Samstag, 4. Mai 2013
00001000 - Am See
mercury mailer, 19:22h
Es klopfte an die Tür.
“Andreas, bist du da drin?”
Seine Mutter.
“Ich muss jetzt gehen”, sagte er zu Prinzessin Sundari. Das Mädchen zog einen Schmollmund und gab ihm einen letzten, flüchtigen Kuss auf die Lippen. Dann löste sich die Prinzessin in Luft auf - und mit ihr der ganze Königspalast. Jetzt saß er wieder im Lesesessel in seinem Zimmer, in seiner Hand die Chroniken von Narnia, in denen er in den vergangenen Stunden kaum gelesen hatte. Kaum hatte er das Buch geöffnet, war er wieder nach Lemuria gekommen - das märchenhaft schöne Land mit der märchenhaft schönen Prinzessin, der er ewige Liebe geschworen hatte. Wenn er groß war, würde er sie mal heiraten. Das hatte er sich fest vorgenommen.
“Andreas, was hast du hier verloren? Draußen ist so schönes Wetter!”
“Draußen ist langweilig”, sagte Andreas. Draußen gab es keine Prinzessinnen. Nur doofe Mädchen aus seiner Klasse. Und die waren weder besonders schön, noch besonders nett zu ihm.
“Komm, geh raus, spielen! Schnapp dir dein Fahrrad und fahr einmal um den Block.”
Das sagte sie jedesmal, wenn ihr nichts mehr einfiel. Schon seit Jahren hatte er keinen neuen Freund mit nach Hause gebracht - weil er keine Freunde hatte. Nicht einen einzigen. Warum auch? Er konnte mit ihnen nichts anfangen. Sie lebten in ihrer eigenen Welt - und er lebte in der seinen. Wenn er mit anderen Leuten aus seiner Klasse zusammen war, dann unterhielten sie sich über Dinge, die ihn langweilten, die er nicht verstand. Sie schienen sich sogar manchmal zu verstehen, ohne dass sie miteinander sprechen mussten. Andreas war das unheimlich.
“Also gut!” Es war mehr eine lästige Pflichtübung. Einmal die Straße runter, dann den jungen Ahornbaum umrundet, der am Ende der Straße in der Mitte auf einer kleinen Verkehrsinsel stand, und dann wieder zurück.
“Aber nicht bloß um den Baum”, fügte seine Mutter hinzu.
Andreas stöhnte.
“Warum gehst du nicht auf die Wiese und spielst Fußball mit den anderen Jungs?”
Weil Andreas Fußball hasste. Er hasste es wie die Pest. 22 Männer, die einem Ball hinterher jagten. Die versuchten, den Ball ins gegnerische Tor zu schießen. Neunzig Minuten lang geschah nichts anderes. Langweilig. Und er selber wollte es erst recht nicht spielen, weil er sich als zu ungeschickt erwiesen hatte. Wenn er mal den Ball hatte, dann wusste er nicht, was er tun sollte, und so stand er immer unschlüssig auf dem Platz herum, bis einer der Gegner ihm den Ball abgenommen hatte. Aus diesem Grund wurde er immer als letzter in die Mannschaft gewählt, und dann bestand seine Strategie darin, möglichst nicht an den Ball zu kommen. Am Anfang hatten die anderen noch versucht, ihn ins Spiel zu integrieren. Doch nachdem sie gemerkt hatten, dass er damit völlig überfordert war, hatten sie es sein lassen. Nein, Fußball, das war definitiv nichts für ihn. Das konnte er nicht. Dazu war er nicht fähig. “Oder spiel mit den anderen fangen.”
Genau so eine Katastrophe. Entweder musste er selber fangen und erwischte nie jemanden, oder er gehörte selber zu denjenigen, die gefangen werden sollten - und war immer der erste, der erwischt wurde. Genau wie beim Völkerball, beim Berliner Wettlauf, bei “Fischer, Fischer, welche Fahne weht heute?” oder bei “Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?”. Eine einzige Katastrophe.
Neuerdings spielten die Kinder aus seinem Viertel im Wendehammer der Nachbarstraße Rollschuhfangen - und er hatte keine Rollschuhe. Das heißt, er hatte welche, war ihnen aber schon längst entwachsen. Er hatte sie nur einmal angehabt und war dabei fürchterlich auf die Nase geflogen - und das schon nach wenigen Schritten. Seine Knie hatten beide geblutet, denn er war - wie es damals unter Kindern üblich war - ohne Knieschützer gefahren. Seitdem hatte er es nie wieder probiert - und damit war er bei den Kindern im Viertel abgemeldet.
Blieb also das Fahrradfahren. Und das tat er alleine. Einmal quer durch die Siedlung durch die zahlreichen Fuß- und Radwege, vorbei an kleinen Reihenhäusern mit Gärten. Mal fuhr er auch runter zum Spielplatz, wo er schaukelte. Und manchmal etwas weiter weg bis zum See, wo er sich ans Ufer legte, dem sanften Plätschern und dem Zwitschern der Vögel zuhörte und sich nach Lemuria träumte.
“Ich fahr Rad”, sagte Andreas. “Und nicht nur um den Baum.”
Er ging in die Garage, schnappte sich sein Fahrrad, schloss das Garagentor ab und machte sich dann auf den Weg. Der Fahrtwind peitschte ihm ins Gesicht, als er die Straße seines Elternhauses verließ und nach rechts in die nächste Straße einbog. Eine wenig stark befahrene Straße, die mitten durch das Wohngebiet führte. Heute lag sie in der 30er-Zone, doch damals durften die Autos hier noch 50 fahren. Seine Mutter hatte immer Angst, wenn er das eng umrissene Wohnviertel verließ, doch dann wurde es für Andreas erst spannend. Im Viertel gab es nur Häuser, einen Spielplatz, eine Wiese, auf der die Kinder immer Fußball spielten, diverse Wohnwege mit Einfamilienhäusern, Reihenhäusern und einem Hochhaus, das direkt an der Wiese stand. Gepflegte Langeweile. Und Kinder, die ihm auf die Nerven gingen. Weil sie sich über ihn lustig machten, weil sie ihn nicht mitspielen ließen. Weil sie gehörige Nervensägen waren. Sie ärgerten ihn sogar, wenn er ihnen zu nahe kam. Und er war recht leicht zu ärgern, da er alles glaubte, was man ihm erzählte - sofern es einigermaßen glaubwürdig war.
Also nichts wie raus aus dem Viertel, eine Straße in Richtung Westen, eine größere Straße überquert, und schon war er dem Autoverkehr entronnen. Er hatte die Felder erreicht, die sich im Westen der Stadt ausbreiteten - bis hin zum See. Hier hatte er seine Ruhe. Ab und zu fuhren hier noch Traktoren oder andere Fahrräder, aber ansonsten waren hier nur Felder und die Bahnstrecke, auf der aber selten nur ein Zug fuhr.
In den Wiesen und Feldern westlich der Stadt roch es nach Sommer. Die Grillen verbreiteten ihren zirpenden Lärm, und von der Ferne tönte der Fahrzeuglärm der Autobahn. Aber ansonsten war es ruhig, und Andreas hörte, wie seine Reifen über den Asphalt des Feldwegs rollten und wie seine Kette die Räder antrieb. Er hatte auf dem geraden Feldweg beschleunigt - sein Tachometer zeigte jetzt 30 km/h an. Das war schnell für einen Jungen in seinem Alter. Aber er liebte es, schnell zu fahren und den Wind in seinem Gesicht zu spüren.
Am See angekommen versteckte er sein Fahrrad in einem Gebüsch und ging hinab ans Ufer, bis er direkt an der Wasserfläche stand, die in der Sonne silbrig golden funkelte. Er hörte das Quaken der Frösche und beobachtete, wie Wasserläufer über das Wasser huschten - so wie einst Jesus auf dem Wasser gegangen war.
“Schön hier, nicht wahr?” hörte er plötzlich eine Stimme. Die Stimme eines Mädchens. Er sah sich um und erblickte Prinzessin Sundari. Zunächst war er leicht verwirrt, denn Sundari hatte er noch nie in der wirklichen Welt gesehen. Sonst war Sathi der einzige Lemurier, der je in seiner eigenen Welt aufgetaucht war.
Anmutig schritt sie auf Andreas zu. Ihr langes, schwarzes Haar glänzte in der Sonne. Ihre dunklen Augeln funkelten ihn an. Sie lächelte und entblößte dabei strahlend weiße Zähne.
“Du lebst in einer sehr schönen Welt”, stellte sie fest.
“Nicht so schön wie deine”, entgegnete Andreas. Ganz entgegen seiner Gewohnheit blickte er ihr tief in die Augen.
“Aber schau doch: Der See, die Tiere. Der Sommer.” Sie hatte einen süßen Akzent.
“Aber in deiner Welt begegnet man sich mit viel mehr Respekt. Das fehlt in dieser Welt. Niemand hat Respekt vor mir.”
“Hier weiß keiner, was für ein Held du bist.”
“Weil ich kein Held bin. In deiner Welt bin ich stark. Hier bin ich schwach. In deiner Welt kann ich reiten und fechten. Hier kann ich es nicht. Ich bin wie Superman. In deiner Welt wachsen mir Superkräfte, die ich hier nicht habe.”
“Wer ist Superman?”
“Nicht so wichtig.”
Er warf einen Kieselstein in den See, der mit einem lauten Platschen und Glucksen unterging.
“Meinst du, wir könnten zusammen in deiner Welt leben?”
Andreas schüttelte den Kopf. “Ich will in dieser Welt nicht leben. Erwachsen sein ist furchtbar. Meine Eltern sitzen ständig mit dem Taschenrechner im Wohnzimmer und zahlen Rechnungen oder schreiben an der Steuererklärung. Mein Vater hämmert und bohrt, meine Mutter näht und strickt. Ich will das alles nicht. Und alle machen sich über mich lustig - und ich weiß noch nicht mal, warum.”
“Weil du anders bist.”
“Wieso anders?”
“Du kommst aus einer anderen Welt.”
“Aus deiner Welt?”
Sundari lachte. “Ich glaube nicht - aber es wäre möglich.”
“Aber das erklärt vieles. Ich kann keine Schuhe binden - und wenn ich sie doch binde, dann gehen sie immer auf. Meine Mutter kauft mir deswegen immer Klettverschlussschuhe. Ich konnte früher nicht mit dem Füller schreiben. Meine ganze Hand war blau, wenn ich es versucht habe. Ich kann nicht basteln. Ich kriege das nie so gut hin wie die anderen Kinder. Was die anderen Kinder können, ohne sich anzustrengen, das krieg ich nicht hin - auch wenn ich mich noch so anstrenge.”
“Gibt es denn nichts, was du besonders gut kannst?”
“Doch. Lesen. Das konnte ich schon, bevor ich in die Schule bin. Rechnen. Ich bin besser als alle anderen in meiner Klasse. Und schreiben. Wenn wir Aufsätze als Hausaufgaben auf hatten, dann wollen alle Kinder, dass ich meinen Aufsatz vorlese - weil sie meine Aufsätze so toll finden.”
“Na, siehst du, man kann nichts alles können.”
“Was kannst du denn?”
“Mein Vater bringt mir das Regieren bei. Er sagt, da ich keine Brüder habe und die älteste bin, werde ich eines Tages Königin.”
“Und was machst du jetzt genau, wenn du regierst?”
“Ich sage den Leuten, was sie machen sollen und was nicht.”
“Das ist einfach.”
“So, glaubst du? Dann stell dir vor, du bist König, und in deinem Reich ist eine Seuche ausgebrochen. Eine sehr gefährliche, sehr ansteckende und tödliche Seuche. Da taucht eines Tages ein Alchemist auf, der sagt, er hätte das Gegenmittel gefunden. Aber nur die Reichen können es sich leisten. Also werden die Reichen gesund, während die Armen krank bleiben und weiterhin sterben. Du beschließt als König, den Armen die Medikamente zu spendieren. Der Alchemist nennt dir seinen Preis, aber dein Schatzmeister sagt dir, dass du den Preis nicht bezahlen kannst. Du gehst zum Alchemisten und bittest ihn, mit dem Preis nach unten zu gehen. Aber er weigert sich und sagt, er braucht das Geld. Was tust du?”
“Ich würde ihn festnehmen und zwingen, das Mittel rauszurücken.”
“Würdest du das wirklich?” Sie sah ihn verschmitzt an.
“Würde dich das zu einem guten König machen?” Sie war süß.
“Ich würde gerne König werden. Wenn ich groß bin, dann heirate ich dich, und dann werden wir zusammen über Lemuria regieren.”
“Über Madhya Lemuria”, verbesserte ihn Sundari. “Lemuria ist der Name des Kontinents, und da gibt es auch noch andere Länder. Aber ja, wenn ich groß bin, will ich dich auch heiraten. Aber mein Vater hat gesagt, wenn ich groß bin, dann bin ich Königin, und wenn ich heirate, dann ist mein Mann nur der Prinzgemahl, aber kein König.”
“Damit könnte ich leben”, sagte Andreas. “Du bist das schönste Mädchen, das ich kenne. Und das liebste.
“Ja? Du bist aber auch nicht übel.”
Er wollte sie küssen, aber er war erst neun Jahre alt und noch nicht in der Pubertät. Außerdem wusste er nicht, wie man “richtig” küsst, und so gab er ihr nur einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Sie lächelte.
“Andreas, bist du da drin?”
Seine Mutter.
“Ich muss jetzt gehen”, sagte er zu Prinzessin Sundari. Das Mädchen zog einen Schmollmund und gab ihm einen letzten, flüchtigen Kuss auf die Lippen. Dann löste sich die Prinzessin in Luft auf - und mit ihr der ganze Königspalast. Jetzt saß er wieder im Lesesessel in seinem Zimmer, in seiner Hand die Chroniken von Narnia, in denen er in den vergangenen Stunden kaum gelesen hatte. Kaum hatte er das Buch geöffnet, war er wieder nach Lemuria gekommen - das märchenhaft schöne Land mit der märchenhaft schönen Prinzessin, der er ewige Liebe geschworen hatte. Wenn er groß war, würde er sie mal heiraten. Das hatte er sich fest vorgenommen.
“Andreas, was hast du hier verloren? Draußen ist so schönes Wetter!”
“Draußen ist langweilig”, sagte Andreas. Draußen gab es keine Prinzessinnen. Nur doofe Mädchen aus seiner Klasse. Und die waren weder besonders schön, noch besonders nett zu ihm.
“Komm, geh raus, spielen! Schnapp dir dein Fahrrad und fahr einmal um den Block.”
Das sagte sie jedesmal, wenn ihr nichts mehr einfiel. Schon seit Jahren hatte er keinen neuen Freund mit nach Hause gebracht - weil er keine Freunde hatte. Nicht einen einzigen. Warum auch? Er konnte mit ihnen nichts anfangen. Sie lebten in ihrer eigenen Welt - und er lebte in der seinen. Wenn er mit anderen Leuten aus seiner Klasse zusammen war, dann unterhielten sie sich über Dinge, die ihn langweilten, die er nicht verstand. Sie schienen sich sogar manchmal zu verstehen, ohne dass sie miteinander sprechen mussten. Andreas war das unheimlich.
“Also gut!” Es war mehr eine lästige Pflichtübung. Einmal die Straße runter, dann den jungen Ahornbaum umrundet, der am Ende der Straße in der Mitte auf einer kleinen Verkehrsinsel stand, und dann wieder zurück.
“Aber nicht bloß um den Baum”, fügte seine Mutter hinzu.
Andreas stöhnte.
“Warum gehst du nicht auf die Wiese und spielst Fußball mit den anderen Jungs?”
Weil Andreas Fußball hasste. Er hasste es wie die Pest. 22 Männer, die einem Ball hinterher jagten. Die versuchten, den Ball ins gegnerische Tor zu schießen. Neunzig Minuten lang geschah nichts anderes. Langweilig. Und er selber wollte es erst recht nicht spielen, weil er sich als zu ungeschickt erwiesen hatte. Wenn er mal den Ball hatte, dann wusste er nicht, was er tun sollte, und so stand er immer unschlüssig auf dem Platz herum, bis einer der Gegner ihm den Ball abgenommen hatte. Aus diesem Grund wurde er immer als letzter in die Mannschaft gewählt, und dann bestand seine Strategie darin, möglichst nicht an den Ball zu kommen. Am Anfang hatten die anderen noch versucht, ihn ins Spiel zu integrieren. Doch nachdem sie gemerkt hatten, dass er damit völlig überfordert war, hatten sie es sein lassen. Nein, Fußball, das war definitiv nichts für ihn. Das konnte er nicht. Dazu war er nicht fähig. “Oder spiel mit den anderen fangen.”
Genau so eine Katastrophe. Entweder musste er selber fangen und erwischte nie jemanden, oder er gehörte selber zu denjenigen, die gefangen werden sollten - und war immer der erste, der erwischt wurde. Genau wie beim Völkerball, beim Berliner Wettlauf, bei “Fischer, Fischer, welche Fahne weht heute?” oder bei “Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?”. Eine einzige Katastrophe.
Neuerdings spielten die Kinder aus seinem Viertel im Wendehammer der Nachbarstraße Rollschuhfangen - und er hatte keine Rollschuhe. Das heißt, er hatte welche, war ihnen aber schon längst entwachsen. Er hatte sie nur einmal angehabt und war dabei fürchterlich auf die Nase geflogen - und das schon nach wenigen Schritten. Seine Knie hatten beide geblutet, denn er war - wie es damals unter Kindern üblich war - ohne Knieschützer gefahren. Seitdem hatte er es nie wieder probiert - und damit war er bei den Kindern im Viertel abgemeldet.
Blieb also das Fahrradfahren. Und das tat er alleine. Einmal quer durch die Siedlung durch die zahlreichen Fuß- und Radwege, vorbei an kleinen Reihenhäusern mit Gärten. Mal fuhr er auch runter zum Spielplatz, wo er schaukelte. Und manchmal etwas weiter weg bis zum See, wo er sich ans Ufer legte, dem sanften Plätschern und dem Zwitschern der Vögel zuhörte und sich nach Lemuria träumte.
“Ich fahr Rad”, sagte Andreas. “Und nicht nur um den Baum.”
Er ging in die Garage, schnappte sich sein Fahrrad, schloss das Garagentor ab und machte sich dann auf den Weg. Der Fahrtwind peitschte ihm ins Gesicht, als er die Straße seines Elternhauses verließ und nach rechts in die nächste Straße einbog. Eine wenig stark befahrene Straße, die mitten durch das Wohngebiet führte. Heute lag sie in der 30er-Zone, doch damals durften die Autos hier noch 50 fahren. Seine Mutter hatte immer Angst, wenn er das eng umrissene Wohnviertel verließ, doch dann wurde es für Andreas erst spannend. Im Viertel gab es nur Häuser, einen Spielplatz, eine Wiese, auf der die Kinder immer Fußball spielten, diverse Wohnwege mit Einfamilienhäusern, Reihenhäusern und einem Hochhaus, das direkt an der Wiese stand. Gepflegte Langeweile. Und Kinder, die ihm auf die Nerven gingen. Weil sie sich über ihn lustig machten, weil sie ihn nicht mitspielen ließen. Weil sie gehörige Nervensägen waren. Sie ärgerten ihn sogar, wenn er ihnen zu nahe kam. Und er war recht leicht zu ärgern, da er alles glaubte, was man ihm erzählte - sofern es einigermaßen glaubwürdig war.
Also nichts wie raus aus dem Viertel, eine Straße in Richtung Westen, eine größere Straße überquert, und schon war er dem Autoverkehr entronnen. Er hatte die Felder erreicht, die sich im Westen der Stadt ausbreiteten - bis hin zum See. Hier hatte er seine Ruhe. Ab und zu fuhren hier noch Traktoren oder andere Fahrräder, aber ansonsten waren hier nur Felder und die Bahnstrecke, auf der aber selten nur ein Zug fuhr.
In den Wiesen und Feldern westlich der Stadt roch es nach Sommer. Die Grillen verbreiteten ihren zirpenden Lärm, und von der Ferne tönte der Fahrzeuglärm der Autobahn. Aber ansonsten war es ruhig, und Andreas hörte, wie seine Reifen über den Asphalt des Feldwegs rollten und wie seine Kette die Räder antrieb. Er hatte auf dem geraden Feldweg beschleunigt - sein Tachometer zeigte jetzt 30 km/h an. Das war schnell für einen Jungen in seinem Alter. Aber er liebte es, schnell zu fahren und den Wind in seinem Gesicht zu spüren.
Am See angekommen versteckte er sein Fahrrad in einem Gebüsch und ging hinab ans Ufer, bis er direkt an der Wasserfläche stand, die in der Sonne silbrig golden funkelte. Er hörte das Quaken der Frösche und beobachtete, wie Wasserläufer über das Wasser huschten - so wie einst Jesus auf dem Wasser gegangen war.
“Schön hier, nicht wahr?” hörte er plötzlich eine Stimme. Die Stimme eines Mädchens. Er sah sich um und erblickte Prinzessin Sundari. Zunächst war er leicht verwirrt, denn Sundari hatte er noch nie in der wirklichen Welt gesehen. Sonst war Sathi der einzige Lemurier, der je in seiner eigenen Welt aufgetaucht war.
Anmutig schritt sie auf Andreas zu. Ihr langes, schwarzes Haar glänzte in der Sonne. Ihre dunklen Augeln funkelten ihn an. Sie lächelte und entblößte dabei strahlend weiße Zähne.
“Du lebst in einer sehr schönen Welt”, stellte sie fest.
“Nicht so schön wie deine”, entgegnete Andreas. Ganz entgegen seiner Gewohnheit blickte er ihr tief in die Augen.
“Aber schau doch: Der See, die Tiere. Der Sommer.” Sie hatte einen süßen Akzent.
“Aber in deiner Welt begegnet man sich mit viel mehr Respekt. Das fehlt in dieser Welt. Niemand hat Respekt vor mir.”
“Hier weiß keiner, was für ein Held du bist.”
“Weil ich kein Held bin. In deiner Welt bin ich stark. Hier bin ich schwach. In deiner Welt kann ich reiten und fechten. Hier kann ich es nicht. Ich bin wie Superman. In deiner Welt wachsen mir Superkräfte, die ich hier nicht habe.”
“Wer ist Superman?”
“Nicht so wichtig.”
Er warf einen Kieselstein in den See, der mit einem lauten Platschen und Glucksen unterging.
“Meinst du, wir könnten zusammen in deiner Welt leben?”
Andreas schüttelte den Kopf. “Ich will in dieser Welt nicht leben. Erwachsen sein ist furchtbar. Meine Eltern sitzen ständig mit dem Taschenrechner im Wohnzimmer und zahlen Rechnungen oder schreiben an der Steuererklärung. Mein Vater hämmert und bohrt, meine Mutter näht und strickt. Ich will das alles nicht. Und alle machen sich über mich lustig - und ich weiß noch nicht mal, warum.”
“Weil du anders bist.”
“Wieso anders?”
“Du kommst aus einer anderen Welt.”
“Aus deiner Welt?”
Sundari lachte. “Ich glaube nicht - aber es wäre möglich.”
“Aber das erklärt vieles. Ich kann keine Schuhe binden - und wenn ich sie doch binde, dann gehen sie immer auf. Meine Mutter kauft mir deswegen immer Klettverschlussschuhe. Ich konnte früher nicht mit dem Füller schreiben. Meine ganze Hand war blau, wenn ich es versucht habe. Ich kann nicht basteln. Ich kriege das nie so gut hin wie die anderen Kinder. Was die anderen Kinder können, ohne sich anzustrengen, das krieg ich nicht hin - auch wenn ich mich noch so anstrenge.”
“Gibt es denn nichts, was du besonders gut kannst?”
“Doch. Lesen. Das konnte ich schon, bevor ich in die Schule bin. Rechnen. Ich bin besser als alle anderen in meiner Klasse. Und schreiben. Wenn wir Aufsätze als Hausaufgaben auf hatten, dann wollen alle Kinder, dass ich meinen Aufsatz vorlese - weil sie meine Aufsätze so toll finden.”
“Na, siehst du, man kann nichts alles können.”
“Was kannst du denn?”
“Mein Vater bringt mir das Regieren bei. Er sagt, da ich keine Brüder habe und die älteste bin, werde ich eines Tages Königin.”
“Und was machst du jetzt genau, wenn du regierst?”
“Ich sage den Leuten, was sie machen sollen und was nicht.”
“Das ist einfach.”
“So, glaubst du? Dann stell dir vor, du bist König, und in deinem Reich ist eine Seuche ausgebrochen. Eine sehr gefährliche, sehr ansteckende und tödliche Seuche. Da taucht eines Tages ein Alchemist auf, der sagt, er hätte das Gegenmittel gefunden. Aber nur die Reichen können es sich leisten. Also werden die Reichen gesund, während die Armen krank bleiben und weiterhin sterben. Du beschließt als König, den Armen die Medikamente zu spendieren. Der Alchemist nennt dir seinen Preis, aber dein Schatzmeister sagt dir, dass du den Preis nicht bezahlen kannst. Du gehst zum Alchemisten und bittest ihn, mit dem Preis nach unten zu gehen. Aber er weigert sich und sagt, er braucht das Geld. Was tust du?”
“Ich würde ihn festnehmen und zwingen, das Mittel rauszurücken.”
“Würdest du das wirklich?” Sie sah ihn verschmitzt an.
“Würde dich das zu einem guten König machen?” Sie war süß.
“Ich würde gerne König werden. Wenn ich groß bin, dann heirate ich dich, und dann werden wir zusammen über Lemuria regieren.”
“Über Madhya Lemuria”, verbesserte ihn Sundari. “Lemuria ist der Name des Kontinents, und da gibt es auch noch andere Länder. Aber ja, wenn ich groß bin, will ich dich auch heiraten. Aber mein Vater hat gesagt, wenn ich groß bin, dann bin ich Königin, und wenn ich heirate, dann ist mein Mann nur der Prinzgemahl, aber kein König.”
“Damit könnte ich leben”, sagte Andreas. “Du bist das schönste Mädchen, das ich kenne. Und das liebste.
“Ja? Du bist aber auch nicht übel.”
Er wollte sie küssen, aber er war erst neun Jahre alt und noch nicht in der Pubertät. Außerdem wusste er nicht, wie man “richtig” küsst, und so gab er ihr nur einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Sie lächelte.
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