Freitag, 17. Mai 2013
00010100 - Kriegserklärung
Die Bäume hatten ihre Blätter schon verloren, und ein Hauch von Winter lag in der Luft. Die Zugvögel hatten es nicht mehr ausgehalten, und sie waren nach Afrika aufgebrochen. Andreas vermisste ihren Gesang, der sonst die Luft erfüllte. Dafür hatten jetzt die Krähen ihr Winterkonzert begonnen, und unter einem bedeckten Himmel zogen vereinzelt Nebenschwaden über das Land. Es roch ein wenig rauchig, als Andreas sich auf den Heimweg machte. Längst hatten die meisten Schüler das Gelände verlassen. Er hatte wieder länger als die anderen gebraucht, seine Schultasche zu packen. Jetzt trödelte er durch den hinteren Pausenhof - damals noch als Raucherhof bekannt, denn 1987 durften die Schüler noch in der Schule rauchen - wenn auch nur an einem einzigen Ort in der Schule, nur in den Pausen und nur ab der 11. Klasse.

Andreas spazierte an den Sportanlagen vorbei, passierte das Hausmeister-Kabuff, aus dem der Klang einer Elektrosäge tönte, und warf einen kurzen Blick auf das Denkmal des Abiturjahrgangs 1986 - eine simple weiße Pyramide - ungefähr so hoch wie Andreas’ Knie.

Er hatte gerade den Schulhof verlassen, als ihn plötzlich jemand am Arm packte, herumschleuderte und an die Wand des Schulgebäudes drückte, das hier bis zur Grundstücksgrenze heranreichte. Es waren zwei Jungs aus seiner Klasse. Zwei gegen einen. Wie unfair! Aber vielleicht wollte Robert auf Nummer Sicher gehen. Denn er war einer von beiden. Der andere war Roberts Vize. Vize war Verenas Ausdruck für Florian Neumann - eigentlich Roberts bester Freund. Aber in dieser Freundschaft spielte er nur eine untergeordnete Rolle. So wie Harry bei Derrick, oder - wie der Andreas von 2012 sagen würde - Smithers bei Mr Burns. Flo, wie er sich gerne selber nannte, war Roberts Assistent, und niemals hatte er ein böses Wort über ihn verloren - während Robert ihn gerne als Trottel bezeichnete, wenn er nicht dabei war.

“So, du Sackratte!” sagte Robert. “Jetzt möchte ich mal was klarstellen: Bisher warst du für mich nur ein Trottel, ein Loser, ein Vollidiot. Aber das hat sich jetzt geändert. Ab jetzt bist du ein Arschloch! Eine Petze! Ein Kameradenschwein! Was hast du mich bei Herrn Hartmann verpetzt, du Schwanzlutscher?”

Zack! Schon saß Florians Faust in seinem Gesicht. Robert wollte sich anscheinend nicht die Finger schmutzig machen und ließ das seinen Schergen besorgen.

“Es ging nicht anders”, jammerte Andreas, dessen Nerven empfindlicher waren als die anderer Leute, was er damals aber noch nicht wusste.

“Wie, es ging nicht anders? Hättest du verdammt noch mal die Fresse gehalten!”

Wieder ein Faustschlag in Andreas’ Gesicht, der sich nicht wehren konnte, da beide ihn festhielten.

“Jetzt will ich dir mal was erzählen, kleiner Drecksack: Meine Alten haben tierisch Stress geschoben wegen der ganzen Nummer. So, und jetzt hab ich Hausarrest. Aber das ist noch nicht alles: Ich wurde zum Direx geschickt und abgemahnt. Und damit du kleiner Wichser das auch verstehst, übersetze ich das in deine Sprache: Noch so ein Ding, und ich fliege von der Schule. Und wenn ich von der Schule fliege, das schwöre ich dir, landest du im Krankenhaus. Ab jetzt herrscht Krieg. Und ich sag dir eins: Gegen das, was kommt, war das, wie wir dich bisher behandelt haben, Kindergarten. Und gleich heute fangen wir damit an.”

Robert hatte wohl genug von Worten und ließ jetzt seine Fäuste sprechen. Es schien ihm also doch egal zu sein, ob er sich seine Finger schmutzig machte oder nicht. Schon landete wieder ein Faustschlag in seinem Gesicht, ein anderer in der Magengrube. Andreas ging zu Boden, doch die anderen machten weiter. Sie traten auf ihn ein, kickten ihm in den Bauch, gegen die Beine, ins Gesicht, in die Eier. Es dauerte nicht lange, aber es war die Hölle, und als sie endlich von ihm abließen und im Fahrradhof verschwanden, blieb Andreas noch eine Weile liegen. Er hatte jetzt zu große Schmerzen, um aufstehen zu können. Doch er sah die ganze Zeit nur eines. Roberts grinsendes Gesicht.

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