daran zu schaffen, das Namensschild zu ändern.
“Ist die neue schon da drin?” fragte Andreas.
Die Praktikantin nickte schüchtern und kämpfte weiter mit dem Büroschild.
Andreas klopfte an, und von innen erscholl Sundaris Stimme: “Herein!”
Sundari oder vielmehr: Lucía Sánchez war dabei, sich einzurichten. Sie hatte gerade eine kleine Zimmerpflanze in der Hand, die sie irgendwo abstellen wollte.
“Kann ich Ihnen helfen?” fragte sie. Offenbar erkannte sie ihn nicht.
Andreas schloss die Tür hinter sich. “Ich wollte mich Ihnen nur vorstellen.”
“Ich bin die Lucía, und von diesem unpersönlichen Sie halte ich nichts”, sagte Lucía.
“Ich bin Andreas. Freunde nennen mich Andi.”
“Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe ich vorerst bei Andreas.”
Ganz schön distanziert, die Kleine. Die Sorte Mensch, die dir einen Freundschaftsantrag bei Facebook verweigert, obwohl du eng mit ihr zusammen arbeitest.
“Nun, erzähl mal, Andreas. Woran arbeitest du gerade?”
“Künstliche Intelligenz.”
“Das ist ein weites Feld. Woran arbeitest du genau?”
Sie sah ihm in die Augen. Es waren Sundaris Augen. Das irritierte ihn. Vor wenigen Stunden hatte er noch mit ihr Sex gehabt, und jetzt stand er vor ihr wie ein Schuljunge, der seiner Lehrerin seine Hausaufgabe erklärt.
“Ich gehöre zur Projektgruppe der Psychohistoriker. Vielleicht hast du davon schon gehört.”
“Natürlich.” Die Psychohistoriker waren so etwas wie der geheime Kern von Lemuria. Jeder, der auf den Führungsebenen arbeitete, musste schon etwas von ihnen gehört haben, wenn auch nicht jeder im Detail darüber Bescheid wusste. Alles, was Lemuria anpackte, lief auf ein wichtiges Ziel hinaus: den Traum der Menschheit, die Zukunft vorhersagen zu können, zu erfüllen.
“Dann weißt du sicherlich auch, dass der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov ursprünglich den Begriff Psychohistoriker erfunden hat. Lange Zeit hielt man das für reine Science-Fiction, bis die Lemuria Group das Konzept wieder aufgegriffen hat.”
“Ist mir bekannt. Das grundsätzliche Konzept ist es doch, Wissen zu sammeln und dieses Wissen von einer künstlichen Intelligenz auswerten zu lassen - künstliche Intelligenz deshalb, weil Menschen die Datenflut, die wir täglich generieren, nicht mehr auswerten können.”
“Du sagst es. Demnach besteht das Projekt aus zwei Teilen: Dem Sammeln von Daten und dem Programmieren einer künstlichen Intelligenz, die das verarbeiten kann. Ich beschäftige mich mit zweitem. Ich glaube, wenn die künstliche Intelligenz fertig ist und ich füttere sie mit den Daten von Versailler Vertrag, Weltwirtschaftskrise und der Sozialstruktur und der Politischen Kultur in der Weimarer Republik, wird das Programm errechnen, dass ein zweiter Weltkrieg unweigerlich folgen wird.”
“Aber so weit bist du noch nicht.”
“Nein, aber dafür kann ich schon die Modetrends für Sommer nächstes Jahr errechnen. Das ist auch für die Werbeindustrie viel lukrativer.”
“Und was trägt man so nächstes Jahr?”
“Es wird bunter, luftiger. Die Bikinis werden wieder kürzer. Und für das Freizeit-Outfit sind es dann doch eher weiter geschnittene Hosen und Blusen bei der Dame. Vor allem Blau- und Grün-Töne werden dann stark im Kommen sein.”
“Und das hat dir der Computer gesagt?”
“Ja.”
Lucía pfiff durch die Zähne. Dann lächelte sie ihr schönstes Sundari-Lächeln. “Alle Achtung, ich habe zwar schon viel von den Psychohistorikern gehört, aber ich wusste gar nicht, dass wir schon so weit sind.”
Andreas schwieg. Dafür, dass er diese Frau vor nicht einmal zwölf Stunden gewaltig durchgenudelt hatte, war er jetzt ganz schön schüchtern.
“Gibt es sonst noch was?” fragte Lucía.
“Du erinnerst mich an jemanden. Haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen?”
Lucía lachte. “Das ist die plumpste Anmache, die es gibt.”
“Nein, ich meine es ernst.”
“Kommst du aus Berlin?”
“Nein.”
“Warst du schon mal dort?”
“Selten.”
“Wenn wir uns irgendwo schon mal gesehen haben, erinnere ich mich nicht daran. Muss dann wohl kurz gewesen sein. Beim Bäcker oder so.”
Obwohl Andreas nicht besonders gut darin war, eine Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden, und obwohl er es oft nicht merkte, wenn jemand ihn belog, nahm er ihr es ab. Sie schien tatsächlich keine Ahnung zu haben. Er versuchte es noch mit einer letzten Flucht nach vorne.
“Sagt dir der Name Sundari etwas?”
Lucía sah ihn erschrocken an. “Woher weißt du davon? Wer hat dir vom Sundari-Projekt erzählt?”
Sundari-Projekt? Das wurde ja immer mysteriöser.
“Was ist das Sundari-Projekt?”
“Das darf ich dir nicht sagen. Streng vertraulich. Nur die Führungsebene und die Leute, die daran arbeiten, wissen Bescheid. Du weißt jetzt schon zu viel.”
War sie tatsächlich Sundari, und wollte sie ihre Überraschung dadurch kaschieren? Unwahrscheinlich. Lemuria Inc. heckte wieder irgendetwas aus - nur warum hieß es ausgerechnet Sundari-Projekt? Konnte das alles überhaupt ein Zufall sein?
Andreas hatte keine Antworten gefunden. Statt dessen waren nur noch mehr Fragen aufgetaucht. Fragen, die sich in seinen Schädel bohrten, die ihn kaum noch arbeiten ließen. Warum das alles gerade jetzt? Warum war die Vergangenheit in so vielen Bereichen dabei, ihn einzuholen? Andreas konnte sich keinen Reim darauf machen.
Das Büro des Niederlassungsleiters lag am Ende des Ganges. Die Tür war geschlossen, und gerade machte sich Praktikantin Steffi daran zu schaffen, das Namensschild zu ändern.
“Ist die neue schon da drin?” fragte Andreas.
Die Praktikantin nickte schüchtern und kämpfte weiter mit dem Büroschild.
Andreas klopfte an, und von innen erscholl Sundaris Stimme: “Herein!”
Sundari oder vielmehr: Lucía Sánchez war dabei, sich einzurichten. Sie hatte gerade eine kleine Zimmerpflanze in der Hand, die sie irgendwo abstellen wollte.
“Kann ich Ihnen helfen?” fragte sie. Offenbar erkannte sie ihn nicht.
Andreas schloss die Tür hinter sich. “Ich wollte mich Ihnen nur vorstellen.”
“Ich bin die Lucía, und von diesem unpersönlichen Sie halte ich nichts”, sagte Lucía.
“Ich bin Andreas. Freunde nennen mich Andi.”
“Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe ich vorerst bei Andreas.”
Ganz schön distanziert, die Kleine. Die Sorte Mensch, die dir einen Freundschaftsantrag bei Facebook verweigert, obwohl du eng mit ihr zusammen arbeitest.
“Nun, erzähl mal, Andreas. Woran arbeitest du gerade?”
“Künstliche Intelligenz.”
“Das ist ein weites Feld. Woran arbeitest du genau?”
Sie sah ihm in die Augen. Es waren Sundaris Augen. Das irritierte ihn. Vor wenigen Stunden hatte er noch mit ihr Sex gehabt, und jetzt stand er vor ihr wie ein Schuljunge, der seiner Lehrerin seine Hausaufgabe erklärt.
“Ich gehöre zur Projektgruppe der Psychohistoriker. Vielleicht hast du davon schon gehört.”
“Natürlich.” Die Psychohistoriker waren so etwas wie der geheime Kern von Lemuria. Jeder, der auf den Führungsebenen arbeitete, musste schon etwas von ihnen gehört haben, wenn auch nicht jeder im Detail darüber Bescheid wusste. Alles, was Lemuria anpackte, lief auf ein wichtiges Ziel hinaus: den Traum der Menschheit, die Zukunft vorhersagen zu können, zu erfüllen.
“Dann weißt du sicherlich auch, dass der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov ursprünglich den Begriff Psychohistoriker erfunden hat. Lange Zeit hielt man das für reine Science-Fiction, bis die Lemuria Group das Konzept wieder aufgegriffen hat.”
“Ist mir bekannt. Das grundsätzliche Konzept ist es doch, Wissen zu sammeln und dieses Wissen von einer künstlichen Intelligenz auswerten zu lassen - künstliche Intelligenz deshalb, weil Menschen die Datenflut, die wir täglich generieren, nicht mehr auswerten können.”
“Du sagst es. Demnach besteht das Projekt aus zwei Teilen: Dem Sammeln von Daten und dem Programmieren einer künstlichen Intelligenz, die das verarbeiten kann. Ich beschäftige mich mit zweitem. Ich glaube, wenn die künstliche Intelligenz fertig ist und ich füttere sie mit den Daten von Versailler Vertrag, Weltwirtschaftskrise und der Sozialstruktur und der Politischen Kultur in der Weimarer Republik, wird das Programm errechnen, dass ein zweiter Weltkrieg unweigerlich folgen wird.”
“Aber so weit bist du noch nicht.”
“Nein, aber dafür kann ich schon die Modetrends für Sommer nächstes Jahr errechnen. Das ist auch für die Werbeindustrie viel lukrativer.”
“Und was trägt man so nächstes Jahr?”
“Es wird bunter, luftiger. Die Bikinis werden wieder kürzer. Und für das Freizeit-Outfit sind es dann doch eher weiter geschnittene Hosen und Blusen bei der Dame. Vor allem Blau- und Grün-Töne werden dann stark im Kommen sein.”
“Und das hat dir der Computer gesagt?”
“Ja.”
Lucía pfiff durch die Zähne. Dann lächelte sie ihr schönstes Sundari-Lächeln. “Alle Achtung, ich habe zwar schon viel von den Psychohistorikern gehört, aber ich wusste gar nicht, dass wir schon so weit sind.”
Andreas schwieg. Dafür, dass er diese Frau vor nicht einmal zwölf Stunden gewaltig durchgenudelt hatte, war er jetzt ganz schön schüchtern.
“Gibt es sonst noch was?” fragte Lucía.
“Du erinnerst mich an jemanden. Haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen?”
Lucía lachte. “Das ist die plumpste Anmache, die es gibt.”
“Nein, ich meine es ernst.”
“Kommst du aus Berlin?”
“Nein.”
“Warst du schon mal dort?”
“Selten.”
“Wenn wir uns irgendwo schon mal gesehen haben, erinnere ich mich nicht daran. Muss dann wohl kurz gewesen sein. Beim Bäcker oder so.”
Obwohl Andreas nicht besonders gut darin war, eine Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden, und obwohl er es oft nicht merkte, wenn jemand ihn belog, nahm er ihr es ab. Sie schien tatsächlich keine Ahnung zu haben. Er versuchte es noch mit einer letzten Flucht nach vorne.
“Sagt dir der Name Sundari etwas?”
Lucía sah ihn erschrocken an. “Woher weißt du davon? Wer hat dir vom Sundari-Projekt erzählt?”
Sundari-Projekt? Das wurde ja immer mysteriöser.
“Was ist das Sundari-Projekt?”
“Das darf ich dir nicht sagen. Streng vertraulich. Nur die Führungsebene und die Leute, die daran arbeiten, wissen Bescheid. Du weißt jetzt schon zu viel.”
War sie tatsächlich Sundari, und wollte sie ihre Überraschung dadurch kaschieren? Unwahrscheinlich. Lemuria Inc. heckte wieder irgendetwas aus - nur warum hieß es ausgerechnet Sundari-Projekt? Konnte das alles überhaupt ein Zufall sein?
Andreas hatte keine Antworten gefunden. Statt dessen waren nur noch mehr Fragen aufgetaucht. Fragen, die sich in seinen Schädel bohrten, die ihn kaum noch arbeiten ließen. Warum das alles gerade jetzt? Warum war die Vergangenheit in so vielen Bereichen dabei, ihn einzuholen? Andreas konnte sich keinen Reim darauf machen.
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