Mittwoch, 22. Mai 2013
00011010 - Im Land der Feueranbeter
“Hey, Bahadura! Bahadura, wach auf!”

Bahadura, das war Andreas’ lemurianischer Name. Es war Sathi, der ihn ausstieß.

“Was ist denn?” Andreas war vom Schlaf noch benommen. Nur langsam kehrten seine Erinnerungen zurück. Robert Jens und sein Vortrag verblassten und erschienen plötzlich wie ein Traum aus einer unwirklichen Fantasiewelt. Lemuria, das war jetzt wieder seine Realität. Und langsam kamen Erinnerungen an Ereignisse in seinen Kopf, die niemals geschehen waren. Jedenfalls hatte er sie nicht wirklich erlebt - war er doch zu dieser Zeit in der anderen Welt gewesen.

Sie hatten Rajadhani im Morgengrauen verlassen. Andreas, Sathi, ein paar Lemuren und als einziger Mensch Hatana, ein Krieger, der als Andreas’ Leibwächter dienen sollte. Mehr hatte die Königin Andreas nicht zugestanden, denn sie wollten nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen - vor allem, wenn es ins Ausland ging.

Stundenlang waren sie auf ihren Pferden durch Reisfelder geritten, dann waren sie in einen nie enden wollenden Dschungel gekommen, wo sie ihr erstes Nachtlager aufgeschlagen hatten. Ein Tag war vergangen und ein weiterer, ohne dass sich das Blätterdach über ihren Köpfen gelichtet hätte. In den Nächten hatte er immer von der anderen Welt geträumt, von seiner Arbeit, von Robert Jens und von Lucía Sánchez, die Sundari zum Verwechseln ähnlich sah.

“Bahadura, wir müssen heute noch nach Aga, ins Land der Feueranbeter.”

“Langsam, langsam, langsam!” Andreas richtete sich auf. Er war erstaunt, wie muskulös ihm sein Oberkörper plötzlich erschien. “Alles schön der Reihe nach für einen Nicht-Lemurier. Wir verlassen Sundaris Königreich?”

“Nein”, sagte Sathi. “Das Land der Feueranbeter ist ein Fürstentum, das von der Bruderschaft des Heiligen Feuers in Aga regiert wird, und die Bruderschaft wiederum sind Lehensmänner von Königin Sundari. Wir sind immer noch in Madhya Lemuria.”

“Schön”, sagte Andreas und streckte sich. Die Luft war erfüllt von den kreischenden Lauten fremder Vögel - vermutlich Papageien, die in den Blätterdächern der immergrünen Bäume hausten. Es roch nach Moder und nach exotischen Blüten. Die Hitze und Luftfeuchtigkeit waberte durch das grüne Dickicht. Irgendwo in der Nähe plätscherte ein Wasserfall. Der Vortrag von Robert Jens, der Matrix-Terminator und Lucía Sánchez wirkten jetzt nur noch wie ein ferner, seltsamer Traum, der langsam verblasste. Was war nun Realität und was Fantasie?

Schon brachten die Lemuren Früchte ans Lager, die Andreas schon seit Jahrzehnten nicht mehr verspeist hatte. Hinzu kam Fladenbrot, das sie als Proviant mitgenommen hatten. Über einem Feuer erhitzten zwei andere Lemuren einen heißen Wasserkessel, in den sie Beutel mit getrockneten Teepflanzen hängten.
Andreas stand auf und ging in Richtung Wasserfall, um sich zu duschen. Ganz kurz musste er an den Tag denken, an dem Robert seine Kleidung unter die Dusche gelegt hatte. Doch das alles war Lichtjahre entfernt. Diese Dusche, wenn man es denn eine nennen wollte, war ganz anders. Die Felsen dorthin waren glitschig, und Andreas musste aufpassen, dass er nicht ausrutschte. In seiner Welt wäre das Malheur sicherlich passiert, doch hier erwies er sich als äußerst geschickt und kam ohne große Zwischenfälle an der Felswand an, die der Wasserfall tosend herunter sprang. Er stellte sich darunter, und warmes Wasser bedeckte seinen ganzen Körper, umhüllte ihn wie ein schützender Kokon.

“Hey, Bahadura!” rief jemand aus der Ferne. “Beeil dich! Wir müssen aufbrechen! Der Weg ist weit!”

“Einen Moment noch!” Das Gefühl, mitten im Wasserfall zu stehen, war einfach zu herrlich.

“Mach schon!”

“Ich komme!”

Zum Frühstücken blieb wenig Zeit. Sathi drängte zum Aufbruch, und so schlang Andreas die Früchte und das Fladenbrot nur so in sich hinein. Dann ging es kreuz und quer durch den Dschungel - mal bergauf, dann wieder bergab. Manchmal ging es über breite Straßen, die vor Jahrtausenden jemand angelegt hatte. Doch jetzt waren sie dabei zu zerfallen, und zwischen den Pflastersteinen machte sich erneut der Urwald breit. An anderen Stellen waren die Straßen schon komplett zerfallen, und Andreas musste sich mit einer Machete durch den Urwald kämpfen, während die Mücken ihn umschwärmten, als bestünde er aus reinem Licht. Dann brauchten sie eine Stunde für wenige Meter, bis sie endlich wieder einen Pfad oder eine alte Straße erreicht hatten.

Einmal kamen sie an einem Tempel vorbei, den der Dschungel bereits zurückerobert hatte. Die dunklen Mauern, aus denen Bäume und Lianen wuchsen, erinnerten Andreas ein wenig an Fotos, die er von Angkor gesehen hatte. Er sah Götterstatuen im Würgegriff von Lianen, Bäume, die jahrtausendealte Mauern sprengten, Moos, das an den zerbröselnden Säulen empor wuchs.

Dann endlich lichtete sich der Wald und machte einem Palmenhain Platz. Hoch oben wuchsen Kokosnüsse, Datteln und andere Früchte, die Andreas nicht kannte. Männer mit brauner Hautfarbe, die nur mit Lendenschürzen bekleidet waren, kletterten die Palmen empor, um die Früchte zu ernten. Sie warfen ihre Ausbeute in riesige Körbe, die ihre Kollegen am Fuße der Palmen aufgestellt hatten. Dann verließen sie den Palmenhain und streiften durch endlos erscheinende Teefelder. Langsam ging es bergauf, bis sie plötzlich hinter einer Kuppe die Stadt vor sich sahen.

Es war eine große Stadt, die komplett aus schwarzen Häusern bestand. Überall brannten Feuer, die sich weiter oben zu einer einzigen, gewaltigen, schwarzen Rauchsäule vereinigten. Etwas abseits standen zwei Türme, die von einem Schwarm großer Raubvögel umkreist wurden. In der Mitte der Stadt aber erhob sich ein Podest, das aussah wie eine Mischung aus Pagode und Pyramidenstumpf. Es war das höchste Gebäude der Stadt, und darauf brannte das größte Feuer von allen.

“Siehst du das Feuer in der Mitte der Stadt?” fragte Sathi. “Es ist das Ewige Feuer, das erste Feuer, das je ein Mensch entzündet hat. Du siehst: Es brennt immer noch. Es ist der Gott Aga. Die Stadt gehört zu den fünf heiligsten Orten in Lemuria. Die Menschen in Aga benutzen als Brennstoff ein zähflüssiges Öl, das sie in Teergruben und unter der Erde finden. Sie nennen es Steinöl. Als Brennmaterial taugt das Zeug was, auch zum Kalfatern von Schiffen oder zum Schmieren von Wagenrädern, aber ansonsten ist es völlig wertlos. Noch nicht mal zum Kochen kann man es verwenden. Aber du findest das Steinöl hier überall.”

“Wozu sind die beiden Türme da hinten?”

“Das sind die Türme des Schweigens. Die Feueranbeter verbrennen ihre Toten nicht, da sie glauben, das Feuer dadurch zu verunreinigen. Sie bestatten sie auch nicht. Sie werfen sie den Geiern zum Fraß vor.”

“Ist ja eklig.”

“Bitte etwas mehr Respekt vor fremden Kulturen. In Madhya Lemuria herrscht Religionsfreiheit - hier kann jeder glauben, was er will - und es kann auch jeder seine Toten so bestatten, wie er es für richtig hält.”

Sie gingen weiter, und je näher sie der Stadt kamen, desto größer wirkte sie. Eine Stadtmauer hatte Aga nicht. So wie die meisten Städte in Lemuria ging sie fließend ins Umland über. Allerdings gab es ein paar Wachtürme, um Feinde schon von weitem sehen zu können. Nicht, dass man in Aga einen Angriff erwartet hätte. Doch der Bruderschaft war ein friedliches Miteinander aller Menschen in Aga sehr gelegen.
Die Stadt schien aus allen Nähten zu platzen. Überall schoben sich Menschenmassen durch die engen Straßen. Größtenteils Männer, die mit den weißen Gewändern bekleidet waren, die Pilger zu tragen pflegten. Ab und zu drängelte sich ein Elefant durch die Menge. Für Pferde und Ochsenkarren war das Durchkommen schwer. Deshalb banden Andreas und Hatana ihre Pferde außerhalb der Stadt an extra dafür vorgesehenen Pfosten fest und ließen die Lemuren auf sie aufpassen - in unmittelbarer Nachbarschaft anderer Tiere, die auf ihre Besitzer warteten. Doch diese Enge hielt auch Kentauren nicht davon ab, durch die Straßen der Stadt zu flanieren. Ab und zu sah Andreas sogar einen Zwerg oder einen Wichtel durch die Menschenmenge wuseln. Allerdings trauten sich nur wenige der kleinen Wesen nach Aga, weil sie fürchteten, dort plattgetrampelt zu werden.
Doch - als wären die Straßen nicht eng genug - hatten an den Rändern fliegende Händler ihre Stände aufgeschlagen, um Devotionalien zu verkaufen - hauptsächlich Götterbilder für Hausaltäre, aber auch Brennstoffe zum Feuermachen - Feuersteine und Zunder, daneben trockenes Holz und Stroh. Einige hatten sogar Flaschen mit Steinöl auf ihren hölzernen Auslagen stehen. Wieder andere verkauften Fladenbrot, an einigen Imbissständen grillten Händler das Fleisch von Hühnern und Schweinen. Es gab Pferdehändler, Schuhverkäufer, Friseure, und die meisten Häuser - wenn sie nicht gerade den Händlern zum Wohnen dienten - waren Herbergen und Tavernen. In provisorischen Bretterbuden, die dort standen, wo die Architektur etwas mehr Platz gelassen hatte, waren Garküchen untergebracht, in denen allerlei Nudelgerichte angeboten wurden, die die Pilger beim Gehen aus einer einfachen Tonschale essen konnten.

Sathi hatte sich auf Andreas’ Schulter gesetzt, um den Überblick zu bewahren, und jetzt lotste ihn der Wichtel kreuz und quer durch das labyrinthartige Straßengewirr. Eigentlich war es ganz einfach, denn die Rauchsäule, die ihr Ziel bildete, war die ganze Zeit zu sehen, aber dieses Straßennetz war nicht geplant, sondern je nach Bedarf erweitert worden, so dass über die Jahrhunderte ein chaotisches Gewirr entstanden war. Es waren eigentlich keine Straßen, sondern lediglich Zwischenräume zwischen den Häusern - mal breiter, mal enger. Längere, gerade Abschnitte oder gar große Boulevards oder Ausfallstraßen gab es nicht. Die Menschen hatten gerade so gebaut, wie es ihnen in den Sinn gekommen war. Die wenigsten Straßen trugen Namen, und Andreas überkam der Wunsch nach einem gescheiten Navigationssystem.

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