Sonntag, 5. Mai 2013
00001001 - Rajadhani
mercury mailer, 10:27h
Ein Lemure riss ihn aus seinen Gedanken. Wohlgemerkt ein Lemure, kein Lemurier. Diese beiden Worte sollte man unter gar keinen Umständen miteinander verwechseln, denn es gilt als grobe Beleidigung, einen Lemurier als Lemuren zu bezeichnen. Lemuren sind Halbaffen, kleine, pelzige Tiere, die den Affen ähnlich sehen. In Lemuria konnten die Lemuren sprechen, und sie hatten auch einen gewissen Grad an Intelligenz. Selten waren sie intelligenter als ein durchschnittlicher Sonderschüler, aber das reichte für ihre Zwecke vollkommen aus, denn die Lemuren dienten den Lemuriern als Sklaven, oder treffender: als Dienstboten. Lemuren mochten zwar im Vergleich mit Menschen nicht sonderlich intelligent sein, aber sie galten als äußerst höflich und waren mit einem feinen Gespür für Anstand ausgestattet. Hinzu kam, dass sie äußerst putzig waren. Sie besaßen also all die Eigenschaften, die Dienstboten bei den Lemuriern brauchten.
Dieser Lemure war klein, hatte ein braunes Fell und einen schwarz-weiß gestreiften Schwanz. Sein Gesicht war fast komplett weiß. Nur um die Augen hatte er zwei schwarze Flecken und einen weiteren um die Schnauze. Es sah ein wenig aus wie ein Totenschädel, doch das Wesen des Lemuren war alles andere als furchteinflößend.
“Ich störe Sie nur ungern, Srimana”, sagte der Lemure. “Aber ich habe den Auftrag, Sie nach Rajadhani zu bringen. Ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten. Mein Name ist Pacasa, und ich stehe stets zu Ihren Diensten.”
Wie zur Zustimmung oder als Kommentar trompetete plötzlich ein Elefant. Andreas sah auf, und da stand er vor ihm: Ein gewaltiger indischer Elefant mit kurzen Stoßzähnen und kleinen Ohren. Auf seinem Rücken trug er so etwas wie einen kleinen Pavillon, der aus einem roten Baldachin bestand, der wiederum von goldenen Säulen getragen wurde. Eine rote Decke mit weißem Muster lag unter dem Baldachin und hing links und rechts an den Flanken des Elefanten herunter. Im Baldachin aber saß ein weiterer Lemur. Er sah aus wie ein Koboldmaki - außer, dass er größer war. Seine beiden Augen nahmen fast den gesamten Kopf ein. Er schien zu grinsen. Dann zog er an einer Leine, und eine Art Strickleiter fiel an der rechten Flanke des Elefanten herab, bis die unterste Sprosse den Boden und die oberste den Pavillon berührte.
“Von wem kommt denn der Auftrag?” fragte Andreas.
“Von Königin Sundari”, antwortete Pacasa. “Ich soll Sie zu ihr bringen.”
“Hat sie noch mehr gesagt?”
“Nein, nur das.”
Andreas stieg die ersten Sprossen der Leiter nach oben. Normalerweise, in seiner Welt, wäre ihm schwindelig geworden. Er hätte sich geweigert weiterzugehen, und er hätte Angst gehabt, er könnte abstürzen. Viel zu wackelig war die Leiter, und sie schwankte hin und her, während er hochkletterte, obwohl der Elefant wie eine Statue stehen blieb. Aber dies war nicht seine Welt. Dies war Lemuria, und hier hatte er Kräfte, die ihm in seiner Welt fehlten. Mühelos erklomm er die Leiter Sprosse für Sprosse, bis er oben im Pavillon angekommen war, wo er auf einem bequemen Teppich Platz nahm. Hinter ihm huschte Pacasa die Leiter hoch, und war Andreas schon flink gewesen, so erwies sich der Lemure als wahres Klettertalent. Es vergingen keine zwei Minuten von der ersten Begegnung bis zum Aufbruch des Elefanten. Pacasa zog noch die Strickleiter nach oben, und schon setzte sich der Elefant in Bewegung. Die Lemuren schienen es eilig zu haben.
Der Weg war länger, als Andreas es in Erinnerung hatte. Zuerst bewegten sie sich durch einen Dschungel mit einem nahezu undurchdringlichen Blätterdach. Zahlreiche Vögel ließen ihr Gekreische hören, während sich der Elefant gemächlich seinen Weg durch das Dickicht bahnte. Doch dann, als die Reise durch den Urwald kein Ende mehr nehmen wollte, öffnete sich der Wald wie ein Vorhang und gab den Blick frei auf eine scheinbar endlose Ebene, die nahezu komplett unter Wasser stand. Nur einige Dämme ragten aus dem Wasser hervor. Der Elefant, der von dem Koboldmaki geführt wurde, stieg auf einen der Dämme, und dann entdeckte Andreas, warum alles unter Wasser stand: Hier wuchs Reis. Und in manchen Becken waren dunkelhäutige Lemurier dabei, die Reispflanzen zu pflegen, zu pflanzen oder zu ernten. Er wusste es auch nicht genau, denn mit Reis kannte er sich nicht aus. Ihn interessierte es auch nicht.
Der Elefant schien keiner Hauptstraße zu folgen. Er bog mal nach rechts, mal nach links auf einen anderen Damm ab. Es war ein Labyrinth von Dämmen, das durch diese Reisebene führte. Schon bald war nach allen Seiten nichts anderes mehr zu sehen als diese unendlichen Reisfelder. Nur in der Ferne erhoben sich die schneebedeckten Gipfel des Asamana-Taka-Gebirges.
Allmählich bekam Andreas Hunger. Aber er unterdrückte ihn. Wenn die Lemuren etwas zu essen für ihn hatten, würden sie es schon sagen. Momentan machten sie keine Anstalten, als würde in der nächsten Zeit irgendetwas geschehen. Sie schwiegen oder unterhielten sich in ihrer ureigenen Sprache, die ein Mensch weder verstehen, noch lernen und erst recht nicht sprechen konnte.
Erst als Andreas dachte, dass er für immer in diesen endlosen Reisfeldern bleiben musste, tauchte eine Kette von Hügeln am Horizont auf. Die Hügel wurden größer und entpuppten sich als veritables Mittelgebirge, das aber - anders als die Mittelgebirge in Deutschland - nicht bewaldet war. Statt dessen bestand es aus Grasland, das ab und zu von Büschen durchsetzt war. Genau darauf hielt der Elefant zu.
Auch das Mittelgebirge war nicht in einer halben Stunde abgehakt - im Gegenteil: Waren sie wohl am frühen Morgen gestartet, so stand die Sonne schon sehr tief, als sie endlich die Anhöhe erreichten, von der Andreas zum ersten Mal die Stadt Rajadhani sehen konnte. Es hatte sich nichts, absolut gar nichts verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war.
Rajadhani war eine Stadt, die in konzentrischen Kreisen angelegt war: In der Mitte stand der Königspalast, ein riesiger Bau mit zahlreichen Innenhöfen inmitten einer gewaltigen Parkanlage. Um den Palast herum waren die Gebäude der Reichen: Königliche Beamte und vor allem Kaufleute, die in großen Villen und geräumigen Gärten residierten. Dann folgten nach außen hin die Gebäude der Mittelschicht. Sie wurden kleiner und auch ein wenig schäbiger. Denn jetzt wohnten Handwerker und kleinere, also weniger reiche Kaufleute in immer noch teilweise schmucken Stadthäusern. Aber die Straßen wurden enger und waren immer seltener gepflastert, und Parks gab es hier kaum noch. Dafür erhob sich so mancher Tempel mit seinen prächtigen Bauten über das Häusermeer. Noch weiter draußen gingen die Stadtviertel der Lohnarbeiter langsam in die Armenviertel, in die Slums der Stadt über. Hier wohnten die Ärmsten der Armen, die Tagelöhner und auch die Bauern, die ihre Felder verlassen hatten in der Hoffnung, in der Stadt eine bessere Arbeit zu finden. Je weiter man nach außen blickte, desto armseliger wurden die Behausungen. Zunächst waren es noch Lehmhütten, dann wurden es einfache Wellblechhütten, die bunt zusammengewürfelt ein labyrinthartiges Gassengewirr bildeten. Noch weiter außen ging die Stadt in das Grasland über. Hier waren es Stoffzelte, in denen die Menschen hausten.
Doch mitten durch die Elendviertel hindurch führten vier Prachtstraßen - eine in jede Himmelsrichtung. So dass jeder den Königspalast erreichen konnte, ohne sich durch die Slums durchzukämpfen. Bewacht waren die Straßen von Rittern in glänzenden Rüstungen, die darauf achteten, dass keiner der Reisenden angegriffen oder auch nur belästigt wurde, der ins Innere der Stadt vordringen wollte.
Auf der Prachtstraße war viel los - und es war nicht verwunderlich, denn es war der einzige Ort der Stadt, an dem sich Menschen aus allen sozialen Schichten tummelten. Da gab es verdreckte, ausgemergelte Männer, die sich gerade mal einen Lendenschurz leisten konnten, Handwerker, die mit Ochsenkarren unterwegs waren - das Automobil war in dieser Welt noch nicht erfunden. Kinder, die in verdreckten Hemden durch die Stadt rannten, und Sänften, in denen Lemuren reiche Menschen durch die Stadt trugen. Ab und zu entdeckte Andreas auch einen Vertreter einer anderen Spezies - einen Zwerg beispielsweise oder einen Zentauren. Aber diese Wesen trauten sich nur selten in die großen Städte der Menschen. Oftmals waren sie und die Lemuren die einzigen intelligenten Spezies in derartigen Städten.
Endlich hatten sie den Königspalast erreicht. Er sah aus wie eine Mischung aus Buckingham-Palast und 1001 Nacht. Genau so hatte sich Andreas immer den Palast des Kaisers von Indien vorgestellt, als er noch klein gewesen war. In der Mitte ein gewaltiges Haus von der Höhe eines Turmes. Die Kuppel, aus dem das Dach bestand, sah so aus wie die Kuppel des Tadsch Mahal. Links und rechts daneben die Seitenflügel, die im Erdgeschoss aus Säulenhallen bestanden, im Obergeschoss dann aber mit eher nüchtern wirkenden Fassaden mit nur wenig Zierrat ausgestattet waren, bevor darüber schlanke, weiße Türme wie Minarette bis in den Himmel wuchsen.
Vor dem Schloss aber war eine hohe Mauer, die von einem noch höheren Eisenzaun bekrönt war. Nur an einer einzigen Stelle gab es einen Durchlass. Die Wachen, die dort Dienst hatten, sahen so ähnlich aus wie britische Palastwachen. Auch sie trugen rote Uniformen, aber auf dem Kopf hatten sie goldene Helme anstatt der schwarzen Bärenfellmützen. Als der Elefant auf die Wachen zukamen, standen sie stramm und salutierten. Andere Wachen öffneten schnell die Schranke, so dass das Tier hindurch marschieren konnte, ohne anzuhalten.
Der Elefant stoppte erst, als sie im Ehrenhof angekommen waren. An drei von vier Seiten waren sie jetzt von Palastflügeln umgeben. Jeder sah anders aus. Neben dem orientalischen Mittelflügel gab es rechts und links Gebäude, die eher an den chinesischen Stil erinnerten. Verspielte, rote Pagodendächer bekrönten die Türme, die auf dem ansonsten nüchternen Gebäude aufsaßen.
Und dann sah er SIE: Sie saß auf dem Thron in einer goldenen Sänfte, die von acht Lemuren getragen wurde. Sie war mit den Jahren noch viel schöner geworden - auch reifer. Und in ihrem Gesicht bildeten sich die ersten Falten. Doch noch immer waren ihre Augen von diesem undurchdringlichen Braun. Noch immer waren ihre Haare schwarz und so lang, dass sie ihr bis zur Hüfte reichten. Noch immer hatte sie diese hohen Wangenknochen, diese gerade und nicht zu große Nase, diese vollen Lippen und diese bronzebraune Haut. Noch immer war sie die schönste Frau, die Andreas je gesehen hatte - was nichts heißen mag, da er ohnehin den ganzen Tag am Computer saß. Aber trotzdem: Auch auf YouTube und Lemuria (also dem Computer-Lemuria) gab es schöne Frauen. Und sie konnten alle nicht Königin Sundari das Wasser reichen.
Andreas erwartete, dass der Koboldmaki jeden Moment die Strickleiter nach unten lassen würde, doch statt dessen geschah etwas anderes: Der Rüssel des Elefanten packte ihn, holte ihn aus dem Pavillon heraus, hob ihn durch die Luft und setzte ihn direkt vor der Sänfte der Königin auf die Füße. Andreas wollte sofort auf die Knie gehen und vor Sundari den Boden küssen, so wie es in Lemuria Brauch war, doch Sundari winkte ab. “Nein, Andreas. Du brauchst vor mir nicht auf die Knie zu gehen. Wir sind alte Freunde. Und als einen solchen möchte ich dich in meinem Haus begrüßen. Nach allem, was du für mein Reich und für unsere Welt getan hast, ist es nur fair, wenn wir uns auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen.”
Sie gab den Lemuren ein Zeichen, und sie ließen die Sänfte nieder. Dann erhob sich Sundari, ging auf Andreas zu und umarmte ihn.
Dieser Lemure war klein, hatte ein braunes Fell und einen schwarz-weiß gestreiften Schwanz. Sein Gesicht war fast komplett weiß. Nur um die Augen hatte er zwei schwarze Flecken und einen weiteren um die Schnauze. Es sah ein wenig aus wie ein Totenschädel, doch das Wesen des Lemuren war alles andere als furchteinflößend.
“Ich störe Sie nur ungern, Srimana”, sagte der Lemure. “Aber ich habe den Auftrag, Sie nach Rajadhani zu bringen. Ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten. Mein Name ist Pacasa, und ich stehe stets zu Ihren Diensten.”
Wie zur Zustimmung oder als Kommentar trompetete plötzlich ein Elefant. Andreas sah auf, und da stand er vor ihm: Ein gewaltiger indischer Elefant mit kurzen Stoßzähnen und kleinen Ohren. Auf seinem Rücken trug er so etwas wie einen kleinen Pavillon, der aus einem roten Baldachin bestand, der wiederum von goldenen Säulen getragen wurde. Eine rote Decke mit weißem Muster lag unter dem Baldachin und hing links und rechts an den Flanken des Elefanten herunter. Im Baldachin aber saß ein weiterer Lemur. Er sah aus wie ein Koboldmaki - außer, dass er größer war. Seine beiden Augen nahmen fast den gesamten Kopf ein. Er schien zu grinsen. Dann zog er an einer Leine, und eine Art Strickleiter fiel an der rechten Flanke des Elefanten herab, bis die unterste Sprosse den Boden und die oberste den Pavillon berührte.
“Von wem kommt denn der Auftrag?” fragte Andreas.
“Von Königin Sundari”, antwortete Pacasa. “Ich soll Sie zu ihr bringen.”
“Hat sie noch mehr gesagt?”
“Nein, nur das.”
Andreas stieg die ersten Sprossen der Leiter nach oben. Normalerweise, in seiner Welt, wäre ihm schwindelig geworden. Er hätte sich geweigert weiterzugehen, und er hätte Angst gehabt, er könnte abstürzen. Viel zu wackelig war die Leiter, und sie schwankte hin und her, während er hochkletterte, obwohl der Elefant wie eine Statue stehen blieb. Aber dies war nicht seine Welt. Dies war Lemuria, und hier hatte er Kräfte, die ihm in seiner Welt fehlten. Mühelos erklomm er die Leiter Sprosse für Sprosse, bis er oben im Pavillon angekommen war, wo er auf einem bequemen Teppich Platz nahm. Hinter ihm huschte Pacasa die Leiter hoch, und war Andreas schon flink gewesen, so erwies sich der Lemure als wahres Klettertalent. Es vergingen keine zwei Minuten von der ersten Begegnung bis zum Aufbruch des Elefanten. Pacasa zog noch die Strickleiter nach oben, und schon setzte sich der Elefant in Bewegung. Die Lemuren schienen es eilig zu haben.
Der Weg war länger, als Andreas es in Erinnerung hatte. Zuerst bewegten sie sich durch einen Dschungel mit einem nahezu undurchdringlichen Blätterdach. Zahlreiche Vögel ließen ihr Gekreische hören, während sich der Elefant gemächlich seinen Weg durch das Dickicht bahnte. Doch dann, als die Reise durch den Urwald kein Ende mehr nehmen wollte, öffnete sich der Wald wie ein Vorhang und gab den Blick frei auf eine scheinbar endlose Ebene, die nahezu komplett unter Wasser stand. Nur einige Dämme ragten aus dem Wasser hervor. Der Elefant, der von dem Koboldmaki geführt wurde, stieg auf einen der Dämme, und dann entdeckte Andreas, warum alles unter Wasser stand: Hier wuchs Reis. Und in manchen Becken waren dunkelhäutige Lemurier dabei, die Reispflanzen zu pflegen, zu pflanzen oder zu ernten. Er wusste es auch nicht genau, denn mit Reis kannte er sich nicht aus. Ihn interessierte es auch nicht.
Der Elefant schien keiner Hauptstraße zu folgen. Er bog mal nach rechts, mal nach links auf einen anderen Damm ab. Es war ein Labyrinth von Dämmen, das durch diese Reisebene führte. Schon bald war nach allen Seiten nichts anderes mehr zu sehen als diese unendlichen Reisfelder. Nur in der Ferne erhoben sich die schneebedeckten Gipfel des Asamana-Taka-Gebirges.
Allmählich bekam Andreas Hunger. Aber er unterdrückte ihn. Wenn die Lemuren etwas zu essen für ihn hatten, würden sie es schon sagen. Momentan machten sie keine Anstalten, als würde in der nächsten Zeit irgendetwas geschehen. Sie schwiegen oder unterhielten sich in ihrer ureigenen Sprache, die ein Mensch weder verstehen, noch lernen und erst recht nicht sprechen konnte.
Erst als Andreas dachte, dass er für immer in diesen endlosen Reisfeldern bleiben musste, tauchte eine Kette von Hügeln am Horizont auf. Die Hügel wurden größer und entpuppten sich als veritables Mittelgebirge, das aber - anders als die Mittelgebirge in Deutschland - nicht bewaldet war. Statt dessen bestand es aus Grasland, das ab und zu von Büschen durchsetzt war. Genau darauf hielt der Elefant zu.
Auch das Mittelgebirge war nicht in einer halben Stunde abgehakt - im Gegenteil: Waren sie wohl am frühen Morgen gestartet, so stand die Sonne schon sehr tief, als sie endlich die Anhöhe erreichten, von der Andreas zum ersten Mal die Stadt Rajadhani sehen konnte. Es hatte sich nichts, absolut gar nichts verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war.
Rajadhani war eine Stadt, die in konzentrischen Kreisen angelegt war: In der Mitte stand der Königspalast, ein riesiger Bau mit zahlreichen Innenhöfen inmitten einer gewaltigen Parkanlage. Um den Palast herum waren die Gebäude der Reichen: Königliche Beamte und vor allem Kaufleute, die in großen Villen und geräumigen Gärten residierten. Dann folgten nach außen hin die Gebäude der Mittelschicht. Sie wurden kleiner und auch ein wenig schäbiger. Denn jetzt wohnten Handwerker und kleinere, also weniger reiche Kaufleute in immer noch teilweise schmucken Stadthäusern. Aber die Straßen wurden enger und waren immer seltener gepflastert, und Parks gab es hier kaum noch. Dafür erhob sich so mancher Tempel mit seinen prächtigen Bauten über das Häusermeer. Noch weiter draußen gingen die Stadtviertel der Lohnarbeiter langsam in die Armenviertel, in die Slums der Stadt über. Hier wohnten die Ärmsten der Armen, die Tagelöhner und auch die Bauern, die ihre Felder verlassen hatten in der Hoffnung, in der Stadt eine bessere Arbeit zu finden. Je weiter man nach außen blickte, desto armseliger wurden die Behausungen. Zunächst waren es noch Lehmhütten, dann wurden es einfache Wellblechhütten, die bunt zusammengewürfelt ein labyrinthartiges Gassengewirr bildeten. Noch weiter außen ging die Stadt in das Grasland über. Hier waren es Stoffzelte, in denen die Menschen hausten.
Doch mitten durch die Elendviertel hindurch führten vier Prachtstraßen - eine in jede Himmelsrichtung. So dass jeder den Königspalast erreichen konnte, ohne sich durch die Slums durchzukämpfen. Bewacht waren die Straßen von Rittern in glänzenden Rüstungen, die darauf achteten, dass keiner der Reisenden angegriffen oder auch nur belästigt wurde, der ins Innere der Stadt vordringen wollte.
Auf der Prachtstraße war viel los - und es war nicht verwunderlich, denn es war der einzige Ort der Stadt, an dem sich Menschen aus allen sozialen Schichten tummelten. Da gab es verdreckte, ausgemergelte Männer, die sich gerade mal einen Lendenschurz leisten konnten, Handwerker, die mit Ochsenkarren unterwegs waren - das Automobil war in dieser Welt noch nicht erfunden. Kinder, die in verdreckten Hemden durch die Stadt rannten, und Sänften, in denen Lemuren reiche Menschen durch die Stadt trugen. Ab und zu entdeckte Andreas auch einen Vertreter einer anderen Spezies - einen Zwerg beispielsweise oder einen Zentauren. Aber diese Wesen trauten sich nur selten in die großen Städte der Menschen. Oftmals waren sie und die Lemuren die einzigen intelligenten Spezies in derartigen Städten.
Endlich hatten sie den Königspalast erreicht. Er sah aus wie eine Mischung aus Buckingham-Palast und 1001 Nacht. Genau so hatte sich Andreas immer den Palast des Kaisers von Indien vorgestellt, als er noch klein gewesen war. In der Mitte ein gewaltiges Haus von der Höhe eines Turmes. Die Kuppel, aus dem das Dach bestand, sah so aus wie die Kuppel des Tadsch Mahal. Links und rechts daneben die Seitenflügel, die im Erdgeschoss aus Säulenhallen bestanden, im Obergeschoss dann aber mit eher nüchtern wirkenden Fassaden mit nur wenig Zierrat ausgestattet waren, bevor darüber schlanke, weiße Türme wie Minarette bis in den Himmel wuchsen.
Vor dem Schloss aber war eine hohe Mauer, die von einem noch höheren Eisenzaun bekrönt war. Nur an einer einzigen Stelle gab es einen Durchlass. Die Wachen, die dort Dienst hatten, sahen so ähnlich aus wie britische Palastwachen. Auch sie trugen rote Uniformen, aber auf dem Kopf hatten sie goldene Helme anstatt der schwarzen Bärenfellmützen. Als der Elefant auf die Wachen zukamen, standen sie stramm und salutierten. Andere Wachen öffneten schnell die Schranke, so dass das Tier hindurch marschieren konnte, ohne anzuhalten.
Der Elefant stoppte erst, als sie im Ehrenhof angekommen waren. An drei von vier Seiten waren sie jetzt von Palastflügeln umgeben. Jeder sah anders aus. Neben dem orientalischen Mittelflügel gab es rechts und links Gebäude, die eher an den chinesischen Stil erinnerten. Verspielte, rote Pagodendächer bekrönten die Türme, die auf dem ansonsten nüchternen Gebäude aufsaßen.
Und dann sah er SIE: Sie saß auf dem Thron in einer goldenen Sänfte, die von acht Lemuren getragen wurde. Sie war mit den Jahren noch viel schöner geworden - auch reifer. Und in ihrem Gesicht bildeten sich die ersten Falten. Doch noch immer waren ihre Augen von diesem undurchdringlichen Braun. Noch immer waren ihre Haare schwarz und so lang, dass sie ihr bis zur Hüfte reichten. Noch immer hatte sie diese hohen Wangenknochen, diese gerade und nicht zu große Nase, diese vollen Lippen und diese bronzebraune Haut. Noch immer war sie die schönste Frau, die Andreas je gesehen hatte - was nichts heißen mag, da er ohnehin den ganzen Tag am Computer saß. Aber trotzdem: Auch auf YouTube und Lemuria (also dem Computer-Lemuria) gab es schöne Frauen. Und sie konnten alle nicht Königin Sundari das Wasser reichen.
Andreas erwartete, dass der Koboldmaki jeden Moment die Strickleiter nach unten lassen würde, doch statt dessen geschah etwas anderes: Der Rüssel des Elefanten packte ihn, holte ihn aus dem Pavillon heraus, hob ihn durch die Luft und setzte ihn direkt vor der Sänfte der Königin auf die Füße. Andreas wollte sofort auf die Knie gehen und vor Sundari den Boden küssen, so wie es in Lemuria Brauch war, doch Sundari winkte ab. “Nein, Andreas. Du brauchst vor mir nicht auf die Knie zu gehen. Wir sind alte Freunde. Und als einen solchen möchte ich dich in meinem Haus begrüßen. Nach allem, was du für mein Reich und für unsere Welt getan hast, ist es nur fair, wenn wir uns auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen.”
Sie gab den Lemuren ein Zeichen, und sie ließen die Sänfte nieder. Dann erhob sich Sundari, ging auf Andreas zu und umarmte ihn.
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